Ukraine-Krieg, Abschreckung und Sicherheit: Welche Gefahr ist Russland für Europa?
Seite 2: Kooperatives Sicherheitssystem: Wie geht es weiter mit Nato, EU und Russland ?
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▶ Herr Richter, es ist fast schon ein Allgemeinplatz zu konstatieren, dass wir in einem neuen Kalten Krieg leben. Der Nato-Doppelbeschluss von 1979 verfolgte die Doppelstrategie der Abschreckung und des Dialogs. Heute scheint der strategische Fokus einzig auf der Abschreckung zu liegen. Kommt aus Ihrer Sicht die Strategie des Dialogs zu kurz?
Und im Zusammenhang mit Dialog: Sollte, sobald der Krieg mit einem für die Ukraine akzeptablen Frieden beendet ist, der Versuch einer Neukonstruktion einer europäischen Friedensordnung unternommen werden? Eine Neuauflage der Sicherheitskonferenz von Helsinki?
Wolfgang Richter: Also zunächst einmal habe ich den Eindruck, dass der Dialog zu kurz kommt. Das liegt natürlich daran, dass im Moment eine Kriegssituation herrscht und der Westen in den letzten drei Jahren alles auf eine Doppelstrategie gesetzt hat, um Russland in die Knie zu zwingen. Sie bestand ausschließlich aus Waffenlieferungen einerseits und Wirtschaftssanktionen andererseits.
Diese Strategie hat letztlich nicht zum Erfolg geführt. Die Ukrainer sind heute nicht in der Lage, militärisch die "Siegstrategie" durchzusetzen, für die Selenskyj immer wieder geworben hat. Sie haben jetzt Mühe, sich zu halten, wo sie derzeit stehen. Es besteht die Gefahr, dass sie schrittweise noch weiter zurückweichen müssen.
Die internationalen Sanktionen haben nicht gewirkt, weil der Globale Süden daran nicht teilgenommen hat, weil er völlig andere Interessen hat und weil er sich nicht auf die Seite der früheren Kolonialmächte stellen will.
Er will sichergehen, dass die internationalen Handelsketten weiterlaufen und nicht eine neue Blockspaltung der Erde entsteht. Denn auf dieser Wirtschaftsentwicklung und dem freien Handel beruht ja auch der Fortschritt und der Aufstieg der neuen wichtigen Mächte des Globalen Südens. Das war absehbar.
Bedeutung von Dialog
Jetzt stellt sich aber die Frage, wie es denn im Verhältnis zwischen der europäischen NATO und EU sowie Russland weitergehen soll, falls in der Ukraine tatsächlich ein Frieden zustande kommen sollte.
Lassen Sie mich daran erinnern, dass die Nato nicht nur 1979 eine Doppelstrategie gewählt hat, sondern schon 1967 erkannt hatte, dass Abschreckung alleine instabil ist.
Hier wirkten die Erfahrungen, die man aus der Kuba-Krise damals gezogen hat. Abschreckung allein neigt zum Worst-Case-Denken und zur Fehlperzeption der Absichten und Aktivitäten des potentiellen Gegners.
Das kann zu Überreaktionen führen und eine Eskalation auslösen. Abschreckung allein kann aus dem Ruder laufen und birgt immer auch die Gefahr der Eskalation. Diese Erkenntnis hat der Harmel-Bericht von 1967 festgehalten.
Zwar bleibe Abschreckung unverzichtbar, um die Verteidigung sicherzustellen und einen Angriff abzuwenden; aber zur Kriegsverhinderung gehören auch der Dialog und die Verständigung, um die Eskalationsgefahren einer rein auf Abschreckung beruhenden Politik einzuhegen.
Vertrauensbildende Maßnahmen seien nötig, um sich gegenseitig glaubwürdig zu versichern, dass man die strategische Zurückhaltung wahre und keine Sicherheitsvorteile zulasten der Gegenseite erzielen wolle.
Das kann man, und das ist ja auch so geschehen, vor allen Dingen durch nukleare und konventionelle Rüstungskontrollverträge tun, die aber verifiziert werden müssen, um glaubwürdig zu sein.
Dazu hat man ja in Europa ab dem Ende der 1980er Jahre ein sehr ausgeklügeltes System von gegenseitigen Zusicherungen geschaffen. Ich erinnere an den KSE-Vertrag, den INF-Vertrag, aber auch andere Vereinbarungen wie das Wiener Dokument und den Vertrag über den Offenen Himmel.
Auflösung internationaler Abkommen
Leider sind diese Vertragswerke in den letzten 20 Jahren schrittweise abgebaut worden. Dafür kann übrigens nicht allein und nicht in erster Linie Russland verantwortlich gemacht werden. Unter dem Präsidenten George W. Bush sind die USA aus einigen Verträgen ausgestiegen (ABM-Vertrag) oder haben die Anpassung anderer blockiert (KSE-Vertrag).
Später hat dann Präsident Trump in seiner ersten Amtszeit zwei weitere Verträge abgebaut (INF-Vertrag, Vertrag über den Offenen Himmel). Heute fehlen in Europa solche Leitlinien und Leitplanken zur Wahrung einer gemeinsamen, inklusiven Sicherheit.
Mir scheint es nun im eigenen Sicherheitsinteresse nötig zu sein, ein ähnliches System in Europa wieder einzuführen, um den Frieden langfristig zu sichern. Es geht darum, zu vermeiden, dass es bei der großen Zahl an Übungen, Überflügen und Aufmärschen in Grenzgebieten zu einer weiteren eskalatorischen Entwicklung kommt.
Es muss ein gewisses Maß an Vorausschaubarkeit und militärischer Berechenbarkeit geben, um die Risiken im Zaum zu halten. Aber das kann man nur erreichen, wenn man wieder miteinander spricht und Vereinbarungen trifft, die man gegenseitig verifizieren kann.
Kooperation und Sicherheit: Rüstungskontrollverhandlungen
Dies erfordert die Rückkehr zu einem kooperativen Sicherheitssystem, das das Ende des Kalten Kriegs ermöglicht hat. Sein politisches Zentrum war die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, um die herum ein umfangreiches System verflochtener Verträge geschaffen wurde.
Es war etwa 15, 16 Jahre äußerst erfolgreich, hat Vertrauen geschaffen und Kooperation ermöglicht, bevor es dann anfing zu erodieren. Das sollten wir im Kopf behalten. Das System als solches war ja nicht falsch, sondern es war im Gegenteil sehr stabil und hat dazu geführt, dass wir alle – Europäer, Amerikaner und Russen – eine Friedensdividende einfahren konnten.
Dies ging mit großen Abrüstungserfolgen einher, wobei Russland die Hauptlast der Reduzierungen trug. Auf diesen Rüstungskontrollansatz hin erfolgten auch die deutschen Truppenreduzierungen.
Sie waren also zunächst keineswegs nur die Folge von Schludrigkeit oder überzogenen "Kaputtsparens", sondern ein verantwortbares Ergebnis reziproker Rüstungskontrollverhandlungen und Vereinbarungen. Denn auf der anderen Seite hat Russland mit dem Abbau seiner konventionellen Kräfte den größten Beitrag zur Abrüstung und zum Abbau von Drohpotentialen geleistet.
Wir werden das aufarbeiten müssen. Auch die Frage, warum es so weit kommen konnte, dass diese Leitplanken einfach alle erodiert sind. Alle Nato- und OSZE-Staaten haben zum Beispiel den KSE-Vertrag einmal als "Eckpfeiler der europäischen Sicherheit" bezeichnet.
Aber als der Eckpfeiler zusammenbrach, hat sich darüber kaum jemand aufgeregt, noch nicht einmal die Staaten, die besonders an diesem Eckpfeiler hingen, also in erster Linie Deutschland, aber auch andere westeuropäische Staaten wie damals Frankreich, Italien und andere.
Solche Fehler der Vergangenheit sollten wir nicht wiederholen. Was wir jetzt brauchen, ist die Wiederauffrischung der Erkenntnis, dass Abschreckung allein instabil ist, auch wenn wir ohne sie vorläufig nicht auskommen werden.
Sie reicht aber nicht aus, um eine stabile Friedensordnung zu begründen. Um Eskalationsgefahren einzuhegen, brauchen wir auch in Zukunft den Dialog und gegenseitige Vereinbarungen über Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle.
▶ Herzlichen Dank, Herr Richter, für das Gespräch.