Ukraine-Krieg, Abschreckung und Sicherheit: Welche Gefahr ist Russland für Europa?

Andreas von Westphalen
Kanonenrohr eines Panzers, das in die Kamera zeigt

Bild: Sebastian Castelier /shutterstock.com

Eine Einschätzung der militärischen Fähigkeiten und was für Sicherheit und Stabilität nötig ist. Interview mit Oberst a. D. Wolfgang Richter (Teil 2 und Schluss).

In den letzten Wochen kann man eine weitverbreitete Angst vor einem möglichen Angriff Russlands feststellen. Mark Rutte, der neue Nato-Generalsekretär, warnt vor einer Gefahr, die "mit Höchstgeschwindigkeit auf uns zukommt". Finnlands Parlamentspräsident Jussi Hallaaho erklärt:

"Wenn man nicht sicher ist, ob man schon im Krieg ist, dann ist es besser, davon auszugehen, dass man schon im Krieg ist."

Warnungen vor einer "bitterernsten Lage"

Die finnische Regierung lässt eine eigene Behörde Notfallvorräte für Monate vorhalten. Zudem überlegt sie, die 1340 Kilometer lange Landesgrenze, die Finnland mit Russland teilt, zu verminen. Der Verteidigungsstab der schwedischen Armee warnt die Landsleute:

"Stellen Sie sicher, dass Sie eine Überraschung überleben können. Denn es wird Überraschungen geben."

Polen hat die Verteidigungsausgaben auf 4,7 Prozent der Wirtschaftsleistung erhöht und einen Schießunterricht für Acht- und Neuntklässler eingeführt.

Der französische Präsident Macron erklärt in seiner Fernsehansprache vom 5. März die Notwendigkeit einer deutlichen Erhöhung des Verteidigungshaushalts explizit mit der Bedrohung durch Russland.

Der ranghöchste deutsche Soldat, der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, nennt die Lage "bitterernst" und betont "Russland denkt Krieg in einem Kontinuum". Generalleutnant von Sandrart, Leiter des Multinationalen Korps Nord-Ost in Stettin, ist ebenso besorgt:

Die allgemeine Einschätzung ist, dass 2029 Russland in der Lage ist, die Nato anzugreifen, bis dahin müssen wir – so wird gefordert – fertig sein. Aber was machen wir bis 2029? Ich halte die Zeit bis 2029 für viel herausfordernder. Russland weiß ganz genau: Wenn alles, was die Nato beschlossen hat, zur Wirkung kommt, hat sich das Zeitfenster für Russland geschlossen. Also ist das russische "window of opportunity" bis 2029.

Im letzten Jahr hat mir ein guter Freund und sehr renommierter Este gesagt: Für uns sind die nächsten 24 bis 36 Monate die Risikozeit. Das ist aus meiner Sicht richtig. Wenn Russland tatsächlich das Mittel Krieg wahrnimmt zum Erreichen politischer Ziele, warum soll es bis 2029 warten?

Generalleutnant von Sandrart

Auswärtiges Amt: "Gefahr für Deutschland real"

Nicht zuletzt ist sich auch das Auswärtige Amt sicher, dass die Gefahr durch Russland für Deutschland real ist. Auf X schreibt das Auswärtige Amt:

Frieden in Europa erreichen wir nicht, indem wir die Realität ausblenden. #Frieden erreichen wir nur durch eine starke und freie #Ukraine in einem starken #Europa. Sonst trägt Putin den Krieg weiter, auch zu uns.

Michail Chodorkowskij, einer der schärfsten russischen Putin-Kritiker, ist vermutlich in einer klaren Minderheit, denn er ist überzeugt, Russland wolle keinen Krieg mit der Nato.

Das Interview zur neuen Realität nach Trumps Wende

Telepolis sprach mit dem Sicherheitsexperten Oberst a. D. Wolfgang Richter über die neue Realität nach der 180-Grad-Kehrtwende im Ukraine-Krieg durch Donald Trump.

"Angriffsabsicht nicht nachweisbar – aber es besteht immer ein Restrisiko"

▶ Herr Richter, in unserem Interview Mitte Dezember haben Sie die Möglichkeit eines russischen Angriffs auf ein Nato-Land als äußerst gering eingeschätzt. Aktuell gibt es viele warnende Stimmen. Wie schätzen Sie heute die Gefahr ein, dass Russland ein Nato-Land angreifen wird?

Wolfgang Richter

Wolfgang Richter: Lassen Sie mich zunächst unterscheiden zwischen Fähigkeiten und Absichten. Moskau hat zu keinem Zeitpunkt die Absicht geäußert, dass es die Nato angreifen will. Dafür gibt es keine Belege.

Es handelt sich um eine Interpretation, die in der innerwestlichen Diskussion entstanden und ideologisch gefärbt ist. Demnach gehe es Moskau eigentlich nicht um Sicherheitsfragen, sondern um Gesellschaftsmodelle und darum, die Sowjetunion oder das alte Zaristische Reich wiederherzustellen.

Diese Interpretation wird durch selektive Zitate aus Reden oder Artikeln von Präsident Putin gefüttert oder aus der Auswertung von Äußerungen der Scharfmacher in den russischen Staatsmedien.

Die langjährigen Erfahrungen mit der russischen Diplomatie und den vielfältigen Vertragsentwürfen seit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag sprechen eine völlig andere Sprache. Ich halte die Angriffsabsicht für nicht nachweisbar.

Auf einem anderen Blatt steht aber die Tatsache, dass Russland bereit ist, militärische Gewalt anzuwenden, wenn es seine Sicherheitsinteressen bedroht sieht. Insofern besteht immer ein Restrisiko.

Schweden und Finnland sind daher nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 der Nato beigetreten.

Die Risiken müssen durch eine Kombination von Abschreckung und dem Angebot an Moskau eingehegt werden, zur Sicherheitskooperation zurückzukehren.

Die militärische Fähigkeiten Russlands

Wenn es um die militärischen Fähigkeiten Russlands geht, dann bin ich ebenso skeptisch. Moskau hat es in drei Jahren Krieg nicht geschafft, die ukrainische Armee wirklich unter Kontrolle zu bekommen.

Zwar neigt sich im Moment die Waagschale mehr auf die russische Seite, weil sie in einem Abnutzungskrieg mehr Personal einsetzen kann. Die materielle Lage ist zwar auch schwierig für Kiew und dürfte sich weiter verschlechtern, aber die prekäre Personallage ist entscheidend.

Oberst a. D. Wolfgang Richter ist seit 2023 Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP). Von 2009 bis 2022 war er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Forschungsfelder: europäische Rüstungskontrolle; OSZE-Sicherheitskooperation und ungelöste Konflikte im OSZE-Raum. Von 2005 bis 2009 war er bei der OSZE Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland.

Gleichwohl ist es nicht so, dass die Russen jetzt ein leichtes Spiel hätten. Trotz ihrer quantitativ deutlich überlegenen Luftwaffe ist es ihnen in drei Jahren nicht gelungen, eine absolute Luftherrschaft über die Ukraine zu erzielen.

An der Frontlinie konnten sie bisher – trotz langsamer taktischer Erfolge – keinen operativen Durchbruch erzwingen, um die administrativen Grenzen des Gebiets Donezk zu erreichen. Das scheint immer noch das Ziel zu sein.

Aber von der im Westen postulierten Zielsetzung, etwa die ganze Ukraine unter Kontrolle zu bekommen, sind sie nicht nur weit entfernt; sie dürften das auch militärisch nicht schaffen und vermutlich gar nicht anstreben.

Wenn man aber nach drei Jahren Krieg trotz sehr hoher Verluste mit der Ukraine nicht wirklich fertig wird, was für einen Sinn würde es denn dann machen, angesichts solcher Fähigkeiten das konventionell weit überlegene, stärkste Militärbündnis dieser Erde anzugreifen.

Die Selbstzweifel der Nato

Wenn man eine solche Theorie vertritt, dann scheint mir eine gehörige Portion Selbstzweifel dabei zu sein. Das heißt Zweifel daran, dass die Nato im Verteidigungsfall zusammenhält, und die verbündeten Staaten tatsächlich Truppen entsenden, um osteuropäischen Staaten zu helfen, falls sie angegriffen würden. Das trifft vor allem das Baltikum, aber auch Polen.

Um diesen Selbstzweifeln zu begegnen und die Abschreckung sichtbar zu stärken, hat die Nato sich auf eine ganze Reihe von Maßnahmen verständigt. So hat sich Deutschland verpflichtet, eine komplette Kampfbrigade in Litauen aufzustellen, mit etwa 5.000 Soldaten.

Und das bedeutet, dass ein Angriff Russlands in Litauen, aber auch in den anderen beiden baltischen Staaten, sofort auf alliierte Truppen treffen würde. Ich halte solche Selbstzweifel für unbegründet.

Testet Russland die Nato?

Auch die öffentlich diskutierte Behauptung, Moskau könne und würde die Solidarität der Allianz an einer Stelle "testen", (und könne sich bei Misserfolg ja schadlos zurückziehen), halte ich für politisch und militärisch abwegig.

Ein solcher "Test" wäre doch nicht mit einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung zu vergleichen. Hier ginge es um den Beginn eines Krieges, dessen Auswirkungen und Eskalationsrisiken nicht absehbar wären.

Ein weiterer erfolgloser Waffengang, massive Verluste und Zerstörungen und eine wahrscheinliche Eskalation wären keineswegs im Interesse Russlands. Dass Russland mutwillig mit 32 Staaten, davon drei Nuklearstaaten, in einen Konflikt geraten wollte, macht einfach keinen Sinn.

Nato und Russland: Die militärischen Fähigkeiten im Vergleich

▶ Bei der Frage nach der Einschätzung einer militärischen Bedrohung der Nato-Länder durch Russland macht es sicherlich Sinn, die militärischen Kapazitäten Russlands mit denen der Nato, ohne die USA, zu vergleichen.

Allerdings ist dies nicht ganz einfach, weil man beispielsweise auch die unterschiedliche Kaufkraft und die Einkaufspreise für Waffen berücksichtigen muss, wenn man die Größen des militärischen Budgets miteinander vergleicht.

Wie ist hier Ihre Einschätzung und wie fällt insgesamt der militärische Vergleich zwischen Russland und der Nato aus, wenn diese auf die USA verzichten müsste?

Wolfgang Richter: Ein Vergleich der militärischen Fähigkeiten zeigt, dass die Nato in Europa auch ohne die USA den russischen Streitkräften weit überlegen ist. So sind die rund 2.000 Kampfflugzeuge der Nato, überwiegend sehr moderner Bauart, den russischen rund 1.200 Kampfflugzeugen, die zwischen Murmansk und Wladiwostok und der ukrainischen Grenze und Kasachstan verteilt sind, deutlich überlegen.

Sie sind die Träger für weitreichende luftgestützte Marschflugkörper. Gleiches gilt für die Seestreitkräfte. Bei den Landstreitkräften ist sie es auch, jedenfalls der Zahl nach.

Aber hier kommen operative Fragen hinzu: Wie schnell kann man eigene Truppen bewegen und kann man sie rechtzeitig an der Frontlinie einsetzen etc. Aber das sind ja Fragen, die sich auch an Russland stellen.

Eine neue Truppenkonzentration an den Nato-Grenzen bliebe nicht unerkannt und würde Zeit brauchen, in der die Nato reagieren kann. Aber dies ist auf absehbare Zeit kaum möglich, da der Schwerpunkt der russischen Streitkräfte sich auf die Ukraine richtet und drei Viertel seiner Landstreitkräfte bindet.

Also wer sagt, 2029 greifen die Russen Europa an, muss ja erst mal die Frage beantworten, wie, wann und unter welchen Bedingungen der Ukraine-Krieg endet.

Werden dann die russischen Truppen an dieser Frontlinie nicht mehr gebraucht? Oder wird es nicht so sein, dass trotz eines Friedensschlusses, wenn er denn dann erreicht ist, immer noch ein großer Teil der russischen Streitkräfte dort gebunden wird, um ihn abzusichern?

Russische Landstreitkräfte

Ich erinnere daran, dass Russland wegen der Knappheit ihrer Landstreitkräfte selbst aus den Bereichen Kaliningrad und St. Petersburg, dem ausgedehnten neuen Militärbezirk Leningrad, also auch von der langen finnischen Grenze, Truppen abgezogen hat, die heute in der Ukraine kämpfen.

Also mir fehlt bei dieser Perzeption, dass Russland schon ab 2029 angreifen könnte, ein klares Szenario, wie der Ukraine-Krieg enden und über welche ungebundenen militärischen Fähigkeiten es dann noch verfügen würde.

Was wären dann die militärischen Folgen für die Reorganisation der russischen Streitkräfte, die hohe materielle und personelle Einbußen zu verkraften haben?

Aus meiner Sicht werden sie noch lange Zeit mit Schwerpunkt in der Ukraine gebraucht werden. Möglicherweise kehren einige Einheiten zurück; aber es dürfte auf viele Jahre hinaus nicht möglich sein, eine Überlegenheit gegenüber der Nato in Europa zu erzielen.

Fähigkeiten der Nato und der Bundeswehr verbessern

Die von Ihnen zitierten Stellungnahmen verstehe ich nur insofern, als sie Begründungen dafür liefern, die Fähigkeiten der Nato zu verbessern und, was Deutschland betrifft, vor allem die Fähigkeiten der Bundeswehr.

Dies ist tatsächlich nötig, ganz unabhängig davon, wie sich die Bedrohungslage entwickelt. Ich habe es schon in der Vergangenheit für völlig falsch gehalten, insbesondere das deutsche Heer so abzurüsten, dass viele Verbände nur noch zur Hälfte oder zu 60 Prozent mit schwerem Gerät ausgerüstet sind.

Das darf schon deswegen nicht sein, weil eine funktionierende Armee – unabhängig von der aktuellen Bedrohungslage – ein Stabilitätsfaktor ist. Und der ist gerade im Falle Deutschlands ganz wichtig, weil Deutschland – zusammen mit Frankreich und Großbritannien – die wirtschaftliche und auch politische Führungsmacht in Europa ist, auf die man sich verlassen muss.

Und wenn man dann eine Armee hat, die große Fähigkeitslücken aufweist, dann ist das politisch eher ein Rezept für die Destabilisierung als für die Stabilität.

Deutsche Fähigkeitslücken

Fähigkeitslücken müssen in der Tat bereinigt werden. Die Vollausstattung des Heeres ist ebenso nötig wie die Verstärkung der Luft- und Raketenabwehr und unserer Fähigkeiten zur See.

Die Drohnenabwehr und der eigene Drohneneinsatz müssen verbessert werden. Das Heer hat vor einigen Jahren die Flugabwehrtruppe völlig abgeschafft, was ein Fehler war. Gerade für die Drohnenabwehr sind diese Truppenteile ganz wichtig, und die Gepard-Flakpanzer, die wir an die Ukraine abgegeben haben, haben sich dort bewährt.

Die Bundeswehr hat sie nicht mehr und muss jetzt mühsam neuere Systeme beschaffen. Insgesamt werden wir ein paar Einheiten und Verbände mehr brauchen. Auch Fähigkeitslücken bei Durchhaltefähigkeit müssen bereinigt werden, die leeren Munitionslager müssen aufgefüllt werden. Die Frage des Personalersatzes muss grundlegend erörtert werden.

Dass die Fähigkeitslücken der Bundeswehr geschlossen werden müssen, liegt auf der Hand. Aber der politische Kontext ist ein anderer. Es ist nicht die unmittelbare akute Bedrohung, die nun ins Haus steht, sondern es ist der Versuch, Europa insgesamt zu stabilisieren und Deutschland auch als einen Sicherheitsanker zu etablieren, damit Europa zusammenhält.

Ich glaube, darum geht es in erster Linie. Alles andere sind Szenarien, die man erörtern kann, aber bei denen mir die konzeptionellen und materiellen Grundlagen unklar bleiben.

"Kriegswaffen sind nicht etwas, was man mal eben aus dem Regal holt"

▶ Vor der Bundestagswahl hatte die CDU noch ein Sondervermögen abgelehnt, unmittelbar nach der Wahl war von einem Sondervermögen in Höhe von 200 Milliarden Euro die Rede, das dazu dienen soll, das deutsche Militär zu stärken. CSU-Chef Markus Söder bezeichnete dies als ein "international wuchtiges Signal".

Anfang März sind dann zwei Sondervermögen im Gespräch: eines für die Bundeswehr eines in Höhe von etwa von 400 Milliarden Euro. Ein weitere für die Infrastruktur in Höhe von 400 Milliarden bis 500 Milliarden Euro.

Angesichts vieler massiver sozialer Probleme in Deutschland, die aufgrund von Geldmangel kaum angegangen werden können und einem sozialen Sektor, der vor dem Kollaps steht mag dies erstaunen.

Wie schätzen Sie die neuen Vorschläge ein?

Wolfgang Richter: Die letzte Wendung der Vorschläge macht insofern mehr Sinn, als man nicht mehr von festen Prozentzahlen vom Bruttoinlandsprodukt ausgeht, was ich auch in der Vergangenheit schon für falsch hielt. Denn die Prozentzahlen des BIP produzieren sehr flexible Zahlen, die in Relation zur Konjunktur der Wirtschaft stehen.

Mit anderen Worten, gehen wir in die Rezession, bräuchte man nicht mehr ausgeben, damit die Prozentzahlen steigen, wenn man das Gleiche ausgibt. Umgekehrt, wenn die Wirtschaft wieder anspringt, produzieren wir einen größeren BIP und dann laufen wir solchen Prozentzahlen immer hinterher, weil sich dann die Realausgaben für die Verteidigung ständig weiter erhöhen müssten

Das frühere Zwei-Prozent-Ziel ist schon 2014 in Wales aus politischen Gründen beschlossen worden, um einen Vergleichsmaßstab zwischen den Nato-Staaten zu haben. Aber es ist kein vernünftiger Maßstab, um wirklich die Verteidigungsfähigkeit zu messen.

Denn Verteidigungshaushalte sind sehr unterschiedlich strukturiert und bestehen aus sehr vielen Elementen. Beim größten Teil handelt es sich um Betriebs- und Personalausgaben. Nur ein kleinerer Teil, zwischen 20 und 30 Prozent, betrifft tatsächlich Investitionen.

Tatsächlich muss man zunächst das gewünschte Fähigkeitsprofil definieren, dann die Fähigkeitslücken feststellen und im nächsten Schritt die Entwicklungs- und Produktionsfähigkeiten der Industrie dagegenhalten.

Daraus lässt sich dann berechnen, wie lange der Beschaffungsprozess dauert, zumal die Industrie solche Systeme ja nicht auf Halde produziert. Das kann und darf sie auch gar nicht.

Kriegswaffen sind nicht etwas, was man mal eben aus dem Regal holt. Dafür braucht man langfristige Bestellungen, deren Vertragslaufzeiten sich über Jahre hinaus erstrecken, gerade wenn man davor noch Entwicklung und Erprobung schaltet.

Was nötig ist

Und erst, wenn die Industrie solche langfristigen Aufträge hat, auf die sie sich verlassen kann, können Produktionslinien erweitert, neues Fachpersonal eingestellt und Rohmaterial und Maschinen beschafft werden.

Dazu müssen die Lieferketten für Hochwertstoffe auf dem Weltmarkt sichergestellt werden und Verträge mit Zulieferern und Unterauftragsnehmern abgeschlossen werden. Eine theoretische Zahl von jährlichen Prozentanteilen vom BIP wird dem komplexen Beschaffungsprozess nicht gerecht.

Was am 5. März offenbar zwischen den künftigen Koalitionspartnern SPD und CDU/CSU beschlossen worden ist, scheint davon in der Tat abzurücken. Der vorliegende Ansatz besagt, dass alles, was oberhalb von einem Prozent des BIP beschafft werden muss, nicht unter die Schuldenbremse fällt.

Das heißt, es kann mal mehr, aber auch mal weniger sein als diese projizierten Prozentanteile vom BIP. Das halte ich im Prinzip für richtig. Es bleibt abzuwarten, was dabei tatsächlich herauskommt.

Fähigkeitsziele als Priorität

Aber die Reihenfolge muss sein, zunächst einmal die Fähigkeitsziele zu definieren, die ja zum großen Teil auch mit der Nato schon abgesprochen sind. Das wird beim Nato-Treffen im Juni dann noch einmal endgültig festgestellt werden.

Dann wird man sehen, wie viel von den einzelnen Nationen zu erwarten ist und in welcher Zeit. Und das wiederum muss abgeglichen werden mit den Produktionsfähigkeiten der Industrie.

Bezahlt wird ohnehin erst, wenn ein solches Gerät auf dem Hof steht. Deswegen kann man auch nicht erwarten, dass solche Zahlen ganz schnell abfließen werden, sondern das wird dann eben die Zeit dauern, die die Industrie braucht, um solche Geräte auf den Hof zu stellen.

Der jetzige Ansatz scheint mir jedenfalls vernünftiger zu sein, als irgendwelche fantastischen Prozentzahlen vom BIP zu postulieren wie etwa 3,5 Prozent. Natürlich kann man sich dann fragen, wo diese zusätzlichen 60, 80 Milliarden Euro aus einem Bundeshaushalt herausgewirtschaftet werden sollen, wenn die Schuldenbremse weiterhin gelten soll.

Dann ginge kein Weg daran vorbei, andere Ausgaben erheblich zu kürzen; und das sind ja im Wesentlichen die Sozialausgaben. Solche Spekulationen bergen die Gefahr, die innere Stabilität aufs Spiel zu setzen. Das kann man natürlich nicht machen.

Jetzt hat man sich entschieden, am Ende doch die Schuldenbremse an zwei Stellen zu reformieren, nämlich an der Stelle, die ich gerade erwähnt habe, bei der Verteidigung. Und zum anderen, hier gibt es einen festen Satz, nämlich 500 Milliarden, die für die marode Infrastruktur ausgegeben werden sollen, wovon dann auch noch 100 Milliarden für die Bundesländer vorgesehen sind, natürlich auch, um deren Zustimmung zu erhalten.

Diesen Ansatz kann man nachvollziehen. Er wird Deutschland allerdings mehr verschulden, als bisher vorstellbar war. Nun scheinen sich aber die künftigen Regierungsparteien darüber einig zu sein, dass das in dieser Notlage erforderlich ist.

Kooperatives Sicherheitssystem: Wie geht es weiter mit Nato, EU und Russland ?

▶ Herr Richter, es ist fast schon ein Allgemeinplatz zu konstatieren, dass wir in einem neuen Kalten Krieg leben. Der Nato-Doppelbeschluss von 1979 verfolgte die Doppelstrategie der Abschreckung und des Dialogs. Heute scheint der strategische Fokus einzig auf der Abschreckung zu liegen. Kommt aus Ihrer Sicht die Strategie des Dialogs zu kurz?

Und im Zusammenhang mit Dialog: Sollte, sobald der Krieg mit einem für die Ukraine akzeptablen Frieden beendet ist, der Versuch einer Neukonstruktion einer europäischen Friedensordnung unternommen werden? Eine Neuauflage der Sicherheitskonferenz von Helsinki?

Wolfgang Richter: Also zunächst einmal habe ich den Eindruck, dass der Dialog zu kurz kommt. Das liegt natürlich daran, dass im Moment eine Kriegssituation herrscht und der Westen in den letzten drei Jahren alles auf eine Doppelstrategie gesetzt hat, um Russland in die Knie zu zwingen. Sie bestand ausschließlich aus Waffenlieferungen einerseits und Wirtschaftssanktionen andererseits.

Diese Strategie hat letztlich nicht zum Erfolg geführt. Die Ukrainer sind heute nicht in der Lage, militärisch die "Siegstrategie" durchzusetzen, für die Selenskyj immer wieder geworben hat. Sie haben jetzt Mühe, sich zu halten, wo sie derzeit stehen. Es besteht die Gefahr, dass sie schrittweise noch weiter zurückweichen müssen.

Die internationalen Sanktionen haben nicht gewirkt, weil der Globale Süden daran nicht teilgenommen hat, weil er völlig andere Interessen hat und weil er sich nicht auf die Seite der früheren Kolonialmächte stellen will.

Er will sichergehen, dass die internationalen Handelsketten weiterlaufen und nicht eine neue Blockspaltung der Erde entsteht. Denn auf dieser Wirtschaftsentwicklung und dem freien Handel beruht ja auch der Fortschritt und der Aufstieg der neuen wichtigen Mächte des Globalen Südens. Das war absehbar.

Bedeutung von Dialog

Jetzt stellt sich aber die Frage, wie es denn im Verhältnis zwischen der europäischen NATO und EU sowie Russland weitergehen soll, falls in der Ukraine tatsächlich ein Frieden zustande kommen sollte.

Lassen Sie mich daran erinnern, dass die Nato nicht nur 1979 eine Doppelstrategie gewählt hat, sondern schon 1967 erkannt hatte, dass Abschreckung alleine instabil ist.

Hier wirkten die Erfahrungen, die man aus der Kuba-Krise damals gezogen hat. Abschreckung allein neigt zum Worst-Case-Denken und zur Fehlperzeption der Absichten und Aktivitäten des potentiellen Gegners.

Das kann zu Überreaktionen führen und eine Eskalation auslösen. Abschreckung allein kann aus dem Ruder laufen und birgt immer auch die Gefahr der Eskalation. Diese Erkenntnis hat der Harmel-Bericht von 1967 festgehalten.

Zwar bleibe Abschreckung unverzichtbar, um die Verteidigung sicherzustellen und einen Angriff abzuwenden; aber zur Kriegsverhinderung gehören auch der Dialog und die Verständigung, um die Eskalationsgefahren einer rein auf Abschreckung beruhenden Politik einzuhegen.

Vertrauensbildende Maßnahmen seien nötig, um sich gegenseitig glaubwürdig zu versichern, dass man die strategische Zurückhaltung wahre und keine Sicherheitsvorteile zulasten der Gegenseite erzielen wolle.

Das kann man, und das ist ja auch so geschehen, vor allen Dingen durch nukleare und konventionelle Rüstungskontrollverträge tun, die aber verifiziert werden müssen, um glaubwürdig zu sein.

Dazu hat man ja in Europa ab dem Ende der 1980er Jahre ein sehr ausgeklügeltes System von gegenseitigen Zusicherungen geschaffen. Ich erinnere an den KSE-Vertrag, den INF-Vertrag, aber auch andere Vereinbarungen wie das Wiener Dokument und den Vertrag über den Offenen Himmel.

Auflösung internationaler Abkommen

Leider sind diese Vertragswerke in den letzten 20 Jahren schrittweise abgebaut worden. Dafür kann übrigens nicht allein und nicht in erster Linie Russland verantwortlich gemacht werden. Unter dem Präsidenten George W. Bush sind die USA aus einigen Verträgen ausgestiegen (ABM-Vertrag) oder haben die Anpassung anderer blockiert (KSE-Vertrag).

Später hat dann Präsident Trump in seiner ersten Amtszeit zwei weitere Verträge abgebaut (INF-Vertrag, Vertrag über den Offenen Himmel). Heute fehlen in Europa solche Leitlinien und Leitplanken zur Wahrung einer gemeinsamen, inklusiven Sicherheit.

Mir scheint es nun im eigenen Sicherheitsinteresse nötig zu sein, ein ähnliches System in Europa wieder einzuführen, um den Frieden langfristig zu sichern. Es geht darum, zu vermeiden, dass es bei der großen Zahl an Übungen, Überflügen und Aufmärschen in Grenzgebieten zu einer weiteren eskalatorischen Entwicklung kommt.

Es muss ein gewisses Maß an Vorausschaubarkeit und militärischer Berechenbarkeit geben, um die Risiken im Zaum zu halten. Aber das kann man nur erreichen, wenn man wieder miteinander spricht und Vereinbarungen trifft, die man gegenseitig verifizieren kann.

Kooperation und Sicherheit: Rüstungskontrollverhandlungen

Dies erfordert die Rückkehr zu einem kooperativen Sicherheitssystem, das das Ende des Kalten Kriegs ermöglicht hat. Sein politisches Zentrum war die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, um die herum ein umfangreiches System verflochtener Verträge geschaffen wurde.

Es war etwa 15, 16 Jahre äußerst erfolgreich, hat Vertrauen geschaffen und Kooperation ermöglicht, bevor es dann anfing zu erodieren. Das sollten wir im Kopf behalten. Das System als solches war ja nicht falsch, sondern es war im Gegenteil sehr stabil und hat dazu geführt, dass wir alle – Europäer, Amerikaner und Russen – eine Friedensdividende einfahren konnten.

Dies ging mit großen Abrüstungserfolgen einher, wobei Russland die Hauptlast der Reduzierungen trug. Auf diesen Rüstungskontrollansatz hin erfolgten auch die deutschen Truppenreduzierungen.

Sie waren also zunächst keineswegs nur die Folge von Schludrigkeit oder überzogenen "Kaputtsparens", sondern ein verantwortbares Ergebnis reziproker Rüstungskontrollverhandlungen und Vereinbarungen. Denn auf der anderen Seite hat Russland mit dem Abbau seiner konventionellen Kräfte den größten Beitrag zur Abrüstung und zum Abbau von Drohpotentialen geleistet.

Wir werden das aufarbeiten müssen. Auch die Frage, warum es so weit kommen konnte, dass diese Leitplanken einfach alle erodiert sind. Alle Nato- und OSZE-Staaten haben zum Beispiel den KSE-Vertrag einmal als "Eckpfeiler der europäischen Sicherheit" bezeichnet.

Aber als der Eckpfeiler zusammenbrach, hat sich darüber kaum jemand aufgeregt, noch nicht einmal die Staaten, die besonders an diesem Eckpfeiler hingen, also in erster Linie Deutschland, aber auch andere westeuropäische Staaten wie damals Frankreich, Italien und andere.

Solche Fehler der Vergangenheit sollten wir nicht wiederholen. Was wir jetzt brauchen, ist die Wiederauffrischung der Erkenntnis, dass Abschreckung allein instabil ist, auch wenn wir ohne sie vorläufig nicht auskommen werden.

Sie reicht aber nicht aus, um eine stabile Friedensordnung zu begründen. Um Eskalationsgefahren einzuhegen, brauchen wir auch in Zukunft den Dialog und gegenseitige Vereinbarungen über Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle.

▶ Herzlichen Dank, Herr Richter, für das Gespräch.