Ukraine-Krieg: Awdijiwka operativ eingekesselt
- Ukraine-Krieg: Awdijiwka operativ eingekesselt
- Ukrainische Truppen im Süden abgeschnitten
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Ukrainische Truppen sind in schwieriger Lage. Der Kampf um den strategischen Ort scheint entschieden. Was dies für den Fortgang des Krieges bedeutet. Eine Einschätzung.
Der Kampf um Awdijiwka ist mit großer Wahrscheinlichkeit entschieden. War es den russischen Truppen vor Ort bisher nicht gelungen, die einzig verbliebene leistungsfähige Straße in die Stadt, den Industrialʹnyy Prospekt, unter ihre Kontrolle zu bringen, so ist genau dies nun geschehen.
Alle südlich der AKHZ-Kokerei befindlichen ukrainischen Truppen sind nun abgeschnitten. Es gibt keine militärisch tragbare Logistik-Verbindung mehr hinein in die jetzt de facto eingekesselte Stadt, dazu später mehr.
Russischen Spitzen konnten den Industrialʹnyy Prospekt auf einer beachtlichen Länge von über 850 Metern durchstoßen. Gut nachverfolgen lässt sich der Frontverlauf auf der Nato-freundlichen Deepstatemap oder dem neutralen WeebUnion.
Der Vorstoß
Die ukrainischen Streitkräfte wurden zudem aus nahezu dem gesamten zentralen Bereich der Stadt Awdijiwka herausgedrängt, der sich zwischen der AKHZ-Kokerei im Norden und dem Bahnhof in der Mitte der Stadt befindet.
Weiterhin gelang es den russischen Kräften, die Straße nicht nur zu unterbrechen, sondern zu überschreiten. Sie nähern sich einem schmalen Waldstreifen, durch den eine der letzten Feldwege führt, der noch nicht vollständig unter russischer Kontrolle steht.
Es war anscheinend der Plan der russischen Militärführung, vor einem Vorstoß auf die Nachschubverbindung Industrialʹnyy Prospekt die Flanken sichern zu wollen. Und so ließ sie ihre Truppen südöstlich vorstoßen, und zwar in Richtung Bahnhof zwischen den Bahngleisen und dem Baggersee.
Viele erfahrene ehemalige Wagner-Soldaten befinden sich unter diesen Soldaten, Spezialisten im Häuserkampf. Und so konnten sich russische Kampfverbände jetzt bis auf gut 50 Meter an das Gelände des Bahnhofes vorarbeiten.
Die Schlammzeit
In der belagerten Stadt liegt Schnee. Und das ist nicht gut für die verteidigenden Truppen der Ukraine, denn jetzt setzt die Schneeschmelze ein. In den nächsten Tagen wird es bis zu 12 Grad warm, nur noch an wenigen Tagen soll die Temperatur tagsüber noch unter den Gefrierpunkt fallen.
Zudem könnte es Schauer geben – langsam beginnt also die berüchtigte Rasputitsa, die ukrainische Schlammperiode – selbst Kettenfahrzeuge oder Fußsoldaten haben jetzt große Schwierigkeiten, sich über diesen Schlamm fortzubewegen.
Die russischen Truppen sind von der Schlammzeit viel weniger betroffen als die Verteidiger, denn die Angreifer verfügen über zahlreiche, nicht von den ukrainischen Verteidigern bedrohte Logistikwege hinein in die von ihnen jetzt eingekesselte Stadt.
Die Zeit spielt für die russischen Streitkräfte. Denn während der Schlammperiode ist es für die ukrainische Führung nahezu unmöglich, über unbefestigte Feldwege Nachschub in den Halbkessel von Awdijiwka zu bringen.
Den ukrainischen Logistikern bleiben jetzt noch zwei Optionen übrig, und beide sind, um es deutlich zu sagen, katastrophal schlecht.
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Welche logistischen Optionen verbleiben der Ukraine jetzt noch?
Beide Optionen beginnen in der Nordspitze der als Zitadelle dienenden Plattenhaussiedlung des 9. Quartiers. Die tatsächlich einzig verbliebene Straße heißt Kozachyy Prov. Sie führt, hier noch befestigt, am Gelände einer Spedition entlang. Von dort aus haben die ukrainischen Versorgungs-Truppen zwei Optionen.
Eine Option wäre: Sie fahren einfach weiter geradeaus in Richtung Sjeverne. Die Straße hört ab der Spedition gemessen nach 1,4 Kilometern auf und mündet in einen unbefestigten Feldweg. Dieser führt nördlich an einem der für die Ukraine so typischen Waldstreifen auf gerader Linie nach Sjeverne.
Das Problem: russische Truppen konnten sich bereits seit einiger Zeit dem Feldweg südlich auf nur 950 Metern nähern und sich dort festsetzen.
Der Waldstreifen schützt eigentlich vor den Blicken der südlich lauernden russischen Späher. Doch zum einen gibt es auf dem gläsernen Schlachtfeld keinen Blickschutz mehr, Drohnen können 24 Stunden ununterbrochen alle Bewegungen auf dem Boden mit tödlicher Präzision aufklären, und zum anderen ist es Winter, die Bäume und Sträucher tragen kein Laub.
Einmal aufgeklärt, sind ukrainische Fahrzeuge oder auch einzelne Fußsoldaten leichtes Ziel von Infanterie-Panzerlenkraketen, FPV-Drohnen, präzisionsgelenkter Artillerie oder Mehrfachraketenwerfern. Fliehende Gruppen von Infanterie können mit Streumunition ausgeschaltet werden.
Die zweite Möglichkeit der ukrainischen Versorgungstruppen besteht darin, ab der oben genannten Spedition einen nach Nordwesten in Richtung Lastochkyne führenden Feldweg zu nehmen. Dieser führt über nacktes Feld und ist in keiner Weise sichtgeschützt.
Für reine Infanteriebewegungen eignet sich noch ein Waldstreifen, der etwas weiter nördlich gut geschützt nach Lastochkyne hineinführt.
Beide Feldwege sind einspurig und bei Regen oder Tauwetter von Fahrzeugen nicht passierbar. Und sie sind selbst durch russische Infanterie-Handwaffen mit Feuer zu kontrollieren.
Beide Feldwege eignen sich nicht, um eine kämpfende Truppe von mehreren tausend Mann täglich mit dem Nötigsten zu versorgen – die ukrainischen Soldaten in der ehemaligen Festung Awdijiwka müssen jetzt weitgehend mit dem auskommen, was noch an Material und Vorräten in den Kellern und Bunkern der Stadt eingelagert ist.
Die Position der ukrainischen Truppen ist dadurch de facto unhaltbar geworden.
Denn die ukrainischen Soldaten stehen in Awdijiwka vor mehreren massiven Problemen.
Die Probleme der Verteidiger
Da ist zum einen die russische Artillerieüberlegenheit. Und die bedeutet für die Angreifer, viel weniger Gegenbatteriefeuer fürchten zu müssen. Den ukrainischen Artillerieverbänden gelingt es zunehmend weniger, die russische Konzentration an Artillerie wirksam bekämpfen zu können – der Ukraine fehlte es an Munition.
Also kann Russland seine drückende Überlegenheit im Bereich der Artillerie voll ausspielen und die verbliebenen Stellungen der Ukraine mit drohnenkorrigiertem Artilleriefeuer unter schweren Beschuss nehmen.
Man muss sich verdeutlichen: Das heutige Artilleriefeuer ist nicht gleichzusetzen mit der Art des Einsatzes von Artillerie, wie es sie noch in vorigen Kriegen gab. So können heutzutage auch 70 Jahre alte Kanonen mithilfe von kleinen Aufklärungsdrohnen in erschreckend treffsichere Präzisionswaffen transformiert werden.
Die Wucht der Freifallbomben
Hinzu kommen noch die mächtigen FAB-Freifallbomben mit Gleitrüstsatz, die mit internen Navigationsmodulen ausgestattet sehr genau Feldbefestigungen treffen können – Beobachter gehen davon aus, dass Russland inzwischen 60 bis 110 dieser Bomben in Awdijiwka zum Einsatz bringt, und das pro Tag.
Vergleicht man die Anzahl dieser Bomben mit den Bombeneinsätzen im Zweiten Weltkrieg oder den Zahlen des Vietnamkrieges, so sind um die 100 Bomben pro Tag eine eher bescheidene Zahl. Doch der technische Unterschied zwischen den damals eingesetzten Freifall-Fliegerbomben und den heutigen Präzisionsbomben ist mittlerweile gewaltig.
Wurden in diesen vergangenen Kriegen die Bomben von Flugzeugen ungelenkt über Ziele abgeworfen und war die Genauigkeit eher bescheiden, so können die FAB-Bomben mit Gleitrüstsatz treffsicher ihre Ziele bis auf wenige Meter bekämpfen.
Und wenn wir konservativ von 60 Einsätzen der FAB-Bomben über Awdijiwka pro Tag ausgehen, dann bedeutet das eben auch der nahezu sichere Verlust von 60 schwer befestigten ukrainischen Stellungen in der Stadt pro Tag.
Der Schaden, den die Bomben anrichten, ist gewaltig und mit ihrer enormen Sprengkraft eignen sie sich in besonderem Maße eben genau für die Bekämpfung befestigter Stellungen, Betonbunker, unterirdischer Verteidigungsanlagen – der ukrainische Widerstand wird regelrecht pulverisiert.
Ein Beispielvideo findet sich bei Remylind, das den Einsatz mehrerer Bomben gegen das 9. Quartier zeigt. Auf dem Video sieht man deutlich die gewaltigen Dimensionen der FAB-Sprengwirkung im Vergleich zu den mehrstöckigen Sowjet-Plattenbauten.
Forbes beschreibt das in einem aktuellen Artikel wie folgt:
Die gegnerische Luftwaffe hat die Zahl der Einsätze pro Tag erhöht, um Offensivaktionen im Osten der Ukraine, insbesondere in der Nähe von Awdijiwka, zu unterstützen", berichtet das Ukrainische Zentrum für Verteidigungsstrategien. "Diese Situation ist eine Folge des Mangels an Flugabwehrlenkwaffen bei den ukrainischen Verteidigungskräften."
Russische Bomben regneten auf die besten Befestigungen der 110. Brigade nieder und sprengten Lücken in die ineinander verschachtelten Verteidigungssektoren. Die russische Infanterie nutzte das schlechte Wetter, das die ukrainischen Drohnen in der vergangenen Woche am Boden hielt, um in den Norden von Avdiivka vorzudringen und sich nach Süden zu schleichen, bis sie die Hrushevsky-Straße (Industrialʹnyy Prospek) praktisch sehen konnte.
Forbes
Die 110. Mechanisierte Brigade musste sich erst gestern aus Awdijiwka wegen schwerer Verluste zurückziehen.
Die Befestigungen
Zudem mussten die ukrainischen Verteidiger ihre stärksten und seit Jahren kontinuierlich ausgebauten Verteidigungsstellungen, die sich vorgelagert am Rande der Stadt befanden, aufgeben. Innerstädtisch verfügt die Ukraine anscheinend über keine ausgebauten Stellungen mehr.
Kyiv Independent berichtet darüber:
Der Bericht von Oleksandr, einem Soldaten eines Panzerabwehrzuges der 47. selbstständigen mechanisierten Brigade, deckt sich mit anderen Aussagen, wonach es an der vordersten Frontlinie in der Nähe von Awdijiwka so gut wie keine befestigten Stellungen gibt, was das Leben derjenigen, die mit der Verteidigung der Stadt beauftragt sind, zusätzlich bedroht.
Viele Infanteristen und andere Soldaten, die an der ersten Verteidigungslinie eingesetzt sind, haben sich darüber beklagt, dass ihre Stellungen - oft nur Löcher wie das von Oleksandr beschriebene - im Vorfeld der russischen Großoffensive auf Awdijiwka offenbar schlecht vorbereitet worden sind. Da die ukrainischen Streitkräfte ständig unter schwerem Beschuss stehen, bleibt kaum Zeit, weitere Stellungen zu errichten.
Kyiv Independent
Und so verbleiben den Verteidigern nur noch zwei ausgebaute Verteidigungskomplexe. Zum einen natürlich die AKHZ-Kokerei. Hinter massiven Betonmauern können sich die Truppen Kiews hier schützen, ein weitläufiges Tunnelsystem verbindet die verschiedenen Teile des Industriegiganten untereinander.
Die Befestigungen sind zu vergleichen mit denen des Asow-Stahlwerkes in Mariupol. Zum anderen gibt es die Hochhaussiedlung des 9. Quartiers, eine Chruschtschowka-Plattenbausiedlung mit zumeist fünfstöckigen Häusern.