Ukraine-Krieg: Das Endspiel um die Festung Awdijiwka
- Ukraine-Krieg: Das Endspiel um die Festung Awdijiwka
- Ukrainische Verteidigung: Munition fehlt, vor allem aber Soldaten
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Strategische Eroberungen der russischen Armee: Was das für die ukrainischen Truppen in der Stadt bedeutet. Der Verteidigung fehlt es nicht nur dort an Soldaten. Eine Lageeinschätzung.
Russischen Truppen ist es gelungen, die Festung Awdijiwka in zwei Hälften zu spalten. Ein nördlicher Teil besteht aus der riesigen AKHZ-Kokerei, und ein südlicher Teil umfasst die Gebiete Awdijiwkas, die sich noch in der Hand der ukrainischen Streitkräfte befinden.
Russische Spitzen stehen jetzt unmittelbar südlich der Kokerei auf dem Gelände eines Transportunternehmens, nur noch 350 Meter trennen die Truppen Moskaus jetzt von der überlebenswichtigen Nachschubstraße, der einzigen Nachschubverbindung nach Awdijiwka hinein.
Nur noch einige Schuppen auf der Westseite der Spedition sind noch nicht unter russischer Kontrolle. Wenige hundert Meter weiter nördlich mussten sich ukrainische Streitkräfte aus der Datschensiedlung zurückziehen und russische Kräfte konnten in die Nähe eines Feldes vorrücken, das ihnen von dort aus eine freie Sicht und damit ein freies Schussfeld auf die letzte, verbliebene befestigte Straße in die belagerte Festung hinein gewährt.
Was bedeutet operative Einkesselung?
Von einer operativen Einkesselung spricht man, wenn ein Kessel nicht physisch hergestellt wird, sondern wenn die Nachschublinien in den Kessel hinein unter der eignen Feuerkontrolle stehen.
Damit macht man dem Gegner die Versorgung mit Nachschub unmöglich oder zu kostspielig. Genau das war in Bachmut der Fall, und kurze Zeit später, nachdem russische Streitkräfte die Feuerkontrolle über die einzige Nachschubstraße erlangen konnten, musste die ukrainische Armee die Stadt aufgeben.
Und genau das ist jetzt wieder in Awdijiwka geschehen: Der russischen Armee gelang es in den letzten Tagen überraschend, vom Norden her kommend die Kokerei südlich zu umgehen und fast bis zur Straße Industrialʹnyy Prospekt vorzustoßen, der Nabelschnur der ukrainischen Verteidigungstruppen.
Der Vorstoß gegen Awdijiwka zielte von Anfang an darauf ab, den Nachschub in die Stadt zu unterbrechen. Nur schien es so, als würden die russischen Truppen dies im Norden oder Süden versuchen.
Zwei Nachschub-Routen verbleiben
Über den Industrialʹnyy Prospekt, eine innerstädtische Fortsetzung der Landstraße O0542, die südlich des AKHZ-Werkes nach Awdijiwka in die Stadt hineinführt, rollte der Nachschub für die Tausenden Kämpfer, die sich immer noch kämpfend der russischen Umklammerung erwehren.
Jetzt verbleiben den ukrainischen Streitkräften nur noch zwei Routen, um den Nachschub sicherzustellen, und beide sind für umfassende logistische Operationen nicht geeignet.
Einmal ein Feldweg von einer LKW-Werkstatt kommend in gerade Linie nach Lastochkyne, und ebenfalls ein Feldweg von der LKW-Werkstatt nach Lastochkyne, allerdings mit einer Verschwenkung nach Norden.
Beide Wege sind bei Regen nur schwer bis nicht zu befahren. Zudem sind sie einspurig. Eine kämpfende Truppe von dem Ausmaß, den die Ukraine in Awdijiwka zusammengezogen hat, ist auf diese Weise nicht zu versorgen.
Zudem können Versorgungsfahrten auf den verbleibenden Feldwegen nur sehr langsam fahren – und damit können sie noch leichter durch russische Drohnen oder präzisionsgelenkte Granaten ausgeschaltet werden.
Probleme für Verteidiger
Wenn es den ukrainischen Kräften nicht gelingen sollte, die russischen Verbände wieder zurückzudrängen, dann bedeutet dies das Ende der ukrainischen Kontrolle über die Stadt – die noch in der Stadt stationierten Kräfte müssen sich zurückziehen.
Wahrscheinlich ist es für die Truppen Kiews bereits jetzt zu spät, das verbliebene schwere Material aus der Festung zu retten – die Soldaten werden nur sich selbst vor der drohenden Einkesselung bewahren können. Theoretisch haben Fußsoldaten die Möglichkeit, einfach über die Felder die Stadt zu verlassen.
Allerdings sind die Felder vermint und zusätzlich könnten russische FPV-Drohnen Jagd auf die fliehenden Truppen machen. Mittlerweile gibt es hunderte Videos, die zeigen, wie die kleinen fliegenden Bomben sich sogar auf einzelne Soldaten stürzen.
FAB-Bomben im Einsatz
Besonders zu schaffen machen den Verteidigern der bisher beispiellose Einsatz der schweren FAB-Bomben durch die russische Luftwaffe. Die alten, aber schweren Freifallbomben werden mit einem Gleitrüstsatz zu präzisionsgesteuerten Gleitbomben. Sie sind durch Flugabwehr nicht zu bekämpfen.
Jetzt scheinen pro Tag über 50 FABs gegen die ukrainischen Truppen allein in Awdijiwka zum Einsatz gebracht zu werden, und zwar vornehmlich in den Teilen der Stadt, in denen die russische Armee auf die letzte verbliebene Nachschubstraße vorrückt, dem Industrialʹnyy Prospekt. Hier zwei Videos, die aus ukrainischer Perspektive die FAB-Einschläge akustisch dokumentieren.
Die Bomben der FAB-Reihe sind mächtige Sprengkörper: Die FAB-500 wiegt 500 Kilogramm und hat eine Sprengstoffmasse von 150 Kilogramm, einen Schadensradius von 250 Metern und kann so Hauptquartiere, Lagerhäuser sowie Beton- und Stahlbetonobjekte zerstören – ideal für die Bekämpfung einer Festung wie Awdijiwka.
Es existiert noch eine schwerere Version, die FAB-1500, die 1,5 Tonnen auf die Waage bringt. Beide Versionen können etwa 70 Kilometer gleiten. Auf diese Weise können russische Kampfflugzeuge relativ weit von der Front entfernt die Bomben zum Einsatz bringen und so das Risiko minimieren, von der gegnerischen Flugabwehr bekämpft zu werden.
Was von Oberkommandeur Syrskyj erwartet wird
Nach der Ersetzung Walerij Fedorowytsch Saluschnyj als Oberkommandierender der Streitkräfte der Ukraine durch Oleksandr Syrskyj ist zu erwarten, dass dieser versuchen wird, weitere Reserven in die Stadt hineinzuführen.
Saluschnyj dagegen plädierte dafür, die Front zu begradigen, Awdijiwka aufzugeben und für die ukrainische Armee günstiger zu verteidigende Stellungen einzunehmen.
Starlink für russische Truppen in der Ukraine
Russlands Militär ist es zudem anscheinend gelungen, in Awdijiwka und an anderen Orten der Front Starlink an die Truppen auszuliefern. Über dem Territorium der Russischen Föderation ist ein Empfang des satellitengestützten Internets nicht möglich.
Dagegen funktioniert es in der Ukraine und zusätzlich in den von Russland eroberten Gebieten. Starlink kann nicht zwischen den einzelnen Terminals unterscheiden: Entweder wird es vollständig in einer Region an- oder abgeschaltet.
So können auch russische Streitkräfte den Dienst nutzen. Gleichzeitig hat Russland es wohl geschafft, das Satellitensignal für die ukrainischen Truppen zu stören.
Der Import ganzer Starlink-Terminals zeigt einmal mehr die Wirkungslosigkeit der für die deutsche Wirtschaft schwierigen Sanktionen gegen Russland. Immerhin kann die US-amerikanische Wirtschaft dadurch ihren Absatz in allen Bereichen steigern – auch bei Satelliten-Endgeräten.
Abschneiden der Nachschublinien auch an anderen Orten
Es steht nicht nur in Awdijiwka schlecht für Kiews Truppen. Auch in Nowomychajliwka stürmen russische Kräfte vor, drängen die ukrainischen Verteidiger zurück. In der vergangenen Nacht konnte die russische Armee den östlichen Teil des Dorfes einnehmen. Hier wurden die ukrainischen Truppen von drei Seiten in die Zange genommen.
Ziel des Vorstoßes ist die Einnahme des Dorfes Kostyantynivka. Denn über Kostyantynivka läuft der Nachschub für die wie Awdijiwka ebenfalls zur Festung ausgebauten Kleinstadt Wuhledar.
Diese besteht fast ausschließlich aus mehrstöckigen Plattenbauten. In der Vergangenheit versuchten russische Kräfte bereits mehrfach, Wuhledar zu stürmen. Jetzt bereiten die Truppen eine Taktik vor, die in Bachmut und bald auch in Awdijiwka erfolgreich ist: das Abschneiden der Nachschublinien. Wuhledar ist der südliche Eckpfeiler der ukrainischen Donezk-Front.
Russische Vormärsche werden von Suriyakmaps aus Novovodyane, nördlich von Ivanivske, östlich von Bilohorivka, bei Klyschiivka und in Pervomaiske gemeldet, alle Meldungen stammen aus den vergangenen Stunden.