Ukraine-Krieg: Die Wahrheit, beschützt von einer Leibwache aus Lügen

Wolodymyr Selenskyj besucht Butscha, wo er mit Bewohner:innen und Journalisten spricht. Bild: Public Domain

Die Ukraine muss vollständig siegen, die Krim zurückerobert werden. Doch die Argumente sind scheinheilig. Fatales Kriegs-Framing und die Sicht des Globalen Südens.

Der jüngste Aufsatz von Anne Applebaum und Jeffrey Goldberg in The Atlantic, in dem sie zur uneingeschränkten Unterstützung der USA für den ukrainischen Versuch, die Krim zurückzuerobern, aufrufen, verdient eine Antwort. Nicht wegen seiner intellektuellen Qualität, sondern weil er viele Argumente, die zur Unterstützung eines vollständigen ukrainischen Sieges einschließlich der Rückeroberung der Krim vorgebracht werden – im Gegensatz zu der Suche nach einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen –, in einer komprimierten Form präsentiert.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft.

Teile ihres Berichts aus der Ukraine sind soweit korrekt. Von meinen eigenen Reisen kann ich die hohe Moral und Selbstaufopferung der ukrainischen Soldaten bestätigen, insbesondere derjenigen, die sich zu Beginn der russischen Invasion freiwillig zum Kampf gemeldet haben – zunächst ohne schwere Waffen. Das sind in der Tat sehr beeindruckende Menschen, vor allem im Vergleich zu den kriminellen Söldnern, die auf russischer Seite in der Wagner-Gruppe rekrutiert wurden.

Ein Großteil des Essays basiert auf einem Interview der Autoren mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Niemand sollte Präsident Selenskyj für Übertreibungen und Ausflüchte Vorwürfe machen. Er ist dazu verpflichtet.

Wie Winston Churchill bekanntlich sagte: "In Kriegszeiten ist die Wahrheit so kostbar, dass sie immer von einer Leibwache aus Lügen beschützt werden sollte." Man kann jedoch den US-Journalisten vorwerfen, dass sie solche Aussagen ungeprüft veröffentlichen.

Ihr Argument besteht aus drei Teilen. Das erste Argument, das wir aus jedem Konflikt kennen, in den die USA direkt oder indirekt verwickelt gewesen sind, lautet, dass es sich nicht um einen Territorialkrieg oder geopolitische Macht handelt, sondern um einen Krieg des absolut Guten gegen das absolut Böse. Selenskyj wird wie folgt zitiert:

Das ist ein Krieg um eine grundlegende Definition der Zivilisation ..., um allen anderen, einschließlich Russland, zu zeigen, dass man die Souveränität, die Menschenrechte und die territoriale Integrität respektiert; und dass man Menschen respektiert, sie nicht tötet, keine Frauen vergewaltigt und auch keine Tiere tötet.

Ein Teil davon ist selbstverständlich wahr: Russland hat mit der illegalen Annexion ukrainischen Territoriums gegen ein wichtiges internationales Recht und eine wichtige Norm verstoßen. Damit ist Russland auch weiter gegangen als (zum Beispiel) die Türkei bei ihrer Invasion und Teilung Zyperns im Jahr 1974.

Denn während die Türkei (wie Russland im Donbass von 2014 bis 2022) einen abtrünnigen, nicht anerkannten Staat in Nordzypern schuf, hat man das Gebiet nicht formell an die Türkei angegliedert. Dieser Unterschied mag akademisch anmuten, aber er ist wichtig.

Wichtig ist aber auch, dass die Türkei Mitglied der Nato war und ist, sodass die Grenzen zwischen "Zivilisation" und Barbarei in diesem Bereich eindeutig unschärfer sind, als Selenskyj, Applebaum und Goldberg annehmen.

Das gilt auch für die Gräueltaten. Meine eigenen Nachforschungen in Butscha und anderen Städten nördlich von Kiew haben bestätigt, dass es in großem Umfang zu außergerichtlichen Tötungen und Plünderungen durch russische Truppen sowie zu einzelnen Vergewaltigungen kam.

Ich habe jedoch nichts gehört, was ukrainische Behauptungen über Massaker oder organisierte Massenvergewaltigungen bestätigt. Auch internationale Ermittler haben keine unabhängigen (d. h. nicht aus offiziellen ukrainischen Quellen stammende) Beweise gefunden, die diese Behauptungen stützen. Zur angeblichen Deportation von Kindern kann ich mich auf Grundlage meiner eigenen Recherchen nicht äußern.

Ferner gab es in dieser Region einen zivilen Aufstand gegen die russische Besatzung, bei dem Zivilisten den ukrainischen Artillerieeinheiten direkt den Standort der russischen Truppen meldeten. Ein solches Verhalten ist eine bewundernswerte und moralisch gerechtfertigte Reaktion auf die russische Invasion.

Aber Truppen, die an der Aufstandsbekämpfung beteiligt sind, neigen generell zu einem brutalen Vorgehen gegen Zivilisten, die sie verdächtigen, ihren Feinden zu helfen, sie zu töten. US-amerikanische Truppen haben sich in ähnlichen Konflikten kaum als perfekt erwiesen.

Und als ehemaliger israelischer Wärter in einem Gefangenenlager für Palästinenser sollte Goldberg selbst wissen, dass bei der Aufstandsbekämpfung die Grenzen zwischen Demokratien und Diktaturen in der Tat sehr fließend sein können.