Ukraine-Krieg, Europa und die USA: Verlorene Jahre – und nun Realpolitik?

Bild (von Juli 2018): Weißes Haus

Wie geht es weiter nach der Zeitenwende 2.0? Die Politikwissenschaftler Christian Hacke und Herfried Münkler über das neue Verhältnis zum bisherigen Wertepartner USA.

Der Weg zum Frieden ist nicht mit Prinzipien gepflastert. Diese alte Einsicht außenpolitischer Realisten bestätigen die jüngsten Vorstöße der US-Regierung im Ukraine-Konflikt.

Keine Nato-Mitgliedschaft, massive Gebietsverluste, die militärische Neutralisierung der Ukraine und eine Ausplünderung der Bodenschätze des Landes – das Traurigste an der für die Ukraine traurigen neueren Entwicklung im Konflikt mit Russland ist, dass sie seit Beginn des Krieges vor drei Jahren absehbar war.

Und dass man dieses Ergebnis auch vor drei Jahren schon hätte haben können, vielleicht sogar ein besseres, in jedem Fall eines, bei dem weniger Menschen auf beiden Seiten des Krieges getötet worden wären und sich auch die Kosten, die ökonomischen und ökologischen, in Grenzen gehalten hätten.

Dazu hätte man im Westen allerdings mit weniger moralischem Starrsinn und "wertegeleiteter" Außenpolitik, dafür mit mehr diplomatischer Offenheit und vor allem Realismus agieren müssen.

Europäische Krokodilstränen und die von den USA propagierten Maximalziele

Jetzt ist es zu spät und die neue US-amerikanische Regierung unter Präsident Donald Trump tut genau das, wofür die Europäer drei Jahre lang Zeit gehabt haben. Und was tut Europa?

Es weint Krokodilstränen, trauert enttäuscht und begrifflich etwas hochtourig um das Ende der transatlantischen Partnerschaft und hofft heimlich schon auf Trumps Nachfolger in vier Jahren.

Aber erleben wir tatsächlich gerade eine "Zeitenwende 2.0"? Einen Abschied vom Westen, wie wir ihn kennen?

Oder ereignet sich nicht gerade eher das Wiederaufleben einer amerikanischen Führungsmacht, die lange vermisst wurde: die USA als Akteur, nicht nur als Garant europäischer Entwicklungen.

"Wir erleben die Zeitenwende der Zeitenwende", sagte jetzt der Hamburger Politikwissenschaftler Christian Hacke im Deutschlandfunk:

Alles was seit 2022 galt, wird nun auf den Kopf gestellt. Der Grund ist die Erfolglosigkeit der westlichen Ukraine-Politik, das muss man nüchtern erkennen.

Putin habe seine propagierten Ziele zwar nicht erreicht, der Westen habe sich aber in vor allem von den USA propagierten Maximalzielen verheddert. Die immer gewagte Rede vom "Sieg der Ukraine", von der Rückeroberung aller besetzten Gebiete bis hin zum "Regime change" in Moskau.

Derartige Pläne sind mit dem erzwungenen Ende der ukrainischen Gegenoffensive im Frühjahr 2023 gescheitert. Nicht zuletzt der Wechsel der Sprache westlicher Regierungen seitdem belegt, so Hacke, dass man in Europa und im Westen "völlig ratlos" geworden sei.

Sarkastisch und in offener Anspielung auf die Propaganda des NS-Regimes am Ende des Zweiten Weltkriegs spricht Hacke im Deutschlandfunk von "Durchhalteparolen und Wunderwaffen wie dem Taurus". Dies sei ein Rückzugsgefecht westlicher Kriegsrhetorik.

Diplomatie war das Unwort, auch in den Medien

Trump habe dieses Scheitern erkannt und versuche nun, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Das Problem sei jetzt, dass sich unter Trumps Führung ein "Ende der liberalen pax americana" andeute. Trump wolle zum Mächte-Konzert des 19. Jahrhunderts zurückkehren, zu einer Epoche, in der die Großmächte die Welt in Interessensphären aufgeteilt haben. "Hier werden völlig neue Linien gezogen."

Hacke kritisierte vor allem die Diskreditierung diplomatischer Anstrengungen, die gerade in Europa lange vorgeherrscht haben:

Seit drei Jahren sind diejenigen, die im Ukraine-Konflikt für Diplomatie eingetreten sind, schlecht gemacht worden und mundtot. Diplomatie war das Unwort, wir durften es gar nicht benutzen. Auch von den Medien sind diejenigen, die Verhandlungen gefordert haben, diskreditiert worden.

Die US-Führung war daran beteiligt:

Joe Biden hat nicht den Frieden gesucht nach Ausbruch des Krieges. Er wollte in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg führen, in der Tradition der Demokratisierung der Welt. Das ist in der Ukraine misslungen.

Europa sei derzeit außen vor.

Politischer Kulturbruch: Deutschland als Lieblingsgegner der USA

In einem weiteren Interview für tagesschau24 legt Hacke nach: "Wir beobachten fast schon einen politischen Kulturbruch zwischen den USA und Europa."

Deutschland sei vom Lieblingspartner der USA zum Lieblingsgegner geworden.

Hacke zweifelte auch daran, dass es außenpolitisch klug von einer deutschen Regierung sei, sich so hart gegen Donald Trump zu stellen.

Zwischen den Zeilen kann man Hacke so verstehen, dass er an eine Fortsetzung der transatlantischen Beziehungen glaubt und die These eines radikalen Bruchs zwischen ehemaligen Partnern nicht teilt:

Wir brauchen die USA auch unter Trump.

Im Interview mit der ARD kritisierte Hacke auch die Abwesenheit von Vertretern des BSW und der AfD auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Diese Parteien repräsentierten 25 Prozent der deutschen Bevölkerung.

Diese Parteien erzählen keinen Irrsinn im Hinblick auf den Ukraine-Krieg oder deutsche Außenpolitik. Manchmal habe ich den Eindruck, hier will ein geschlossener liberaler Club (...) die Diskussion über die Ukraine auch innerdeutsch vermeiden.

"Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zum Opfer unserer eigenen Propaganda werden"

Hacke plädierte auch für rhetorische Abrüstung und ein Ende der politischen Panikmache: "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zum Opfer unserer eigenen Propaganda werden."

Russland gewinne in der Ukraine nur sehr mühsam Quadratkilometer und sei gar nicht in der Lage, ein Nato-Mitglied anzugreifen. "Europa steht nicht eine Invasion Russlands vor."

Der Politikwissenschaftler empfiehlt der deutschen Öffentlichkeit mehr Differenzierung und Einsicht in eigene Fehler: "Wir sind nicht so sauber, wie wir tun, wir haben Fehler gemacht im Vorfeld des Ukraine-Kriegs."

Man müsse die Schwarz-Weiß-Sicht auf derartige Konflikte wie auf die US-Politik ablegen:

Die Farbe ist grau.

Unklar sei einstweilen, ob der Ukraine-Krieg tatsächlich in Verhandlungen, mit oder ohne Zutun der Europäer, entschieden wird, oder doch auf dem Schlachtfeld. Ohnehin aber sei klar: Das westliche Projekt Ukraine sei gescheitert.

Geopfert auf dem Altar geostrategischer Interessen des Westens werde die Ukraine auf absehbare Zeit kein unabhängiger Teil des westlichen Bündnissystems werden, sondern ein neutralisierter, in seinen Grenzen wie seiner Ökonomie verstümmelter Staat – hochverschuldet und mit einer ausgebluteten Bevölkerung.

"Der transatlantische Westen ist ein Auslaufmodell"

Andere Politikexperten sehen die Beziehungen zwischen den USA und Europa deutlich pessimistischer.

"Der transatlantische Westen ist ein Auslaufmodell" folgert der Berliner Politologe Herfried Münkler in einem ausführlichen Gespräch der Reihe "Interview der Woche" am Wahlsonntag im Deutschlandfunk: Die USA hätten schon vor Präsident Trump die Sicherheitsgarantien für Europa infrage gestellt. Daran werde sich auch nach Trump nichts mehr ändern.

Die geopolitische Strategie Russlands beschreibt Münkler ähnlich wie die Mehrheit seiner Kollegen als "neoimperial" und an einer Wiederbelebung des zaristischen Imperiums ausgerichtet. Putin und die russische Politik seien von der Vorstellung beherrscht, Ostmitteleuropa komme wieder unter russische Kontrolle.

Den Rest Europas können Frankreich und Deutschland dominieren, allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die USA aus Europa zurückgezogen haben. Das könnte er ja jetzt bekommen. ... eine solche Konstellation würde heißen, dass letzten Endes die Europäer permanent russischen Erpressungen nuklearer Art ausgesetzt sind und dass Putin bestrebt ist, sie wieder in wirtschaftliche Abhängigkeit vor allen Dingen von Rohstofflieferungen und Energieträgern zu bringen.

Vor diesem Hintergrund werde die gegenwärtige Nato keinen Bestand haben.

Die Europäer wären schlecht beraten, wenn sie die Politik fortsetzen, die die Bundesregierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte betrieben haben, weil sie gesagt haben, eine Verteidigbarkeit Europas ohne die USA ist gar nicht möglich und auch nicht wünschenswert.

Forderung nach gemeinsamer atomarer Bewaffnung in Europa

Heute nun bedürfe es einer gemeinsamen Abschreckungsfähigkeit der EU und anderer europäischer Nato-Staaten, sagte Münkler. Der Politikwissenschaftler fordert daher eine gemeinsame atomare Bewaffnung in Europa. Sie müsse umfassender sein als die britischen und französischen Atomstreitkräfte.

Denn auf die USA sei in der Hinsicht auch unter anderen zukünftigen Regierungen kein Verlass mehr.

Ich glaube, dass der Westen oder der transatlantische Westen als geopolitischer Akteur ein politisches Auslaufmodell ist. Das wird man wohl sagen müssen. (...) Die USA werden sich zunehmend von Europa lösen und China zuwenden.

Und in mancher Hinsicht kann man sagen, Trump hat wohl ein Interesse daran, die Bindungen in Europa qua Ukraine-Krieg möglichst schnell zu beenden, um die Auseinandersetzung mit China in großem Stil führen zu können.

Umgekehrt rät Münkler den Europäern nun, sich nicht in einen Konflikt der USA mit China hineinziehen zu lassen:

Wenn die Europäer klug sind, dann werden sie sich überlegen, ob sie das auch in München gemachte Angebot des chinesischen Außenministers, unter diesen Umständen China stärker ins Spiel zu bringen, nicht annehmen sollten.

Es ist nötig, sich zur Realpolitik zu bekennen

Was bedeutet das alles für eine europäische und deutsche Außenpolitik?

Beide außenpolitische Experten sind sich stellvertretend auch für andere Kollegen einig. Deutschland hat seine Aufgabe innerhalb Europas überhaupt noch nicht angenommen.

Es hilft in der Gegenwart aber nicht mehr, dass man alles, was mit Machtpolitik, mit Realismus und mit Kompromissen zu tun hat, als "Neoimperialismus" bezeichnet und entsprechend abtut.

Es ist vielmehr auch für eine zukünftige Bundesregierung wie für die Europäische Kommission nötig, sich zur Realpolitik zu bekennen, also zur Verfolgung politischer und ökonomischer Interessen auch unter Aufgabe abstrakter moralischer Prinzipien. Tatsächlich tun das die Akteure längst. Aber sie tun es zaudernd und mit schlechtem Gewissen.

Realpolitik bedeutet, dass es eben nicht Priorität der Europäer ist, wie es Grünen-Chef Felix Banaszak im Achtsamkeitsdeutsch formuliert, ein "glaubwürdiger Partner des Globalen Südens" zu sein, sondern dass die Priorität darin besteht, dass man gemeinsam mit anderen größeren Mächten Europas eine Verteidigungstruppe aufbaut, die in eine "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" der Zukunft mündet.

Dies wollten Teile der westdeutschen Politik bereits in den 1960er-Jahren. Man hat seitdem genug Anlass gehabt, zu begreifen, dass die US-Amerikaner kein Wertepartner sind, auf den man sich bedingungslos verlassen kann, sondern bestenfalls ein bedingter und temporärer Partner in gemeinsamen Interessen.

Fatale Paarung aus Neoimperialismus und Neoidealismus

Schon George W. Bush hatte sich im "War against Terror" von Europa distanziert, Barack Obama hat sich im Rahmen seiner "pivot to asia"-Strategie von Europa distanziert.

Gerade die gesamte US-Politik unter Obama, die der Versuch war, im Pazifikraum, in Ostasien und China und Russland gegenüber selbst Neoimperialismus zu betreiben, aber den Arabern und den Ländern des Globalen Südens gegenüber Neoidealismus.

Dies war eine Katastrophe für Europa, die die Ursache der Krisen des letzten Jahrzehnts gewesen ist: Die fatale Unterstützung des "Arabischen Frühlings". Die Flüchtlingsbewegungen aus Schwarzafrika wurden nicht mehr durch das Bollwerk der Maghreb-Staaen abgehalten.

Sie wurden im Gegenteil durch den von den USA ermunterten Bürgerkrieg in Syrien, die von den USA ermunterten "regime changes" in Ägypten und Libyen verstärkt und der Zusammenbruch der arabischen "Grenzwächterstaaten" noch verstärkt.

Auch Joe Biden hat die Europäer mit einem überhasteten und im Ergebnis katastrophalen Afghanistan-Abzug im Stich gelassen.

Jetzt tut es Donald Trump auf die ihm eigene Weise.