Ukraine-Krieg: Nukleare Eskalation unwahrscheinlich – und doch wahrscheinlicher

Seite 2: Gefahr der Panik

Für diejenigen, die mit Atomwaffen drohen, es aber vermeiden, über die Folgen für Russland selbst zu sprechen, hat der Aufstand Anlass geboten, über die Reaktion der russischen Gesellschaft auf extreme Ereignisse zu beobachten. Sobald die Menschen merken, dass das Geschehen nicht nur ihr Wohl im Allgemeinen, sondern auch ihre physische Sicherheit im Konkreten bedroht, beginnen sie schnell, unkontrolliert und massenhaft zu handeln.

Als die Nachricht vom Wagner-Aufstand die Runde machte, kauften Zehntausende Moskauer Flugtickets für die nächsten Tage, und einige wichtige Beamte und Geschäftsleute verließen die Stadt eilig mit Privatflugzeugen oder bereiteten sich auf andere Fluchtwege vor.

Eine nukleare Eskalation – selbst auf der Ebene der Rhetorik – würde bei denjenigen, die sich theoretisch ein Flug- oder Bahnticket leisten könnten, noch heftigere Reaktionen provozieren.

Schon der Versuch, sich an den Rand eines Atomkrieges zu manövrieren, würde in Russland eine gesellschaftliche Dynamik auslösen, die um ein Vielfaches stärker wäre als die, die während des Prigoschin-Aufstandes zu beobachten war.

Wenn Russland eines der europäischen Nato-Mitglieder angreift – wie der Vorsitzende des Thinktanks Rat für Außen- und Verteidigungspolitik, Sergej Karaganow, vorschlägt–, könnten Gegenangriffen auf die dichtbesiedelten Gebiete Russlands die Antwort sein.

Auch nur Gerüchten über einen wahrscheinlichen nuklearen Angriff durch Moskau würde im Land selbst Panik auslösen. Die Folgen für die russischen Großstädte wären verheerend.

Die russische Militärdoktrin sieht den Einsatz von Nuklearwaffen nur in Ausnahmefällen vor, wenn Russland bereits mit Nuklearwaffen angegriffen worden ist, etwa, oder wenn sein Überleben als Staat auf dem Spiel steht.

In einem Krieg gegen eine atomwaffenfreie Ukraine würde die Unterstützung der russischen Öffentlichkeit für einen nuklearen Erstschlag vom Konsens über den Grad der Bedrohung abhängen.

Nach Angaben des Umfrageinstituts Русское поле (Russisches Feld) halten drei Viertel der Befragten (74 Prozent) den Einsatz von Nuklearwaffen zur Beendigung einer militärischen Aktion für inakzeptabel. 16 Prozent der Befragten halten den Einsatz solcher Waffen im Krieg grundsätzlich für akzeptabel, während fünf Prozent der Meinung sind, dass ein solcher Schritt nur bei einer drohenden Niederlage legitim sei.

Daraus lassen sich wichtige Schlüsse ziehen. Es ist unwahrscheinlich, dass weite Teile der russischen Gesellschaft das "Überleben des Staates" (wie es im Kreml verstanden wird) für wichtiger halten als ihr eigenes physisches Überleben. Und es ist unwahrscheinlich, dass sie in den Aktionen der ukrainischen Streitkräfte und in der Existenz der Ukraine als solcher eine direkte Bedrohung ihres Lebens sehen.

Die Bürger Russlands, selbst diejenigen, die die sogenannte Spezialoperation unterstützen, sind nicht auf das hohe Risiko vorbereitet, sofort oder später durch einen Atomkrieg oder eine von Menschen verursachte nukleare Katastrophe zu sterben.

In ihrer Unterstützung oder Neutralität gegenüber den Handlungen der russischen Behörden gehen sie davon aus, dass eine "begrenzte Militäroperation" für sie selbst relativ sicher ist.

Selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte die Februar-Linie 2022 erreichen sollten, würde dies für die große Mehrheit der Russen keine offensichtliche Bedrohung des persönlichen Überlebens darstellen und die Russen nicht davon überzeugen, dass eine von Menschen verursachte nukleare Katastrophe notwendig ist.

Die Drohung, in einer solchen Situation Nuklearwaffen einzusetzen, würde von der russischen Öffentlichkeit und Bürokratie wahrscheinlich als Zeichen einer unfähigen russischen Führung interpretiert werden.

Und selbst wenn die Propaganda bis zu einem gewissen Grad funktioniert, ist eine Massenflucht aus den Großstädten fast unvermeidlich, und die Eliten sowie führende Akteure der Bürokratie könnten dem Kreml die Unterstützung verweigern.

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