Ukraine-Krieg: Propagandaschlacht um die Gefallenen der Ukraine und Russlands
Unklare Grenzen zwischen Fakten und Propaganda. Kampf um Zahl der Toten und Zerstörung von Gerät. Menschen und Wahrheit werden zu Opfern einer bitteren Realität.
Eines der kompliziertesten Themen des Krieges in der Ukraine ist die korrekte Erfassung der Verluste an Menschenleben und Kriegsmaterial. Beide Kriegsparteien bauschen die Verluste des Gegners auf – und spielen die Zahl der eigenen Gefallenen herunter.
Auch missbrauchen beide Seiten die Verluste des Gegners für die eigene Propaganda, obwohl es um die Vernichtung von Menschenleben geht. Unabhängige Schätzungen oder gar belegbare Zahlen sind selten. Praktisch jede Quelle in diesem Krieg steht einer der beiden Seiten nahe.
Experten, die für sich in Anspruch nehmen, präzise Zahlen aus Vor-Ort-Analysen zu liefern, sind in diesem Meinungskampf die beste Quelle. Denn sie haben nicht nur einen Ruf zu verlieren, wenn sie ihre Veröffentlichungen zu sehr an politischen Wunschvorstellungen ausrichten. Zudem laufen sie Gefahr, bei allzu offensichtlicher Manipulationen von der einen oder anderen Seite zu Propagandazwecken missbraucht zu werden.
Mindestzahlen russischer Verluste
Eine vergleichsweise verlässliche Angabe ist die nachgewiesene Mindestzahl der Gefallenen, sofern sie gewissenhaft erfasst wird. Sie ergibt sich aus öffentlichen Quellen wie Todesanzeigen und Nachrufen. Für die russischen Gefallenen übernimmt diese Arbeit die exilrussische Online-Zeitung Media.zona. Die Rechercheure rekrutieren sich aus russischen Kriegsgegnern, viele von ihnen im Exil, die das russische Internet und russische Medien durchforsten.
Mit Stand vom 29.12.2023 beklagt Russland nach dieser Zählung mindestens 40.599 dokumentierte und namentlich bekannte Gefallene im Ukraine-Krieg. Davon sind knapp 5.000 Wehrpflichtige, der Rest Berufssoldaten und Freiwillige.
Das zweite Kriegsjahr verlief diesen Zahlen zufolge für Russland blutiger als das erste Jahr. Ende 2022 wies die Liste noch etwa 10.000 Einträge auf.
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Man kann also davon ausgehen, dass die Russen im zweiten Kriegsjahr wesentlich mehr Soldaten verloren haben als in den ersten zwölf Monaten. Die britische BBC, die mit Media.zona zusammenarbeitet, führt dies vor allem auf die aktuelle Winteroffensive der Russen zurück, die weitgehend ohne Rücksicht auf Verluste geführt wird. Aus der Schlacht um die ostukrainische Kleinstadt Awdijiwka werden immer wieder hohe Verlustzahlen gemeldet.
Bei der Aufstellung von Media.zona handelt es sich um eine Mindestzahl. Nicht für jeden Soldaten wird schließlich ein Nachruf oder eine Todesanzeige veröffentlicht. Darauf weist auch das Portal selbst hin.
Die BBC schätzt anhand von Bestattungsstatistiken, dass nur etwa die Hälfte der Kriegstoten bekannt wird. Die Gesamtzahl beliefe sich damit auf etwa 80.000 russische Gefallene. Hinzu kämen gut 20.000 Ukrainer, die in den besetzten Gebieten rekrutiert worden sind und auf russischer Seite gekämpft haben.
Mindestzahlen ukrainischer Verluste
Einen ähnlichen Anspruch wie Media.zona erhebt für die Ukraine das in Kiew ansässige Memory Book of the Fallen for Ukraine. Hier werden auch die veröffentlichten Todesfälle erfasst.
Dies geschieht jedoch auch für eine patriotische Online-Ruhmeshalle der Verteidiger der Ukraine mit Fotos, nicht aber – wie bei den russischen Kriegsgegnern und Media.zona – zur Dokumentation eines Kampfes, den man selbst ablehnt.
Die Autoren des Memory Book stehen in Verbindung mit ukrainischen Behörden, auch wenn sie sich als unabhängig bezeichnen. Auf ihrer Homepage finden sich Danksagungen an Abteilungen der ukrainischen Streitkräfte und das Motto "Ehre der Ukraine".
Ukraine: 70 Prozent der Verluste werden wohl erfasst
Im November 2023 wurde bekannt gegeben, dass die Aufstellung etwa 24.500 Namen enthalte. Die Verantwortlichen schätzten auf dieser Basis, dass rund 30.000 Ukrainer gefallen seien, da sie etwa 70 Prozent der Verluste tatsächlich erfassen würden. Außen vor bleiben etwa Vermisste, die mehrheitlich ebenfalls tot sein dürften.
Diese Zahl ist jedoch aufgrund der Verbindungen der Organisatoren zu ukrainischen Regierungsstellen mit Vorsicht zu genießen. Denn diese haben gerade im Sinne der Kampfmoral kein Interesse daran, möglichst hohe oder vollständige Zahlen von Gefallenen öffentlich zu machen.
Auch die New York Times schätzte bereits im August 2023, dass bisher etwa 70.000 Ukrainer im Krieg getötet worden sind. Nach Abzug von etwa 10.000 toten Zivilisten verblieben 60.000 Gefallene – also doppelt so viele wie im "Memory Book" wenige Monate später auftauchten.
Zahlen von Gefallenen: Kaum Rückschluss auf militärische Perspektive
Dies zeigt, wie schwierig es ist, aus den recherchierten Gefallenenzahlen Rückschlüsse auf das militärische Geschehen und die Perspektive des Krieges zu ziehen. Denn die Motivation der Rechercheure und ihre Zuverlässigkeit spielen immer eine Rolle.
Zwar dürften nach allen Quellen die russischen Verluste höher sein als die ukrainischen. Russland ist der Angreifer, nimmt bei offensiven Operationen praktisch keine Rücksicht auf Verluste. Die Ukrainer setzen zumindest teilweise westliches Militärgerät ein und gerade bei Panzern spielt das für den Schutz der Besatzungen bei Treffern eine große Rolle.
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Dennoch lässt sich aus Gefallenenzahlen kein Vorteil für Kiew ableiten. Zum einen sind diese Angaben, wie beschrieben, nur vage. Das Verhältnis zwischen ukrainischen und russischen Verlusten variiert je nach Schätzung zwischen 3:4 und 1:3.
Bei der ersten Konstellation würden im gegenwärtigen Abnutzungskrieg auf ukrainischer Seite die Soldaten zuerst ausgehen, beim zweiten Verhältnis nicht. Russland hat ein etwa dreimal so großes Rekrutierungspotenzial. Und ein Sieg würde verlustreiche ukrainische Offensiven voraussetzen, die derzeit nicht in Sicht sind.
Verluste an militärischem Gerät
Was für die Gefallenen gilt, gilt auch für das zerstörte militärische Großgerät. Verlässliches Datenmaterial ist von den Kriegsparteien selbst nicht zu erhalten, da dort die Kampfmoral über der Wahrheitstreue rangiert.
Viele Vergleiche von Verlusten an Großgerät in Medienberichten basieren auf einer täglichen Sammlung des Internetportals Oryx. Es führt zwei Listen. In der ersten dieser Listen sind aktuell 13.728 russische, auf der anderen 4.914 ukrainische Verluste an Kampffahrzeugen aufgeführt. Dabei handelt es sich nicht nur um komplett zerstörte Geräte, sondern auch um beschädigtes und zurückgelassenes Material.
Oryx hat seinen Sitz in den Niederlanden und stützt sich auf visuelle Beweise und Open-Source-Informationen. Wie bei den Gefallenenlisten handelt es sich also um Mindestangaben über dokumentierte Zerstörungen, die von westlichen Experten oft als zuverlässig angesehen werden.
Oryx Teil des umstrittenen Projektes Bellingcat
Oryx ist nicht neutral, die beiden Gründer der Website sind Teil des Recherchenetzwerks Bellingcat, das sich bei Recherchen schon mehrfach mit Russland angelegt und vorab in anderen Fällen Falschinformationen verbreitet hat.
Ob man dem Oryx-Netzwerk zutraut, russische und ukrainische Verluste mit gleichem Eifer zu recherchieren, ist fraglich. Die Dokumentation jedes einzelnen Falles steigert jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass die angegebenen Verluste echt sind.
Geht man von einer korrekten Erfassung aus, so verliert Russland gegenüber der Ukraine Militärtechnik im Verhältnis von knapp 3:1.
Russland hat viel mehr Militärgerät
Das klingt aus ukrainischer Sicht sehr positiv. Man muss aber bedenken, dass Russland nach Daten des Statista Research Department 2023 mehr als sechsmal so viele Panzer und selbstfahrende Artillerie sowie mehr als viermal so viele gepanzerte Fahrzeuge besaß.
Wer also bei anhaltender Entwicklung tatsächlich auf der Siegerstraße landet, hängt vor allem davon ab, wie schnell die Verluste ausgeglichen werden können.
Wer dennoch ukrainische Siegesluft wittert, weil die Kiewer Truppen nun teilweise mit moderner westlicher Militärtechnik kämpfen, sei an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Damals setzte Nazi-Deutschland unter verschiedenen Raubkatzen-Namen ebenfalls technisch hoch entwickelte Panzer ein.
Diese konnten jedoch die größte Niederlage in der Geschichte der deutschen Wehrmacht nicht verhindern.