Ukraine-Krieg: Putin sitzt am längeren Hebel
Bild (2018): Kremlin.ru / CC BY 4.0 Deed
Das Ende der liberalen Weltordnung – und niemand hält es auf. Carlo Masala im Gespräch. Analyse.
Die Welt erlebe gerade mit dem absehbaren Ende des Ukraine-Kriegs das Ende der "liberalen Weltordnung", der transatlantischen Beziehungen in ihrer gewohnten Form und dazu "tektonische Verschiebungen" auf internationaler Ebene, sagt Carlo Masala, Politikwissenschaftler aus München.
Allerdings bedeute dies keineswegs, so betont Masala, wie von manchen jetzt mit meist negativer Konnotation behauptet, eine Rückkehr zur Kongresspolitik des 18. und 19. Jahrhunderts.
Im 21. Jahrhundert werden sich die kleineren Mächte den Entscheidungen der Großen nicht mehr fügen, sondern "Widerstand gegen diese neue Weltordnung leisten", mit unabsehbaren Folgen, so der Militärexperte.
Jenseits von Links-Rechts, von Moral-Amoral
Carlo Masala, Professor für Politik an der Bundeswehr-Universität München und einer der führenden deutschen Militärexperten, ist seit Beginn des Ukraine-Konflikts einer der gefragtesten Gesprächspartner der öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland.
Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Masala einerseits der Politik des kühlen Realismus im Gefolge von Machiavelli, Morgenthau und Kissinger verpflichtet ist, andererseits im Ukraine-Konflikt immer die Position der Ukraine verständnisvoll begleitet und deren Souveränität verteidigt hat.
Zudem argumentiert Masala fern aller Putin-Verklärung grundsätzlich russlandskeptisch. Außerdem verfügt der Politikwissenschaftler über das Talent, sich auf neue Lagen schnell einstellen zu können und originelle Gedanken jenseits des Links-Rechts- und Moral-Amoral-Schemas zu formulieren.
Deswegen ist er nicht nur in Deutschland gefragt, sondern auch beispielsweise in Österreich. Dort äußerte sich Masala jetzt in der Hauptnachrichtensendung des österreichischen Fernsehens Zeit im Bild 2 (ZIB 2) bemerkenswert freimütig und desillusionierend zu den neuesten Entwicklungen nach der Münchner Sicherheitskonferenz und im Dreiecks-Verhältnis Amerika – Europa – Russland.
"Für Russland drängt die Zeit nicht"
"Wenn der amerikanische Präsident dem russischen Präsidenten all das gibt, was der russische Präsident will, dann wird es sehr schnell zu einem Waffenstillstand kommen", sagt Masala zu Beginn des Gesprächs.
Sollte das nicht der Fall sein, würden die Verhandlungen dagegen lange dauern, denn Russland habe alle Trümpfe in der Hand und werde diese ausspielen. Es gebe ein Ungleichgewicht der öffentlich geweckten Erwartungen: Allein Donald Trump müsse ein schnelles Ergebnis erzielen, weil er das schon im Wahlkampf versprochen hat:
Für Russland drängt die Zeit nicht, aber sie drängt für die USA, weil der Präsident ein Ergebnis versprochen hat.
So könne Wladimir Putin die Verhandlungen gegebenenfalls verzögern oder sogar abbrechen. Nichts könnte ihn hindern, den Krieg, indem er zurzeit die Initiative und langfristig die größeren Ressourcen hat, weiterzuführen.
Die USA hätten dagegen unter Donald Trump ohne Not Positionen preisgegeben und genau den Forderungen zugestimmt, die Putin gestellt hat.
Die Normalisierung der Beziehungen zu Russland
Nun könnte man natürlich auf diese Argumentation zugunsten der USA erwidern: Wer Verhandlungen will und Kompromisse will, sollte der gegnerischen Partei entgegenkommen.
Niemand, auch nicht Carlo Masala, weiß zudem, ob es im Hintergrund nicht möglicherweise Vereinbarungen der Art gibt: Wir geben euch die Krim und andere Gebiete, aber dafür müsst ihr uns auch etwas geben.
Ob das der Fall ist, kann nur die Zukunft weisen. Was aber umgekehrt klar zu sein scheint, ist: Wenn man Russland nicht entgegenkommt, wird es schwer werden, mittelfristig einen Frieden zu erzielen. Denn wie Masala richtig analysiert, gibt es für die Russen keinen Grund, im Augenblick, in dem sie die Initiative haben, auf westliche Positionen einzuschwenken und eine Verhandlungslösung voranzutreiben.
Dass die USA Druckmittel gegen Russland einsetzen, über wirtschaftliche Sanktionen oder über militärische Hilfe für die Ukraine, sei momentan überhaupt nicht erkennbar, so der Politikwissenschaftler:
Was wir sehen ist ganz einfach, dass Trump den Forderungen Putins nachkommt und vor allen Dingen eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland anstrebt, also amerikanische Firmen wieder schnell in Russland haben will. Es ist die Rede von gemeinsamen Deals über Öl.
Von daher kommt der amerikanische Präsident dem russischen weitestgehend entgegen und stellt keine eigenen Forderungen.
Masala äußert sich leider nicht zu der Frage, ob eine hier skizzierte neue Gleichgewichtspolitik und eine solche Normalisierung des Verhältnisses mit Russland denn wünschenswert wäre. Und unter welchen Bedingungen sie wünschenswert und möglich wäre.
Vielmehr beharrt er auch in diesem Gespräch auf der augenblicklichen "Unmöglichkeit" einer solchen Normalisierung.
Ein Fahrplan für die Ukraine und die Delegitimierung Selenskyjs
Für die Ukraine, so der Münchner Politikwissenschaftler, sei wohl von der US-Regierung wie von der russischen Führung ein klarer "Fahrplan" für das weitere Vorgehen der nächsten Monate vorgesehen:
Eine Einigung zwischen den USA und Russland, dann Neuwahlen in der Ukraine und dann mit einem möglicherweise neuen Präsidenten dieses Waffenstillstandsabkommen unterschreiben zu lassen. Die Delegitimierung Selenskyjs passt da ins Bild, denn sowohl Trump als auch Putin wollen eigentlich nicht mit Selenskyj verhandeln. Sie wollen ihn nicht als Verhandlungspartner und vor allen Dingen nicht als denjenigen, der dann ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet.
Ob einem diese großmachtpolitische Skizze nun zusagt oder nicht, so widerlegt Carlo Masala hier implizit all jene westlichen Beobachter, die dem außenpolitischen Vorgehen der US-amerikanischen und der russischen Regierung weiterhin gerne Irrationalität, ideologische Verbohrtheit oder gar bloßen Voluntarismus unterstellen.
Viel mehr ist auch Masala der Ansicht, dass beide Staaten auf der Basis kühler diplomatischer Interessenpolitik agieren.
Europäische Nibelungentreue gegenüber der Ukraine
Ein solches Waffenstillstandsabkommen werde allerdings, so Masala, kaum nachhaltig sein. Denn es müsse garantiert werden – und weder das Modell einer Absicherung durch europäische Mittelmächte, noch durch eine vom UNO-Sicherheitsrat mandatierte internationale Schutztruppe, etwa Brasilianer, Pakistaner und Chinesen – könne langfristig funktionieren.
"Das wird kein abschreckendes Mandat."
Einer rein europäischen Truppe fehlten die US-amerikanischen Sicherheitszusagen.
Das heißt, in beiden Fällen werden wir keine abschreckende Wirkung auf einen möglichen Bruch des Waffenstillstands seitens Russlands haben. Und das spielt natürlich Russland in die Hände.
Hier müsste man nachfragen, wieso Marsala gesprächsweise einen möglichen Bruch des Waffenstillstands allein durch Russland insinuiert? In solchen Formulierungen bedient er das einseitige antirussische Narrativ der abgewählten Biden-Regierung und der europäischen Nato-Staaten.
Oder ist ein Bruch des Waffenstillstands durch die Ukraine denn von vornherein per se ausgeschlossen? Hätte die Ukraine nicht sehr wohl unter Umständen gerade dann ein Interesse daran, einen Konflikt zu schüren, wenn dieser mit einem aus ihrer Sicht unbefriedigenden Waffenstillstand stillgestellt worden ist?
Auch die gegenwärtige Rolle Europas skizziert Masala einseitig pessimistisch als reine "Zuschauerrolle". Dabei könnte Europa darauf drängen, bei den Verhandlungen mit am Tisch zu sitzen.
Aber Masala vertritt hier eine unflexible Position:
Die einzige Möglichkeit, die Europa hat, ist ... sehr klar zu machen, dass man, was immer Präsident Selensky entscheiden wird, vorbehaltlos unterstützt. ... Wenn Europa mit den USA und Russland mit am Tisch sitzt, dann wird auch über die Köpfe der Ukraine hinweg verhandelt. Also: es sollte das Prinzip gelten: keine Verhandlungen ohne Ukraine; keine Einigung ohne Ukraine.
Ist eine solche Nibelungentreue gegenüber der Ukraine tatsächlich im europäischen Interesse?
"Das ist keine Panikmache. Es ist die Realität.
Auf die Frage der ZIB2-Moderatorin, ob man ihm seine Argumentation nicht "als Panikmache ausgelegt werden könnte", antwortete Masala pessimistisch:
"Das ist keine Panikmache. Es ist die Realität."
Russland habe immer wieder Gewalt eingesetzt, um seine Ziele zu verfolgen. Das weitergehende Ziel der Russen sei, "die europäische Sicherheitsarchitektur, so wie sie sich nach 1990 entwickelt hat, rückabzuwickeln. Und beiden Zielen kommt Putin jetzt einen großen Schritt näher."
"Stand heute" müsse man davon ausgehen, dass wir das Ende der transatlantischen Beziehungen, wie sie seit 1945 ausgestaltet wurden, erleben.
Stand heute muss man davon ausgehen, dass sich auf der internationalen Ebene tektonische Verschiebungen ereignen. Die eigentlich das Ende der alten Nachkriegsordnung, der sogenannten liberalen Weltordnung einläuten.
Die Folge sei die Rückkehr zur Kabinettspolitik, wie man sie im 18. und 19. Jahrhundert gepflegt habe:
Dass die Großmächte untereinander entscheiden, wie die Welt geordnet wird in der Vorstellung, dass die Kleinen sich dann fügen müssen.
Aber der Unterschied sei im 21. Jahrhundert der, "dass die Kleineren sich nicht mehr fügen werden – nicht alle –, sondern Widerstand gegen diese neue Weltordnung leisten werden, mit Folgen, die wir noch nicht absehen können."
Masala ließ offen, ob er hier an konkurrierende Großmächte wie China denkt, an anarchistische Staaten wie Nordkorea, an assymetrische Terrormilizen wie die Hamas, oder an Freischärler, wie sie gerade im Kongo gegen die Hauptstadt vordringen.
Dieser letzte Ausblick wird dann in Zukunft genauer zu analysieren sein. Fürs Erste tobt weiterhin ein blutiger Krieg an den Rändern Europas. Soll er nicht jahrelang "ausbrennen" in der ständigen Gefahr, auf Nachbarländer überzugreifen, muss er von außen beendet werden. In der Medizin muss man gelegentlich ein Glied amputieren, um den Körper zu retten. Ist dies keine gültige Analogie im Politischen? Oder nur eine sehr unangenehme Wahrheit?