Ukraine-Krieg: Russischer Durchbruch in Awdijiwka – Verteidigung vor dem Kollaps?
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Die Lage verschärft sich. Warum die Stadt demnächst an die russische Armee fallen könnte. Was die Kommunikation über das Kriegsgeschehen bedeutet, erklärt unser Autor.
In Awdijikwa konnte die russische Armee jetzt die seit 2014 bestehenden südlichen Hauptverteidigungsstellungen der Stadt durchbrechen – die ukrainische Armee steht in der umkämpften Stadt vor dem Kollaps.
Sah es zu Beginn des Sturms auf die ukrainische Festungsstadt noch so aus, als würde der russische Hauptstoß vom Norden her erfolgen, so ist nun ein regelrechtes Aufrollen der ukrainischen Stellungen vom Süden her zu beobachten.
Erst im Dezember konnten russische Truppen wichtige Etappenerfolge erzielen und mehrere stark befestigte Stellungen im Süden erstürmen, die ebenfalls von der ukrainischen Armee bereits seit 2014 kontinuierlich angelegt, ausgebaut und gehalten werden konnten.
Nahaufnahme: Die Lage in Awdijiwka
Da ist als Erstes das südliche Industrieviertel von Awdijiwka zu nennen. Des Weiteren konnte die stark befestigte Datschensiedlung "Weinberge" eingenommen werden. Auf den Luftaufnahmen von Google Maps sind deutlich die weitläufigen Grabennetzwerke zu erkennen.
Doch es blieben zwei wichtige Pfeiler der ukrainischen Südverteidigung von Awdijiwka operabel: Das war zum einen die Verteidigungsstellung rund um das ehemalige Ausflugslokal "Zarenjagd", und zum anderen die ehemalige Luftabwehrstellung.
Beide Festungssystem waren gut ausgebaut. Russischen Streitkräften gelang zunächst die Einnahme der Stellungen rund um das Ausflugslokal. Danach stießen sie weiter nach Norden vor und konnten sich in der Zunge festsetzen, die die drei Straßen Vulytsia Soborna, Sportyvna Straße und Chernyshevs'koho Straße bilden.
Dieser Vorstoß brachte die ehemalige Luftabwehrstellung in die Gefahr, von russischen Truppen eingekesselt zu werden. Anscheinend hat die ukrainische Führung darauf reagiert und die eigenen Truppen weitestgehend von dort in Richtung Norden abgezogen.
Nachrückende russische Kräfte konnte die ehemalige Flugabwehrstellung erst gestern erobern.
Ukrainische Verteidigung in Bedrängnis
Der Fall der beiden Abwehrstellungen bringt die ukrainische Verteidigung nun aber massiv in Bedrängnis. Denn jetzt gibt es im Süden nur noch eine weitere Datschensiedlung, die zu einer Verteidigungsstellung ausgebaut wurde.
Und zusätzlich bringt der russische Durchbruch Moskaus Truppen gefährlich nahe an das 9. Quartier, nur noch 650 Meter ist die nordwestlichste Spitze der eroberten, oben genannten Drei-Straßen-Zunge vom 9. Quartier entfernt.
Dieses 9. Quartier ist eine Chruschtschowka-Siedlung, besteht also überwiegend aus fünfstöckigen Plattenbauten (Erdgeschoss mitgezählt) vom Typ Chruschtschowka. Dieses Quartier Awdijiwkas bildet zusammen mit der riesigen Kokerei AKHZ im Norden der Stadt die beiden Eckpfeiler der Stadtverteidigung.
Fällt eins der beiden Bollwerke, so ist die Stadt dem Untergang geweiht, da von beiden Bollwerken aus die Versorgungsstraßen der Festung unter Sperrfeuer genommen werden können.
Warum Beton wichtig ist
Awdijiwka ist viel kleiner als Bachmut. Es besteht größtenteils aus Einfamillienhäusern und Datschen. Nur die AKHZ-Kokerei, das 9. Quartier und ein verhältnismäßig kleiner Streifen südlich der Bahngleise des Bahnhofs von Awdijiwka, der sich nördlich an das 9. Quartier anschließt, bieten noch gute Verteidigungsmöglichkeiten – der Rest der Stadt besteht tatsächlich ausschließlich aus aufgelockerter Bebauung, eben aus Einfamilienhäusern und Datschen.
Und grob kann man sagen: Je mehr Beton verbaut worden ist, desto besser lassen sich urbane Räume verteidigen. So ist es offensichtlich, dass eine Datschensiedlung dem Verteidiger weniger Schutz bietet als etwa ein Industriegigant wie eine Kokerei. Eine Einfamiliensiedlung weniger als eine Plattenbausiedlung.
Schwierigkeiten des Angreifers
Gut lässt sich auf dem folgenden Video sehen, wie schwer es der Angreifer selbst mit großen und schweren Gleitbomben hat, Schäden an Schwerindustrie-Architektur zu erzielen. Es handelt sich bei dem im Video eingesetzten Wirkmittel vermutlich um eine 1,5 Tonnen schwere FAB 1500 Bombe mit Gleitrüstsatz.
Doch das bedeutet nicht, dass nicht auch dörfliche Bebauung stark befestigt werden kann. Im nördlich gelegenen Dorf Stepove leisten ukrainische Truppen seit Beginn des Sturms auf Awdijiwka hartnäckig Widerstand.
Das Dorf scheint allerdings auch über Jahre gut auf einen Angriff vorbereitet worden zu sein, es wird von weitläufigen und gut getarnten Tunnelsystemen berichtet.
Oberst Reisner: Gefährliche Zuspitzung
Der österreichische Oberst Markus Reisner kommentiert die Situation in Awdijiwka gegenüber Telepolis wie folgt:
Die Situation bei Avdeevka spitzt sich für die ukrainischen Streitkräfte neuerlich gefährlich zu. Bereits letztes Jahr schien es so, als ob die Stadt aufgrund heftiger russischer Umfassungsversuche kurz vor dem Fall stehen würde. Mit der in höchster Eile nach der gescheiterten Sommeroffensive aus dem Südraum nach Avdeevka verlegten 47. Mechanisierte Brigade gelang es, die Nordflanke wieder zu stabilisieren. Dadurch wurde die 53. Mechanisierte Brigade soweit freigespielt, dass sie auch die Südflanke stabilisieren konnte.
Nach weiteren intensiven Kämpfen scheint es nun, dass die im Stadtgebiet kämpfende 110. Mechanisierte Brigade zurückweichen muss. An mehreren Stellen angreifend, konnten die Russen erste Stützpunkte in Besitz nehmen und die Front eindrücken. Gelingt es nicht, die Front neuerlich zu stabilisieren, fällt die Stadt, und somit ein wichtiger taktischer Stützpunkt, über kurz oder lang.
Oberst Markus Reisner
An der ganzen Frontlinie kann die russische Armee kleine, aber stetige Erfolge erzielen. Das sind Erfolge auf operativer Ebene, im Einzelnen nicht spektakulär. Doch der Trend, die Menge und die Breite der russischen Eroberungen können für die ukrainischen Verteidiger alarmierend sein.
Beobachtungsposten im Netz
Gut lassen sich die Veränderungen an der Front auf der Karte des YouTube-Kanals "Weebunion" nachverfolgen. Der Kanal bemüht sich um Neutralität und zeichnet sich seit Beginn durch eine zuverlässige Berichterstattung aus. Allerdings waren viele Prognosen des Machers oft zu gewagt.
Unter "Recap" kann man alle Veränderungen der Front sehen. Hier wird auch ersichtlich, dass es den ukrainischen Truppen zwar gelingt, die von Russland eroberten Front-Abschnitte teilweise wieder zurückzuerobern. Doch Rückeroberungen sind selten, meist kann Russland seine Erfolge konsolidieren und sich festsetzen.
Der Autor empfiehlt ebenfalls Suryak-Map. Auch dieser Telegram-Kanal hat sich seit seiner Gründung als äußerst zuverlässig erwiesen.
Die seriösen Qualitätsmedien, die der Nato nahestehen, hinken nach Erfahrungen des Autors mit ihrer Berichterstattung hingegen in der Regel mehrere Tage hinterher oder bringen Ablenkungsnachrichten, siehe beim Fall von Bachmut.
Damals wurde groß über einen winzigen und taktisch völlig unbedeutenden Angriff kleiner ukrainischer Stoßtrupps auf Belgorod berichtet, statt die Eroberung von Bachmut bekannt zu geben.
Bei der Erstürmung der ukrainischen Verteidigungsanlagen kommt es unbestreitbar zu russischen Verlusten, doch dürfte die mantraartige Wiederholung der Behauptung, dass Russland unverhältnismäßig höhere Verluste erleidet als die ukrainischen Verteidiger, mit Vorsicht zu genießen sein.