Ukraine-Krieg: Russischer Vormarsch, ukrainische Verteidigung unter Druck
Russische Streitkräfte erzielen operative Siege, während die Ukraine um ihre Verteidigungsstellungen kämpft. Kommt eine neue ukrainische Offensive? Einschätzung.
Seit dem 05. April bis zum 02. August dieses Jahres konnten die russischen Streitkräfte einen Netto-Gebietsgewinn von 698 Quadratkilometern in der Ukraine erreichen. Zum Vergleich dazu: Das Stadtgebiet von Hamburg umfasst 755 Quadratkilometer. Das berichtet der finnische Militäranalyst Pasi Paroinen in seinem neuesten X-Post.
Der russische Vormarsch hat in der letzten Woche mit 56 Quadratkilometern gegenüber 48 Quadratkilometern in der Vorwoche weiter an Tempo zugelegt.
Dagegen konnte die Ukraine bei ihrer gescheiterten Sommeroffensive im vorigen Jahr zwischen dem 01. Juni und dem 29. September lediglich 313 Quadratkilometer erobern. Diese mit viel Gefallenen und Verwundeten und auch wertvollem Material erkauften Quadratkilometer, die strategisch ohne Relevanz geblieben sind, sind jetzt wieder nahezu vollständig unter Kontrolle der russischen Armee.
Der größte Einbruch in die tief gestaffelten russischen Verteidigungsstellungen gelang der ukrainischen Armee im vorigen Jahr bei Robotyne. Dort konnte man das russische Vorfeld überwinden und in die erste Verteidigungslinie einbrechen, ohne allerdings einen Durchbruch erzielen zu können.
Russische Rückeroberungen
Robotyne ist schon seit einigen Wochen wieder vollständig unter der Kontrolle der russischen Streitkräfte. Diese konnten nun eine Verteidigungsstellung nordöstlich des Dorfes einnehmen. Einzelheiten zum Frontverlauf kann man der Karte des dänischen Osint-Analysten Weebunion entnehmen.
Der Analyst, der auch täglich über das Kriegsgeschehen auf seinem YouTube-Kanal berichtet, kann nach Einschätzung des Verfassers dieses Beitrags als einer der zuverlässigsten Berichterstatter angesehen werden.
Die jetzt von der russischen Armee zurückeroberten Verteidigungsanlagen bei Robotyne, die zur ersten Verteidigungslinie der russischen Armee gehörten, waren die letzten russischen Stellungen, die die ukrainische Armee nach ihrer Eroberung im vergangenen Sommer noch gehalten hatte.
Es gibt zu denken, dass die ukrainische Armee in immer größere Bedrängnis gerät, und das an allen Frontabschnitten. So gelang es russischen Spitzen jetzt bei Wuhledar, die einzig befestigte Versorgungsstraße, die O0532, nur 2,6 Kilometer südwestlich von Kostyantynivka, zu unterbrechen.
Frontverlauf und strategische Punkte
Für die Versorgung der ukrainischen Garnison in der ehemaligen Bergbaustadt stellt dies derzeit keine unmittelbare Bedrohung dar, da nur 1,2 Kilometer westlich von Wuhledar ein befestigter Weg verläuft, der über drei unbefestigte Feldwege mit der Stadt verbunden ist. Diese unbefestigten Feldwege werden aber in der kommenden Schlammperiode für jegliche Fahrzeuge nahezu unpassierbar sein.
Zudem muss bereits jetzt der gesamte Nachschub für die russischen Drohnen- und Artilleriekräfte sehr vorhersehbar nur über einen einzigen, schmalen Weg laufen, der über Bohoyavlenka und Novoukrainka auf die Straße zwischen Welyka Nowosilka und Kurachowe führt. Generell ist das Straßennetz in der Region um Wuhledar äußerst schlecht ausgebaut.
Mit der Unterbrechung der O0532 für die ukrainische Logistik wird die Lage für die Verteidiger in Wuhledar deutlich schlechter. Die russischen Streitkräfte haben dadurch beim Einsetzen der Schlammperiode ab kommenden Herbst günstige Bedingungen für eine mögliche Eroberung der als Festung ausgebauten Stadt. Diese ist ein Eckpfeiler der ukrainischen Verteidigung im Donbass. Ihre Eroberung würde eine größere Frontbegradigung zugunsten der russischen Armee bedeuten.
Zwar kann die ukrainische Führung jetzt noch Material in die Festung bringen. Allerdings würde der Verlust der O0532 im Winter bedeuten, dass die Truppen-Rotation und die Evakuierung von verwundeten Soldaten für die Zeit der Schlammperiode äußerst kompliziert werden wird.
Pokrowsk
Zu den gefährdetsten Frontabschnitten zählt die Region östlich von Pokrowsk. Dort kann die russische Armee seit Monaten Dorf für Dorf und Stellung für Stellung erobern. Teile der zweiten und damit vorletzten Verteidigungslinie der ukrainischen Armee befinden sich bereits unter russischer Kontrolle.
Nach Einnahme der dritten Verteidigungsstellung samt Pokrowsk durch die russischen Streitkräfte würde es keine geschlossenen Stellungssysteme der ukrainischen Armee mehr geben. Deshalb kann hier die Situation der Armee der Ukraine nur als sehr schwierig bezeichnet werden, zumal der russische Vormarsch nicht einmal verlangsamt werden kann – und das trotz des Einsatzes der als Eliteverband geltenden 47sten Mechanisierten Brigade.
Pokrowsk ist eine kleine Städte-Agglomeration, bestehend aus den Städtchen Pokrowsk und Myrnohrad, die vor dem Krieg 2014 auf zusammen immerhin 112.000 Einwohner hatten. Die beiden Städte gehen fast nahtlos ineinander über, es sind nur ca. zwei Kilometer, die die beiden Bergbaustädte voneinander trennen, aber dazwischen liegt noch das Dorf Riwne.
Nach der Einnahme von Vesele durch russische Truppen trennt die russische Armee von den Außenbezirken der Agglomeration Pokrowsk/Myrnohrad nur noch knapp 10 Kilometer.
Der Verlust von Pokrowsk/Myrnohrad würde nicht nur den Verlust der dritten und letzten ukrainischen Verteidigungsstellung markieren, sondern auch den Verlust eines wichtigen Logistikzentrums bedeuten. Von Pokrowsk/Myrnohrad aus laufen sternförmig 6 Straßen in jede Richtung.
Die Doppelstadt Pokrowsk/Myrnohrad ist aufgrund ihrer Ausdehnung in der Lage, größere Truppenverbände zu stationieren und zu versorgen. Der Wegfall der Städte-Agglomeration würde die Lage der ukrainischen Armee im Donbass erheblich verschlechtern.
Sollte es den russischen Streitkräften gelingen, Pokrowsk/Myrnohrad zu erobern, würde dies mit einiger Wahrscheinlichkeit den Zusammenbruch zumindest eines Teils der ukrainischen Front bedeuten, möglicherweise verbunden mit relativ großen Gebietsverlusten, die bis in den vierstelligen Quadratkilometerbereich reichen dürften.
Torezk
Auch weiter nördlich im Abschnitt bei Torezk rückt die russische Armee weiter vor, hier gelang der Einbruch in die zweite Verteidigungsstellung der Ukraine mit dem Überschreiten der Bahnstrecke Niu-York – Torezk. Die Torezk vorgelagerte Kleinstadt Salisne konnte die russische Armee bereits nahezu vollständig einnehmen.
Die Abraumhalde einer ehemaligen Zeche bildet das südliche Bollwerk der zweiten Verteidigungsstellung, die die russischen Truppen nun von Süden kommend in Richtung Krankenhaus zu umfassen versuchen.
Nur etwa 200 Meter weiter nordöstlich stehen russische Spitzen jetzt nach der Eroberung eines Vorortes vor einer Datschensiedlung. An beiden Stellen gibt es bis Torezk wahrscheinlich keine Verteidigungsstellungen mehr der ukrainischen Armee bis zur eigentlichen Stadt. Nur noch ein Waldgebiet mit einer Tiefe von weniger als 1,5 Kilometern trennt Verbände der russischen Armee jetzt noch vom Stadtrand von Torezk.
Knapp zwei Kilometer nördlich befindet sich eine weitere Abraumhalde, die südlich des Vorortes Piwnitschne liegt, ebenfalls Teil der zweiten Verteidigungsstellung vor Torezk. Auch hier konnten russische Kräfte in die Verteidigungsstellung einbrechen und befinden sich jetzt unmittelbar vor der Abraumhalde. Die Truppen rücken entlang der Straße Piwnitschne – Torezk vor.
Tschassiw Jar und Charkow
20 Kilometer weiter nördlich gelang es russischen Truppen, sich in Tschassiw Jar weiter in Richtung des Stadtzentrums vorzuarbeiten, nachdem man dort vor gut einer Woche bereits den Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanal überschreiten konnte.
Mit den Kämpfen um den Kanal-Außenbezirk von Tschassiw Jar sind russische Kräfte nur noch 1600 Meter von der ehemaligen Tschasowojarsk Fabrik für feuerfeste Werkstoffe entfernt, die sich unmittelbar im Zentrum der strategisch wichtigen Stadt befindet.
Im Abschnitt Charkow konnte die ukrainische Armee mit großen, überlegenen Kräften bei Starytsya ein Waldgebiet zurückerobern. Auch in der unmittelbar nordöstlich gelegenen, schwer umkämpften Stadt Woltschansk konnten ukrainische Kräfte Boden gut machen und russische Truppen über den Wowtscha-Fluss zurückwerfen.
Trotz kleinteiliger ukrainischer Erfolge im Frontabschnitt bei Charkow stellt sich allerdings die Frage, warum es der ukrainischen Armee trotz zahlenmäßig weit überlegenen Kräften nicht gelingt, die russischen Truppen weiter zurückzudrängen?
Bedeutung der Gebietsgewinne
Die russischen Eroberungen sind in Quadratkilometern gemessen nahezu bedeutungslos angesichts der schieren Größe des ukrainischen Staatsgebietes. Allerdings sind die russischen Vorstöße in Richtung Pokrowsk/Myrnohrad, Torezk und Tschassiw Jar strategisch bedeutsam.
Dabei handelt es sich nicht nur um für die ukrainische Militärlogistik wichtige Städte, sondern ihr Verlust würde auch die Überwindung eines vergleichsweise gut ausgebauten Verteidigungssystems bedeuten, was ein weiteres Vordringen der russischen Truppen sehr wahrscheinlich machen würde.
Dieser Vormarsch der russischen Armee könnte dann aufgrund fehlender Verteidigungsanlagen enorm beschleunigt erfolgen, was mit einem Zusammenbruch der Front zumindest in Teilabschnitten einhergehen könnte.
Eine wichtige Frage ist, warum die ukrainische Armee nicht in der Lage ist, den russischen Vormarsch auf strategisch wichtige Positionen zumindest zu verlangsamen, obwohl bereits milliardenschwere Nato-Waffenpakete ins Land geflossen sein müssen.
Neue Offensive der Ukraine?
Das lenkt den Blick auf Aussagen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der von 14 Reserve-Brigaden spricht, die schon vor langer Zeit gebildet seien sollen, berichtet die Nachrichten-Webseite RBC-Ukraine:
"Die Hauptsache ist, dass man Reserven hat - vor allem für die Rotation. Das war meine Aufgabe - wir brauchten Rotationen, damit sich die Jungs erholen konnten. Und alles, worum wir ständig gebeten haben, war, dafür zu sorgen, dass diese 14 Brigaden vollständig ausgerüstet sind.
Es handelt sich nicht um neue Brigaden, wie fälschlicherweise oft behauptet wird, die Ukraine wolle neue Brigaden. Es sind keine neuen Brigaden, es sind Brigaden ohne Waffen", sagte Selenskyj.
RBC-Ukraine
Die Frage, die demnach angesichts des gravierenden Abwehrmisserfolges der ukrainischen Streitkräfte aufgeworfen wird, ist, ob die ukrainische Führung mit den neuen Nato-Waffenpaketen verdeckt eine neu aufgestellte Offensivarmee ausrüsten könnte, bestehend aus 14 Brigaden, anstatt die Waffen an die mit dem Rücken zur Wand kämpfenden Fronttruppen zu liefern.
Die ukrainische Führung würde damit einen russischen Durchbruch an den oben genannten Frontabschnitten riskieren und alles auf eine Karte setzen. Doch könnte eine Offensive mit hypothetisch bis zu 14 Brigaden das Kriegsgeschehen verändern. Eine Brigade hat in der Regel bis zu 5.000 Soldaten, 14 Brigaden könnten theoretisch also eine Armee von bis zu 70.000 Mann bedeuten.
Ein Indikator für die Offensiv-These wäre tatsächlich der Misserfolg der ukrainischen Armee trotz des Zulaufs von Nato-Waffen, was für die Ausstattung einer Offensiv-Armee sprechen könnte.
Ein weiterer Indikator könnten die jetzt in der Ukraine gesichteten F-16-Kampfflugzeuge sein, die eine mögliche Großoffensive der Ukraine unterstützen könnten. Ein Grund für das Scheitern der Sommeroffensive im vergangenen Jahr war das völlige Fehlen von Luftunterstützung.
Die F-16 könnten eingesetzt werden, um etwa russische Helikopter am Boden zu halten oder Nato-Gleitbomben gegen russische Truppen zum Einsatz zu bringen.
Ein weiterer Grund für das Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive ist höchstwahrscheinlich darin zu sehen, dass der Plan der Ukraine, eine Offensive zu starten, in den Medien breit diskutiert wurde und sogar der Frontabschnitt der russischen Führung bekannt war.
Eine mehr im Verborgenen vorgenommene Planung wäre für die Ukraine hier von Vorteil. Trotzdem wird bereits spekuliert, wo eine künftige ukrainische Offensive ansetzen könnte.
Hier wäre etwa denkbar, das von Russland besetzte größte Atomkraftwerk Europas, das Atomkraftwerk Saporischschja, zurückzuerobern und wieder für die Deckung des eigenen Strombedarfes in Betrieb zu setzen.
Russische Raketen und Drohnen haben den Großteil der ukrainischen Energie- und Stromversorgung zerstört, mit noch unabsehbaren Folgen für die ukrainische Armee und Gesellschaft während des Winters.
Eine weitere Möglichkeit wäre es, im Norden russische Gebiete anzugreifen, die über die schwächsten Verteidigungsanlagen verfügen.
Möglichkeiten eines Waffenstillstandes
So könnte die ukrainische Führung versuchen, durch eine wenigstens in Teilen erfolgreiche, eigene Offensive den militärischen Tauschwert in möglichen Friedensverhandlungen mit Russland wieder etwas zu erhöhen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine durch eine neue Offensive den Krieg doch noch gewinnen könnte, nimmt sich allerdings aus militärischer Perspektive als gegenwärtig als wenig wahrscheinlich aus.
Offenbar wird, dass sich mit jedem Tag die Lage der ukrainischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld verschlechtert und folglich ihre Position in zukünftigen Friedensgesprächen zunehmend erodiert.
Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die russische Führung zusätzliche Forderungen geltend machen könnte, etwa die Abtretung der Region um die Stadt Odessa, oder gar die Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation.
Ziemlich unwahrscheinlich erscheint, dass die russische Führung Vorschlägen zustimmen wird, die auf einen Waffenstillstand abzielen, wie die Welt von Brüsseler Diplomaten berichtet.
Aus Sicht Russlands würde der Waffenstillstand von der Nato nur dazu genutzt, um die Truppen der Ukraine neu aufzustellen und aufzurüsten.