Ukraine-Krieg: Russisches Militär vor Durchbruch in Awdijiwka

Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj in Awdijiwka. Foto vom 30. Dezember 2023: Büro des ukrainisches Präsidenten / CC0 1.0 Deed

Russische Geländegewinne auf dem Schlachtfeld, Machtkampf in der ukrainischen Führung und ein demografisches Problem. Eine Einschätzung der Lage.

Nachdem die russischen Streitkräfte erst vor zwei Wochen einen Durchbruch durch die südlichen Verteidigungsstellungen in Awdijiwka vermelden konnten, ist ihnen jetzt ein weiterer Durchbruch südlich der Kokerei AKHZ gelungen.

Die gesamte Stadt mit Ausnahme der Kokerei steht damit vor der erzwungenen Aufgabe durch die ukrainischen Verteidiger. Auf Suriyakmaps kann man den jüngsten Fortschritt gut erkennen.

Kritischer Durchbruch der russischen Truppen

In den ersten Monaten des russischen Angriffs auf Awdijiwka schienen die russischen Streitkräfte zu versuchen, die O0542, die einzige leistungsfähige Straße in die befestigte Stadt, über die Flanken zu erobern, doch nun scheint das Ziel des Angriffs darin zu bestehen, diese Straße südlich der Kokerei abzuschneiden.

Zu Beginn des Angriffs auf Awdijiwka unternahm das russische Militär Anstrengung, nördlich der riesigen Kokerei AKHZ bei Stepove durchzubrechen. Im Süden der ukrainischen Festungsstadt wurde auf ähnliche Weise versucht, die Nachschubstraße O0542 über die Einnahme des Dorfes Sjeverne abzuschneiden.

Beide Versuche misslangen bisher, nur die Hälfte von Stepove konnte bisher erobert werden, die Straße O0542 blieb bisher unbehelligt.

Doch jetzt stehen russische Truppen anscheinend nur noch knapp 880 Meter von der für die Festung Awdijiwka überlebenswichtige Straße entfernt. Laut des Osint-Analysten Weeb-Union konnte das russische Militär sogar schon die Bahnlinie südlich der Kokerei erreichen, und zwar an der Eisenbahnbrücke.

Dies wird auch von der ukrainischen Quelle DeepState bestätigt.

Nachschub in Gefahr: Awdijiwkas entscheidende Verbindung bedroht

Nur noch die Datschen-Siedlung, die sich südlich der Schlackehalde befindet, kann von den ukrainischen Truppen noch östlich der Bahnlinie auf Höhe der Kokerei gehalten werden. Fallen die Datschen in russische Hände, so ist der Bahndamm auf der gesamten Länge der Kokerei unter russischer Kontrolle.

Von der eroberten Stellung am Bahndamm trennen russische Truppen eine weitere Datschensiedlung vom ukrainischen Nachschubweg O0542 sowie ein kleines Gewerbegebiet, das unmittelbar südlich an die Kokerei anschließt.

Sollte es den russischen Streitkräften tatsächlich gelingen, die Nachschubstraße für die ukrainischen Truppen abzuschneiden, so wäre die Stadt für die ukrainischen Verteidiger nicht länger zu halten. Es ist die einzig verbliebene befestigte Straße in die belagerte Stadt hinein.

Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder)

Frontverlauf am 26. Februar 2022

Zwar würde es auch von Lastochkyne einen Weg in die Stadt geben, allerdings handelt es sich hierbei eher um einen Feldweg, die kleine Straße ist nicht befestigt. In der im Frühjahr beginnenden Schlammperiode Rasputiza ist der Weg nicht befahrbar.

Der ukrainische Nachschub in die belagerte Stadt würde größtenteils zu einem Stillstand kommen. Das würde unweigerlich das Ende der ukrainischen Verteidigungsbemühungen darstellen.

Trotz Abwehrerfolge: "Kurz vor dem Zusammenbruch"

Einen weiteren, bedeutenden Geländegewinn konnten die Streitkräfte Russlands nördlich des Pisochnyy Kar'yer Sees erzielen. Hier gelang es, die ukrainischen Verteidigungstruppen von allen noch gehaltenen Abschnitten nördlich des Sees zu verdrängen, das gesamte Nordufer des Sees ist jetzt unter russischer Kontrolle.

Zudem konnten russische Truppen nördlich des Industriegebietes um die Filtrierstation die Autobahn überschreiten. Dagegen waren die ukrainischen Verteidiger in der Lage, fast die Hälfte der ehemaligen Luftverteidigungsstellung im Süden der Stadt wieder zurückzuerobern.

Doch trotz kleiner Abwehrerfolge: Seit Monaten kämpfen sich russische Truppen Meter für Meter in die ukrainische Festung vor.

Juri Butusow, unabhängiger Kriegsberichterstatter und Betreiber von Censor.net, einer der meistgelesenen Informationsplattformen in der Ukraine, erklärte in einem persönlichen Blogeintrag vom 4. Februar, dass die ukrainischen Linien um Awdijiwka kurz vor dem Zusammenbruch stünden.

Artillerie-Dominanz und Truppen: Vorteile der russischen Armee

Als Grund gibt er eine russische Überlegenheit sowohl an Artillerie als auch an Soldaten an. Zusätzlich sei die russische Luftüberlegenheit vollkommen. Nach wochenlangen Angriffen seien die russischen Truppen schließlich in die ersten Stadtteile eingedrungen, und die stark bedrängten ukrainischen Einheiten würden aufgrund schwerer Verluste und geringer Verstärkung immer schwächer, so Butusow, zitiert nach Kyivpost.

Auch der Militärkorrespondent Andriy Tsaplienko des Fernsehsenders 1+1, berichtete am Sonntag in einem Telegrammpost von einer sich rapide verschlechternden Situation in Awdijiwka:

Meinen Quellen in Awdijiwka zufolge ist die Lage in der Stadt heute kritisch geworden. Russische Angreifer, die das trübe Wetter und die fehlende Möglichkeit einer umfassenden Luftaufklärung ausnutzten, drangen von Nordosten, von der Seite des Baggersees von Awdijiwka, in die Stadt ein, um es relativ auszudrücken.

Sie umgingen die ukrainischen Militäreinheiten und verschanzten sich in den Gebäuden. Das bedeutet, dass sie nun nur noch wenige hundert Meter von der logistischen Hauptschlagader der ukrainischen Verteidiger entfernt sind.

Andriy Tsaplienko

An anderen Frontabschnitten gelang den russischen Kräften ebenfalls in den vergangenen Wochen ein Eindrücken der Front: Unter anderem bei Tabaivka in der Nähe von Kupjansk konnte mit knapp fünf Kilometern Geländegewinn der größte Erfolg verbucht werden, in Richtung Terny bei Lyman waren es ein Kilometer, in Robotyne und Werbowe bei Saporischschja jeweils 500 Meter.

Möglich sind die russischen Erfolge auch aufgrund der mittlerweile drückenden Artillerie-Überlegenheit der russischen Streitkräfte. Anders als noch im vorigen Jahr traut sich die Militärführung wieder eine Massierung von Artilleriekräften, um ukrainische Befestigungen mit konzentrieren Artilleriefeuer zu bekämpfen.

Innenpolitischer Konflikt: Kiews Führung in Turbulenzen

Innenpolitisch erlebt die Ukraine mit dem Machtkampf zwischen dem nicht mehr durch demokratische Wahlen legitimierten Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dem populären Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Walerie Saluschnyj, eine schwere Krise.

Der General genießt große Zustimmung und Autorität in den Streitkräften der Ukraine, Selenskyj will ihn loswerden. Doch nicht nur Saluschnyi soll seines Amtes enthoben werden, der ukrainische Präsident plant angeblich eine Entmachtung vieler Saluschnyj treuer Führungsoffiziere.

Wahlrecht versus Kriegsrecht: Demokratie unter Druck

Erst gestern beschloss der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine, dass es in diesem Frühjahr keine Wahlen geben wird. Und zwar so lange, bis das Kriegsrecht aufgehoben werde. Damit kann der Präsident der Ukraine dann ohne Wahlen durchregieren.

"Wahlen können abgehalten werden, wenn das Kriegsrecht aufgehoben wird. Dazu müssen wir aber gewinnen. Und wir werden sie auf jeden Fall gewinnen", sagte der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Oleksiy Danilov, in einem Kommentar gegenüber dem TV-Sender Channel 24.

In die deutschen Medien schafft es diese Meldung augenscheinlich nicht – trotz der Milliarden deutscher Steuergelder zur "Verteidigung der Demokratie" in der Ukraine?

Demografie: Ukraines unsichere Zukunft

Für die Ukraine sieht es insgesamt düster aus, besonders, wenn man sich die demografischen Kennziffern anschaut. Die Geburtenrate in der Ukraine ist dramatisch gesunken. Sie ist die niedrigste der Welt mit einem Durchschnitt von 0,7 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter. Zusätzlich ist die Lebenserwartung durch die schweren Verluste an der Front auf nur 57 Jahre gesunken, das ist der fünftniedrigste Wert weltweit:

"Die männliche Lebenserwartung ist nach Schätzungen unserer Experten von 66 bis 67 Jahren vor dem Krieg auf 57-58 Jahre gesunken", sagt Ella Libanowa, Direktorin des Instituts für Demografie und Sozialstudien an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine der Londoner Times. Nur der Tschad (54), Nigeria (54), Lesotho (55) und die Zentralafrikanische Republik (55) haben eine niedrigere Lebenserwartung.

Es ist schwer abzuschätzen, wie lange die Regierung in Kiew noch durchhalten kann. Der nicht mehr durch ein Wahlvotum gestützte Präsident wird sowohl innenpolitisch durch Korruption und machtpolitische Ränkespiele als auch durch anhaltenden militärischen Misserfolge geschwächt.

Selbst wenn die von den USA angeführten westlichen Unterstützer der Ukraine jetzt noch ihre Arsenale durchgehen und neuerlich Waffen in die Ukraine liefern, die einen schweren Stand im Krieg hat: Die demografische Lage ist dermaßen katastrophal, die Mobilisierungsbemühungen derart verzweifelt, dass ein Sieg oder auch nur ein militärisches Patt in weite Ferne gerückt ist.

Das Absinken der Lebenserwartung auf den Wert eines Hungerstaates zeigt die immensen Verluste, die das ukrainische Militär erleiden musste.

Für Verhandlungen scheint die Zeit bereits abgelaufen. Auch wenn verschiedentlich darüber berichtet wird, dass Russland verhandlungsbereit sei – Moskau wird sich wahrscheinlich mit nicht weniger als einer bedingungslosen Kapitulation der Ukraine zufriedengeben. Zu groß wäre aus der Sicht Russlands ansonsten die Gefahr einer neuerlichen Einmischung der USA in die ehemalige Sowjet-Teilrepublik Ukraine.

Die hier zusammengestellten Informationen speisen sich aus folgenden OSINT-Quellen: Weeb Union, Military Summary Channel, Suriyakmap, Deepstatemap, Remilind23, HistoryLegends, simplicius76, Militaryland, Red Fish Bubble 2.1 (geschlossene Gruppe).