Ukraine-Krieg: Russlands Gleitbomben-Taktik zermürbt Verteidiger
Über russische Angriffsmethoden, Kriegswirtschaft und Opfer. Wie die Aussichten für die Ukraine stehen. Interview mit Oberst Reisner.
Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Der Oberst des Generalstabsdienstes des Österreichischen Bundesheers blickt auf eine lange militärische Karriere zurück: Er war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig. Zugleich arbeitet er als Militärhistoriker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.
Telepolis-Autor Lars Lange fragte den Experten zum aktuellen Stand des Kriegsgeschehens in der Ukraine.
Die "FAB-Krise" der ukrainischen Streitkräfte
▶ Nach ukrainischen Angaben soll es der russischen Luftwaffe gelingen, rund 800 Gleitbomben pro Woche gegen Stellungen der ukrainischen Armee einzusetzen. Was bedeutet dies für die Verteidiger?
Markus Reisner: Präsident Selenskyj hat vor wenigen Tagen seine westlichen Verbündeten neuerlich eindringlich um die Lieferung von mehr Fliegerabwehrsystemen mittlerer und hoher Reichweite ersucht.
Der Hintergrund ist einerseits nicht nur, dass die ukrainische Stromversorgung durch die laufenden strategischen russischen Luftangriffe und deren Zerstörungen immer kritischer wird. Seine Forderung betraf daher nicht nur den zusätzlichen Schutz der ukrainischen Städte und der kritischen Infrastruktur (v. a. Stromversorger, Heiz- und Wärmekraftwerke), sondern andererseits vor allem Fliegerabwehr, welche entlang der gesamten Front eingesetzt werden muss.
Gemäß seinen Aussagen setzt die russische Luftwaffe mittlerweile in der Woche bis zu 800 Stück ihrer Gleitbomben (Typ FAB UMPK) ein. Diese Bomben mit Gewichtsklassen von 250 bis 3.000 kg treffen laufend ukrainische Stützpunkte und Truppenansammlungen entlang der gesamten Front, fügen diesen schwere Schäden zu oder löschen sie aufgrund ihrer massiven Sprengwirkung bei einem Direkttreffer faktisch aus.
D. h. die russischen Truppen schießen nicht wie bisher "nur" mit weitreichender Rohrartillerie und Raketenwerfern, sondern werfen seit dem Frühjahr 2023 zusätzliche Gleitbomben (v. a. vom Typ FAB-500M62 UMPK) ab. Man konnte hier Monat für Monat eine Zunahme in der Quantität (Anzahl der bekämpften Ziele) und Qualität (Treffergenauigkeit) sehen.
Die Ukraine müsste nun einerseits versuchen, mit Fliegerabwehr die Kampflugzeuge (v. a. Su-34) der Russen, welche die Träger der Gleitbomben sind, abzuschießen oder diese bereits vor ihrem Start auf deren Absprungplätze zu zerstören. D. h. man bräuchte Patriot-Batterien in Frontnähe und die Möglichkeit, mit Boden-Boden-Raketen vom Typ ATACMS auf Flugplätze in Russland wirken zu können.
Passiert dies nicht, bleibt die Ukraine in der Defensive und die ukrainischen Stellungen werden weiter sturmreif gebombt. Aus meiner Sicht kann man hier bereits von einer "FAB-Krise" der ukrainischen Streitkräfte sprechen.
Die Forderungen Präsident Selenskyjs vor allem nach defensiv wirkenden Fliegerabwehrbatterien sind daher aus meiner Sicht berechtigt.
"In Frontnähe alle festen Strukturen nahezu dem Erdboden gleichgemacht"
▶ Russland greift nur mit wenigen Panzern und gepanzerten Fahrzeugen an ausgewählten Frontabschnitten an. Rund 50 Prozent aller russischen Sturmangriffe sollen inzwischen sogar von leichten Geländefahrzeugen und Motorrädern gänzlich ohne Panzerung durchgeführt werden. Lässt dies den Schluss zu, dass Russland die Panzer ausgehen?
Oder handelt es sich um eine Weiterentwicklung der russischen Taktik und Operationsführung? Wenn letzteres der Fall ist: Wie sieht diese neue Art der Operationsführung aus und welche Rolle spielen dabei Gleitbomben?
Markus Reisner: Das auf vielen Videos von beiden Seiten dokumentierte derzeitige Vorgehen der russischen Streitkräfte ist ein Ergebnis des Umstandes, dass die Russen ihre Gefechtstechnik und Taktik gewechselt haben.
Wo möglich, kommt es vor einem Angriff zu einer umfangreichen Vorbereitung mit Abstandswaffen (v. a. Rohrartillerie, Raketenwerfer, Gleitbomben) und erst dann zum Sturmangriff. Man muss sich nur die Bilder der zerstörten Städte und Dörfer entlang der Front ansehen, um eine Idee hinsichtlich der Intensität des russischen Vorbereitungsfeuers zu bekommen. Faktisch sind in Frontnähe alle festen Strukturen nahezu dem Erdboden gleichgemacht.
Bei den russischen Angriffen kommen seit dem Winter 2023/24 vor allem kleinere taktische Einheiten zum Einsatz. Diese lassen sich wesentlich schwerer mittels Drohnen aufklären. Ein Angriff erfolgt durch ein oder zwei Schützenpanzer, begleitet von einem Kampfpanzer, und parallel dazu mehrere Gruppen von vier bis fünf Motorrädern oder kleine ungepanzerte, aber wendige Buggys.
Während die mechanisierte Gruppe das Feuer auf sich lenkt, versuchen die leichten mobilen Gruppen die zuvor bombardierten Stellungen der ukrainischen Verteidiger in Besitz zu nehmen.
Hier bleiben sie entweder unentdeckt und können weitere Kräfte nachführen, oder sie geraten ins Kreuzfeuer von ukrainischen FPV-Drohnen. Wenn erkannt, werden die russischen Angreifer oft bis zum letzten Soldaten ausgelöscht.
Trotz hoher russischer Verluste, funktioniert diese russische Taktik immer wieder, und die Russen rücken langsam, aber stetig vor. Dies ist vor allem eine Folge des massiven russischen Gleitbombeneinsatzes. Das russische Vorrücken wird auch von ukrainischer Seite bestätigt.
Der Preis, welchen die Russen dafür zahlen, ist ein hoher. In Mariupol, Lyssytschansk, Bachmut, Awdijiwka und ostwärts von Tschassiw Jar fielen Zehntausende russische Soldaten. Nördlich Charkiw wiederholt sich derzeit Ähnliches.
"Russland hat nach wie vor hohe Verluste an Kampffahrzeugen"
▶ Führt der massive Einsatz von FAB-UMBK-Gleitbomben zu einem reduzierten Bedarf an gepanzerten Fahrzeugen? Ist eine Veränderung der Rolle des Panzers als Durchbruchsfahrzeug zu beobachten?
Markus Reisner: Russland hat nach wie vor hohe Verluste an Kampffahrzeugen, aber diese sind im Umfang nicht mehr vergleichbar mit den ersten Phasen des Krieges. Hier waren sie verheerend und dieser Umstand wirkt bis heute nach.
Vor allem, da viele der besten Modelle (u. a. T-72BM, T80U oder T-90) inklusive ihrer kostbaren Besatzungen vernichtet wurden. Die Russen haben jedoch gelernt und der laufende Zufluss an Kampffahrzeugen aus der Rüstungsproduktion reicht immer noch aus, um die Verbände an der Front kampfkräftig zu halten. Dies gilt auch für die Soldaten, von denen im Monat ca. 25.000 bis 30.000 frisch rekrutiert werden.
Tatsächlich ist eindeutig zu erkennen, dass von russischer Seite der Vorbereitungsphase vor einem Angriff mehr Raum gegeben wird. Angriffe von großen mechanisierten Verbänden sind seit dem Sommer 2023 nicht mehr vorhanden. Ein Ergebnis des transparenten Gefechtsfeldes (d. h. große Manöver und Bereitstellungen sind kaum noch möglich) und der erlittenen hohen Verluste.
Der Kampfpanzer wird oft dazu eingesetzt, um das Feuer auf sich zu lenken und der Begleitinfanterie in den mitfahrenden Kampfschützenpanzern die Möglichkeit zu geben, an den intendierten Einbruchstellen abzusitzen. Fehlende mechanisierte Stoßkraft wird durch den Einsatz von Gleitbomben kompensiert.
Russische Kampfpanzer werden zudem durch unterschiedlichste Schutzanbauten (Stichwort "Schildkröten"-Panzer") möglichst robust gegen FPV-Drohnenangriffe vorbereitet. So gelingt es beim unmittelbaren Angriff zusätzliche Treffer zu absorbieren und Zeit zu gewinnen.
Die Rolle des Panzers ist mit der eines "Sturmgeschützes" zu vergleichen. Diese eigentlich sowjetische Taktik stammt noch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und wurde damals von den sowjetischen Streitkräften durch den Einsatz u. a. der schwer gepanzerten Typen ISU-152 und ISU-122 als "Durchbruchswaffe" angewandt.
"Der Kampfpanzer bleibt die Speerspitze der russischen Angriffe"
▶ Über die russische Rüstung wird viel diskutiert. Es gibt sehr unterschiedliche Angaben über die russische Rüstungsproduktion. Ist Russland derzeit in der Lage, seine Verluste an der Front zu ersetzen?
Markus Reisner: Auf der operativen Ebene ist es unverändert das Ziel der Russen, die Ukraine zu zwingen, entlang der gesamten Front, vor allem jedoch im Donbass, ihre kostbaren Reserven einzusetzen. Damit möchte die russische Seite verhindern, dass die Ukraine neue Kräfte zusammenzieht, um dann möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt in die Offensive gehen zu können.
Eine solche hat die Ukraine für das Jahr 2025 vorgesehen bzw. angekündigt. Russland bediente sich bei seinen Angriffen einer Reihe von operativen Gruppierungen, die gemeinsam versuchten, immer wieder gleichzeitig und an unterschiedlichen Stellen anzugreifen und so die ukrainischen Streitkräfte zum Einsatz ihrer Kräfte zu zwingen.
Auf taktischer Ebene werden von diesen operativen Gruppierungen ununterbrochen Angriffe durchgeführt. Hier ist und bleibt der Kampfpanzer die Speerspitze der russischen Angriffe. Alle Ergebnisse militärischer Anstrengungen und Operationsführung müssen messbar sein.
Die ukrainischen Abwehrerfolge müssen also zu einem messbaren Effekt auf russischer Seite führen. Dies wäre im vorliegenden Fall, das messbare Nachlassen oder optimalerweise Einstellen der russischen Angriffe entlang der gesamten Front. Dies ist aber nicht der Fall, d. h. dass im Umkehrschluss die Verluste für die russische Seite nach wie vor ausgleichbar sind.
Aus meiner Sicht ist hier zudem die reine quantitative Verfügbarkeit von Kampffahrzeugen oder Munition nicht entscheidend. Es gibt aber zwei kritische Bereiche. Es ist dies die Zahl an verfügbaren gut ausgebildeten russischen Besatzungen sowie die Möglichkeiten einer kontinuierlichen Instandsetzung (z. B. Tausch von Verschleißteilen wie z. B. Rohren).
Derzeit ist Russland in der Lage, eigene Verluste zu ersetzen und Nachschub zu liefern. Manche westliche Kommentatoren sehen jedoch trotzdem ein baldiges Versiegen russischer Ressourcen.
Die Frage der Ressourcen
▶ Welche Rolle spielt die Reparatur von an der Front beschädigten Fahrzeugen, hier kenne ich keine Zahlen. Gibt es also Kennzahlen, wie hoch der Zufluss an reparierten Kampffahrzeugen pro Monat ist, die bisher nicht in den Produktionszahlen enthalten sind? Also Zahlen, die weder neu produzierte, noch aufgearbeitete Fahrzeuge aus der Langzeitkonservierung beinhalten, sondern reparierte Panzerfahrzeuge im Frontbereich?
Markus Reisner: In einem Abnutzungskrieg ist Frage der Ressourcen die entscheidende. Hier ist festzustellen, dass die russische Wirtschaft mittlerweile auf eine Kriegswirtschaft umgestellt wurde.
Man nimmt an, dass Russland bis zu acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes, bzw. sogar bis zu 35 Prozent der gesamten Staatsausgaben, für die Produktion von Waffensystemen aufbringt. Dies gilt vor allem für Systeme der Landstreitkräfte, also Kampfpanzer, Kampfschützenpanzer, Mannschaftstransportfahrzeuge und Artilleriesysteme.
Dabei verwendet die russische Rüstung einerseits Systeme, die auf noch aus der Zeit der Sowjetunion auf Halde liegen und nun instand gesetzt und modernisiert werden, bzw. andererseits werden neue Systeme in eigenen Fabriken neu produziert.
Die uns vorliegenden Satellitenbilder zeigen, dass sich die Abstellplätze aus der Zeit der Sowjetunion stetig leeren. Hinzu kommt eine moderarte Neuproduktion. Und das geht relativ einfach. Ein russischer T-72BM ist z. B. im Bau- und Ressourcenaufwand kein Vergleich zu einem deutschen Leopard 2A6.
Erster lässt sich schnell und billig erzeugen und er erfüllt seinen Zweck. Instandsetzung und Neuproduktion sind auch möglich, weil Staaten wie China Ersatz- oder Bauteile liefern, die dann als technische Komponenten verbaut werden.
Das produzierte Gerät läuft der Front zu und deckt dort die Ausfälle. Zudem gibt es klare Indizien und Videos in den sozialen Netzwerken, die zeigen, dass die Russen direkt hinter der Front hochproduktive Instandsetzungseinrichtungen betreiben.
Zu den Gesamtzahlen gibt es unterschiedliche Auswertungen und Prognosen. Man nimmt an, dass z. B. derzeit im Jahr ca. 1.200 Kampfpanzer (davon 20 Prozent Neuproduktion) zulaufen. Im Kern stimmen die meisten westlichen Experten überein, dass die russische Seite noch zwei bis drei Jahre durchhalten kann.
Die Frage ist, kann dies auch die Ukraine? Die Antwort darauf kennt nur der Westen.
"Russlands Streitkräfte folgen einer völlig anderen Militärkultur als westliche"
▶ Wie verlässlich ist die viel zitierte Oryx-Plattform, die russische Panzerverluste dokumentiert? Ein oberflächlicher Blick genügt, um dort intakte Panzerhüllen zu finden, die von Oryx aber als "zerstört" geführt werden. Zudem sind auf sehr vielen Bildern keine Hoheitsabzeichen zu erkennen, sodass es sich auch um ukrainische Fahrzeuge handeln könnte. Die Qualität vieler Bilder ist außerdem so schlecht, dass man überhaupt nichts erkennen kann. Wie groß ist hier eine mögliche Abweichung von den tatsächlichen Abschusszahlen?
Markus Reisner: Aus meiner Sicht sind die Angaben und Zählungen von Think-Tanks wie RUSI, ISW oder auch von Initiativen wie Oryx durchaus verlässlich und zitierfähig. Betrachten wir als Beispiel Oryx.
Mit heutigem Tag, also dem 7. Juli 2024, stehen 6.060 Stück ukrainische, zerstörte, beschädigte und erbeutete Kampf- und Unterstützungsfahrzeuge insgesamt 16.751 russischen, zerstörten, beschädigten und erbeuteten Kampf- und Unterstützungsfahrzeugen gegenüber.
Eine Verhältniszahl von 1:2.8 zugunsten des ukrainischen Verteidigers. Bei den Kampfpanzern stehen 857 ukrainische 3.197 russischen gegenüber, also 1:3.7. Hier sind durchaus Abweichungen von bis zu 10 Prozent möglich.
Wichtig ist aber die Kernaussage dieser Zahlen. In der militärischen Operationsplanung ist im Angriff eine Verhältniszahl von 1:3 bis 1:4 zu erreichen. Um die eigenen Verluste als Angreifer auszugleichen und trotzdem siegreich zu bleiben.
Aus dieser Sicht sind die Russen noch in der Norm. Russlands Streitkräfte folgen einer völlig anderen Militärkultur als westliche Streitkräfte. Um einige Schlagwörter zu nennen: Quantität vs Qualität, rücksichtsloser Einsatz von Menschenleben vs maximaler Schutz jedes Einzelnen, Befehlstaktik vs Auftragstaktik.
Vor kurzem wurde im Economist eine Untersuchung zu den russischen Personalverlusten veröffentlicht. Man geht davon aus (und hier verwende ich gerundete Zahlen), dass Russland bis Mitte Juni 2024 zwischen 100.000 bis 150.000 getötete Soldaten erlitten hat.
Aus den Erfahrungen der letzten Kriege weiß man, dass auf jeden Gefallenen zwischen drei und vier Verwundete kommen. D. h. dies wären noch mal 400.000 bis 600.000 russische Verwundete. Gesamt ergäbe dies Ausfälle von 500.000 bis 750.000 ausgefallenen russische Soldaten. Das passt nicht in unseren Kopf, denn in Anbetracht dieser Zahlen müsste der russische Gegner längst aufgegeben haben.
Hat er aber nicht, im Gegenteil: Ein britischer Think-Tank berichtete kürzlich von bis zu 650.000 an der Front in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten.
Trotz dieser Verluste und als Ergebnis der eingesetzten Soldaten an der Front ist das Momentum bei den Russen. Sie bestimmen, wo angegriffen wird, die Ukraine muss reagieren. Eigentlich müsste aber die Ukraine in die Offensive gehen und die eroberten Gebiete befreien. Diese Entwicklungen sollten uns ernsthaft hinsichtlich des weiteren Kriegsverlaufes nachdenken lassen.
Denn das, was die Ukraine bis jetzt bekommen hat, hat die Russen nicht gestoppt, d. h., entweder der Westen liefert signifikant mehr, oder man versucht zumindest den Konflikt mit einem Waffenstillstand vorläufig einzufrieren, um der Ukraine die Chance zu einer Erholung oder Konsolidierung zu geben.
Im Moment hat man sich offensichtlich entschieden, weiter auf ein Zusammenbrechen der Russen zu warten. Ob diese strategische Entscheidung des Westens richtig ist, wird erst die Zukunft zeigen.