Ukraine-Krieg: US-Strategen wissen es besser als Ukrainer?

Frust in Washington über ukrainische Vorgehensweise bei der Offensive? Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan widerspricht. Er geht nicht von einer Pattsituation aus.

Zuletzt hab es keine good news vom Verlauf der ukrainischen Offensive. Einschätzungen von informierten, aber anonymen Geheimdienstkreisen gehen, wie es die Washington Post herausstellte, gehen davon, dass die Offensive nicht so schnell vorangeht ,wie erhofft.

Der Vormarsch stockt, so der Tenor des Artikels. Es ist nicht der erste Beitrag in reichweitenstarken US-Medien, der Erwartungen zurückschraubt.

Am gestrigen Dienstag hat sich mit dem Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan nun auch ein Mitglied der US-Regierung dazu offiziell zu Wort gemeldet. Mit einer Aussage, die eine weit verbreitete Einschätzung kontert: "We do not assess that the conflict is a stalemate", erklärte Sullivan. Auf Deutsch:

"Wir bewerten den Konflikt nicht als Pattsituation."

Allzu konkret und verbindlich wollte der Sicherheitsberater gegenüber Journalisten aber nicht werden. Er verriet kein Wissen, das nur Geheimdienste haben.

Auf beiden Seiten wird an mehreren Punkten entlang einer sehr langen Frontlinie angegriffen und verteidigt. (…) Und es ist wahr, dass die Russen im Nordosten angegriffen haben. Es stimmt auch, dass die Ukrainer den Nordosten recht effektiv verteidigt haben.

Jake Sullivan

Es kam ihm auf anderes an. Nämlich, den Kritikern der ukrainischen Gegenoffensive verstehen zu geben, dass sie das Vorgehen der ukrainischen Armee in den Kampfgebieten "mit einem gewissen Maß an Demut angehen sollten". Angesprochen darauf, ob die US-Regierung über die Taktik der Ukrainer frustriert sei, beschied er:

"Wir tun unser Bestes, um unseren besten Rat zu geben, und dann trifft die Ukraine ihre eigenen souveränen Entscheidungen darüber, wie sie vorgehen wird. So sehe ich das, so sieht das der Präsident. Das ist die Politik der Vereinigten Staaten.

Jake Sullivan

Empfehlungen an die Ukraine

Gut möglich, dass Sullivan den Artikel der New York Times im Kopf hatte, der gestern erschien und genau das zum Thema hatte: den Frust von US-amerikanischer Strategen und Besserwisserei. Sein Titel: US-Vertreter finden, dass die ukrainischen Streitkräfte und die Feuerkraft falsch verteilt sind.

Besser wäre es, so US-Strategen, wenn sich das ukrainische Militär "entlang der Hauptfront der Gegenoffensive im Süden konzentrieren" würde, geht es in der Unterzeile dazu weiter.

Zitiert werden erneut anonyme Vertreter, die vertraulich mit mehreren NYT-Journalisten sprachen.

Nur mit einer Änderung der Taktik und einem dramatischen Schritt könne sich das Tempo der Gegenoffensive ändern, sagte ein US-Beamter, der wie das andere halbe Dutzend westlicher Beamter, die für diesen Artikel befragt wurden, unter der Bedingung der Anonymität sprach, um interne Überlegungen zu erörtern.

New York Times

Ihre Analyse ist nicht ganz neu. Die Kritik an der ukrainischen Taktik wurde im Wesentlichen bereits im erwähnten Washington-Post-Beitrag über die Einschätzung der Geheimdienst wiedergegeben:

Die zermürbende ukrainische Gegenoffensive hat Schwierigkeiten, die verschanzten russischen Verteidigungsanlagen zu durchbrechen, was zum großen Teil darauf zurückzuführen ist, dass die Ukraine zu viele Truppen, darunter einige ihrer besten Kampfeinheiten, an den falschen Stellen stationiert hat, so US-amerikanische und andere westliche Offizielle.

New York Times

Interessant ist, worauf die Empfehlung der Strategen hinausläuft. Die anonymen US-amerikanischen und westlichen Strategie-Berater empfehlen der Ukraine, "sich auf die Front in Richtung Melitopol zu konzentrieren, die für Kiew oberste Priorität hat, und die russischen Minenfelder und andere Verteidigungsanlagen zu durchbrechen" – mit einem bemerkenswerten Nachsatz: "selbst wenn die Ukrainer dabei mehr Soldaten und Ausrüstung verlieren."

Es ist also ein erneuter Appel an die Opferbereitschaft der Ukrainer.

Wer kennt den Krieg besser?

Die Frage, die sich dazu aufdrängt, taucht im Bericht der New York Times an anderer Stelle auf. Wie steht es denn um die Expertise von außerhalb? Kennen nicht die Ukrainer ihr Terrain und ihren Gegner besser als westliche Offiziere und Militärakademie-Absolventen jenseits des Atlantiks?

Dass es da einen interessanten Unterschied gibt, wird im Artikel angesprochen:

Die Kritik der US-amerikanischen Vertreter an der ukrainischen Gegenoffensive geschieht oft aus einer Sicht einer Generation von Militäroffizieren, die noch nie einen Krieg dieses Ausmaßes und dieser Intensität erlebt haben.

New York Times

Hybris

Auffallend ist eine Hybris, die in fast allen Berichten der vergangenen Wochen über die militärische Lage in der Ukraine durchscheint, wie auch im aktuellen NYT-Bericht: Das Erstaunen darüber, wie stark die russischen Verteidigungslinien sind. Dabei gab es doch im April schon Nachrichten darüber, dass Russland die Munition und die Soldaten ausgehen.

Jetzt notiert die Zeitung, dass die Verluste der Ukrainer Verluste weiter steigen und Russland immer noch einen Vorsprung an Truppen und Ausrüstung habe.

Die strategischen Empfehlungen, die aus den USA kommen, würden auf eine Kriegsdoktrin setzen: "ein Maximum an Ressourcen, das in eine einzige Front fließt".

Diese Kriegsdokrin sei allerdings noch nie in einem Umfeld wie dem der Ukraine erprobt worden, "wo die russische elektronische Kriegsführung Kommunikation und GPS stört und keine der beiden Streitkräfte in der Lage war, die Luftüberlegenheit zu erlangen".

General Milley: "Begrenzte Fortschritte"

Geht es nach Informationen der US-Zeitung, so haben die Generäle, Mark A. Milley, Vorsitzender des US-Generalstabs, sein britischer Amtskollege Admiral Sir Tony Radakin und General Christopher Cavoli, der oberste US-Befehlshaber in Europa, dem Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte Walerij Saluschnyj in einer Videokonferenz am 10. August empfohlen, sich auf eine Hauptfront zu konzentrieren.

Nach Angaben zweier Beamter, die über das Gespräch informiert waren, soll Saluschnyj zugestimmt haben.

General Milley wird mit einer Aussage vom vergangenen Sonntag zitiert, dass die ukrainische Armee begrenzte Fortschritte mache.