Ukraine-Krieg: Überlebt die OSZE die Spaltung zwischen Moskau und EU?

Sergej Lawrow, Außenminister der Russischen Föderation, bei einer Pressekonferenz der OSZE, 2017. Bild: OSZE / CC BY-ND 2.0 Deed
Kluft ist tief. Lawrow wirft Organisation vor, ein Nato-Anhängsel zu sein, Baerbock spricht vom russischen Krieg gegen OSZE. Was bedeutet das für die Ukraine? Gastbeitrag.
Nach monatelangem diplomatischem Gerangel [1] wurde die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auf dem jährlichen Ministerratstreffen in der vergangenen Woche durch einen faulen Kompromiss [2] zwischen Russland und dem Westen wieder zum Leben erweckt.

Doch anstatt eine Periode neuer Bemühungen um die Reparatur der zerbrochenen europäischen Sicherheitsordnung einzuleiten, haben sich die bestehenden Verwerfungen vertieft und neue aufgetan.
Die OSZE [3] hat ihre Wurzeln in einer Zeit ernsthafter Bemühungen um Entspannung zwischen den USA und der UdSSR in den 1970er-Jahren. Heute ist sie die weltweit größte regionale Sicherheitsorganisation mit 57 Teilnehmerstaaten, die drei Kontinente – Nordamerika, Europa und Asien – abdecken.
Doch die Fähigkeit der Organisation, ihr Mandat zur Gewährleistung der Sicherheit zu erfüllen, wurde in den letzten Jahren stark beeinträchtigt.
Die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022 war zwar der jüngste und gravierendste Verstoß gegen die Grundprinzipien der OSZE, aber nicht der Erste. Auf den Einmarsch Russlands in Georgien im Jahr 2008 und die anschließende Anerkennung der Unabhängigkeit der vom Kreml unterstützten abtrünnigen Staaten Abchasien und Südossetien im August folgten 2014 die Annexion der Krim und die Besetzung von Teilen des Donbass.
Russland hat auch die bestehenden OSZE-Missionen in der Ukraine bewusst unterminiert. Die "Beobachtermission" [4], die im Juli 2014 eingerichtet wurde, um die Aktivitäten an wichtigen russisch-ukrainischen Grenzkontrollpunkten in der Ostukraine zu überwachen, wurde im September 2021 eingestellt.
In der Zwischenzeit wurde die "Sonderbeobachtungsmission" [5], die im März 2014 eingerichtet wurde, um die Sicherheitslage in der Ukraine unparteiisch und objektiv zu beobachten und darüber zu berichten, im März 2022 beendet, wenige Wochen nachdem Russland seine Invasion gestartet hatte.
Das Büro des Projektkoordinators [6] in der Ukraine, das 1999 auf Ersuchen Kiews eingerichtet wurde, um dem Land bei der Bewältigung einer Reihe von Sicherheitsherausforderungen zu helfen und es bei Reformen zu unterstützen und zu beraten, wurde im Juni 2022 nicht weiter fortgesetzt. Alle diese Initiativen wurden beendet, nachdem Russland sein Veto gegen ihre Fortführung eingelegt hatte.
Das hielt den russischen Außenminister Sergej Lawrow jedoch nicht davon ab, auf dem letzten Treffen zu erklären [7], dass die OSZE "ein Anhängsel der Nato und der EU" werde und sich "am Rande des Abgrunds" befinde.
Zumindest in diesem letzten Punkt gibt es kaum Unstimmigkeiten. Die OSZE befindet sich in der schwersten Krise ihrer Geschichte [8]. Wegen des Vetos Russlands hat die Organisation seit 2021 keinen genehmigten Haushalt mehr. Sie hat nur auf der Grundlage "kreativer Diplomatie" [9] überlebt, indem einzelne Mitgliedsstaaten Geld zur Finanzierung ihrer Missionen auftreiben.
Der Geist der Instabilität
Die Kompromisse, die letzte Woche auf dem Ministerrat in Skopje erzielt wurden [10], tragen wenig dazu bei, die OSZE wieder auf eine tragfähigere Grundlage zu stellen. Während die Ernennung Maltas [11] zum Vorsitzenden der Organisation für 2024 eine völlige Dysfunktionalität abwendet, wurden die Mandate der anderen Spitzenbeamten der Organisation, einschließlich des Generalsekretärs, nur um neun Monate verlängert, anstatt der üblichen dreijährigen Amtszeit.
Das verlängert lediglich die bestehende Agonie, da die Entscheidung darüber, wer die Organisation und ihre Institutionen leiten soll, aufgeschoben wird. Das allgegenwärtige Gefühl der Instabilität, das die OSZE jetzt umgibt, passt genau zu der Darstellung des Kremls, dass eine grundlegend neue und andere europäische Sicherheitsordnung notwendig ist.
Zwar gelang es Russland, Estlands Kandidatur für den Vorsitz zu blockieren und mit Malta ein Nicht-Nato-Mitglied für diese Rolle zu gewinnen. Doch das ist kaum ein Triumph [12] russischer Diplomatie, wenn man bedenkt, dass der Kreml seinen Widerstand gegen die Wiederbesetzung der anderen Führungspositionen aufgeben musste.
Auch für den Westen ist der Kompromiss kein Sieg. Entscheidend ist, dass der Westen in seiner Haltung keineswegs geeint war.
Die Ukraine, Polen und die baltischen Staaten weigerten sich [13] aus Protest gegen die Teilnahme Lawrows, ihre Außenminister zu dem Treffen zu entsenden. Ihre Amtskollegen aus den USA und dem Vereinigten Königreich, Antony Blinken und David Cameron, nahmen zwar an dem Abendessen, das dem Treffen vorausging, teil, vermieden aber jeden Kontakt mit Lawrow.
Im Gegensatz dazu nahm die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock persönlich teil und verurteilte Russland und Lawrow in ihrer Erklärung aufs Schärfste und betonte [14], dass der illegale Angriffskrieg des Kremls gegen die Ukraine auch ein Krieg gegen die OSZE ist.
Mehrere, auch nicht-westliche, Delegierte betonten die Bedeutung der Achtung der Souveränität und territorialen Integrität aller Teilnehmerstaaten. Aber nur neun von ihnen schlossen sich der EU-Erklärung [15] an, in der "Russland aufgefordert wird, seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine unverzüglich einzustellen und sich vollständig und bedingungslos ... aus dem gesamten Gebiet der Ukraine zurückzuziehen".
Das bedeutet nicht, dass die übrigen Teilnehmerstaaten der OSZE den Angriffskrieg des Kremls unterstützen. Es deutet jedoch auf die voraussichtlichen Schwierigkeiten hin, mit denen die Friedensformel [16] des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Zukunft konfrontiert sein wird.
Mehr als 40 Teilnehmerstaaten, die gemeinsame Erklärungen zu Menschenrechten und Grundfreiheiten [17] sowie zum 90. Jahrestag des Holodomor-Völkermordes [18] in der Ukraine 1932 bis 1933 abgaben, vertraten eine eher prowestliche Linie.
Tiefe Gräben
Dies kann jedoch nicht über die grundlegende Kluft hinwegtäuschen, die in der OSZE zwischen dem kollektiven Westen und Russland und seinen verbleibenden Verbündeten besteht. In einer gemeinsamen Erklärung der Nato-Mitglieder [19] (und Schwedens) wurde der Kreml für alles, was mit der OSZE und der europäischen Sicherheit nicht in Ordnung ist, verantwortlich gemacht.
Russland und Weißrussland wiederum wurden von Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan in ihrem Versuch [20] unterstützt, die Schuld von sich zu weisen und sich als Verfechter von Frieden, Sicherheit und Menschenrechten darzustellen.
Auf dem Ministerrat wurde viel über die OSZE als wichtige Plattform für den Dialog gesprochen, insbesondere angesichts der vielen sicherheitspolitischen Herausforderungen, denen sich die Region gegenübersieht.
Wie der Vertreter Liechtensteins jedoch treffend formulierte [21], müssen die Teilnehmerstaaten den Mehrwert, den die OSZE für jeden einzelnen von ihnen und für die Region als Ganzes bringt, erkennen und sich daran erinnern, damit dies funktioniert.
Es gibt wenig Anzeichen dafür, dass diese Botschaft gehört wird. Und so besteht weiterhin die Gefahr, dass ein ständiger "Dialog der Gehörlosen" die OSZE schließlich zu einem Relikt machen wird.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit The Conversation. Das englische Original finden Sie hier [22]. Übersetzung: David Goeßmann [23].
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.shrmonitor.org/exclusive-malta-under-consideration-to-become-osce-chair-in-2024/
[2] https://www.osce.org/chairpersonship/559671
[3] https://www.osce.org/whatistheosce
[4] https://www.osce.org/observer-mission-at-russian-checkpoints-gukovo-and-donetsk-discontinued
[5] https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine-closed
[6] https://www.osce.org/project-coordinator-in-ukraine-closed
[7] https://mid.ru/en/press_service/video/view/1918477/
[8] https://fpc.org.uk/is-a-russian-veto-on-leadership-about-to-provoke-the-downfall-of-the-osce/
[9] https://www.shrmonitor.org/how-creative-diplomacy-has-averted-a-collapse-of-the-osce-until-now/
[10] https://www.osce.org/chairpersonship/559671
[11] https://www.shrmonitor.org/exclusive-osce-permanent-council-paves-the-way-for-malta-to-assume-the-osce-chair-in-2024/
[12] https://www.reuters.com/world/europe/osce-limps-through-another-year-russia-relents-veto-2023-12-01/
[13] https://www.euronews.com/2023/11/28/baltic-countries-boycott-osce-meeting-over-russian-invitation
[14] https://www.osce.org/files/f/documents/1/9/559131.pdf
[15] https://www.osce.org/files/f/documents/d/f/559590.pdf
[16] https://www.reuters.com/world/europe/what-is-zelenskiys-10-point-peace-plan-2022-12-28/
[17] https://www.osce.org/files/f/documents/e/c/559713.pdf
[18] https://www.osce.org/files/f/documents/b/b/559707.pdf
[19] https://www.gov.uk/government/speeches/nato-allies-joint-statement-to-the-osce-ministerial-council-2023
[20] https://www.osce.org/files/f/documents/8/3/559662.pdf
[21] https://www.osce.org/files/f/documents/7/1/559251.pdf
[22] https://theconversation.com/ukraine-war-russias-hard-line-at-european-security-meeting-ratchets-up-tensions-another-notch-218938
[23] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html
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