Ukraine-Krieg: Warum Putin kein zweiter Hitler ist

David Goeßmann
Der russische Präsident Wladimir Putin während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, 13. März 2025.

Der russische Präsident Wladimir Putin während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, 13. März 2025. Bild: Russisches Präsidentenbüro

USA drängen auf Gespräche zwischen Kiew und Moskau. Europa bleibt kritisch. Rennen wir wie 1938 in die Appeasement-Falle? Ein Kommentar.

Während die USA erste Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland initiiert haben, wird in Europa und den USA weiter davor gewarnt, dass man damit in die Appeasement-Falle laufe – wie schon damals, als Hitler es vermochte, die Großmächte um den Finger zu wickeln.

Das Münchner Abkommen 1938

Kritiker, die jegliche Diplomatie mit Moskau strikt ablehnen und "keine Kompromisse" rufen, verweisen auf das Münchner Abkommen von 1938 (mit dem das besetzte tschechoslowakische Sudetenland Deutschland zugeschrieben wurde) und den Versuch des britischen Premierministers Neville Chamberlain, Hitler durch Zugeständnisse bei Remilitarisierung und Wegschauen beim Heim-ins-Reich-Anschluss Österreichs zu besänftigen. Das Zulassen und Verhandeln habe damals mit dem Überfall auf Polen ein Jahr später zum Zweiten Weltkrieg geführt.

Dieser Fehler dürfe nicht noch einmal begangen werden, heißt es nun. Ein Vichy-artiges Regime in der Ukraine dürfe nicht entstehen. Daher müsse man Russland in der Ukraine militärisch besiegen und dürfe nicht mit Moskau verhandeln, um den Machthunger von Wladimir Putin nicht durch Signale der Schwäche zu ermutigen, weiter zu expandieren.

Appeasement: Ein falscher Vergleich

Der Verweis auf München 1938 und die Appeasement-Strategie ist jedoch falsch und irreführend. Sicherlich: Damals hätte der militärische Siegeszug des deutsche Faschismus, so Historiker, verhindert werden können (auch wenn es darüber Diskussionen gibt), wären Großbritannien und die USA energisch eingeschritten, aber sie hatten zu der Zeit nicht wirklich Interesse daran – Hitler war damals für die Großmächte noch keine Persona non grata, es gab sogar eine gewisse Verehrung für ihn.

Aber die Lage im russischen Ukraine-Krieg ist heute eine ganz andere als die von Europa im Angesicht von Nazi-Deutschland 1938, trotz aller auf den ersten Blick bestehenden Ähnlichkeiten.

Seit 2014 wird die Ukraine von den USA und der EU massiv aufgerüstet. Man hat sich in den Konflikt eingemischt (ihn letztlich mit erzeugt durch den Versuch, die Ukraine in die Nato einzubinden) sowie einen Staatscoup unterstützt und dann westfreundliche Regierungen installiert und befördert (wie das geleakte Nuland-Telefonat unterstreicht), während ein Bürgerkrieg im Osten der Ukraine ausbrach.

Testfall Kuba

Nichts von dem würden die USA an ihrer eigenen Grenze akzeptieren, siehe die Kuba-Krise von 1962, wo es wegen sowjetischer Raketenstationierungen fast zum Atomkrieg gekommen wäre. Oder nehmen wir die de-facto Okkupation des kubanischen Hafens Guantánamo durch die Vereinigten Staaten (in Form eines gewaltsam erzwungenen Pachtvertrags), inklusive illegalem Foltergefängnissystem.

Niemand regt sich im Westen darüber auf oder warnt vor der gefährlichen Appeasement-Strategie gegenüber den USA, die Kuba seit Jahrzehnten mit einem unerbittlichen Embargo strangulieren und einen Teil ihres Territoriums besetzt halten, trotz Protesten. In diesem Fall, wie in vielen anderen, setzt die Weltgemeinschaft, einschließlich der Europäer, auf Appelle und UN-Resolutionen, die Washington jedoch ignoriert.

Nicht mit Kriegsverbrechern verhandeln

Es wird von den Diplomatie-Kritikern auch immer wieder erklärt, dass man nicht mit Kriegsverbrechern verhandeln dürfe. Man verweist dabei auf den britischen Kriegs-Premier Winston Churchill, der auf Härte setzte. 1940 sagte er vor dem britischen House of Commons: "Ein Appeasement-Politiker ist jemand, der ein Krokodil füttert, in der Hoffnung, dass es ihn als Letztes frisst."

Nicht mit Kriegsverbrechern zu verhandeln, ist jedoch eine absurde Doktrin – und voller Doppelstandards. Man muss nicht in die koloniale Geschichte Europas und Nordamerikas zurückgehen, um die Absurdität zu erkennen.

Die Historie des US-Imperialismus nach 1945 reicht. Alle US-Präsidenten sind nach gängigen Standards Kriegsverbrecher, ebenso wie die Unterstützer ihrer kriminellen Akte. Vielleicht sollte die Welt daher nicht mehr mit westlichen Regierungen sprechen oder gar verhandeln, weil das Appeasement ist und sie ermuntert, weiterzumachen.

Diplomatie als Königsweg zum Frieden

Verhandeln mit Kriegsverbrechern ist jedoch notwendig, um Konflikte zu entschärfen und Frieden herzustellen, wenn eine militärische Lösung nicht erreichbar und alles nur schlimmer macht, während ein Kompromiss, auch wenn ungerecht, ein größeres Übel bannen kann. Das wurde und wird auch ständig getan. Weil Aggressoren nun einmal im Zentrum von Konflikteskalationen stehen.

Sollten die Palästinenser etwa nicht mehr mit den der Netanjahu-Regierung sprechen, weil der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ein Kriegsverbrecher ist, auf den der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl ausgestellt hat. Oder sollte Israel nicht mehr mit der Hamas über einen Waffenstillstand verhandeln, weil Hamas-Milizen Israel überfallen haben?

Diplomatie ist der Königsweg zum Frieden. So verhandelte die saudische Regierung, eine extrem repressive Monarchie, die immer wieder Hinrichtungsorgien durchführt und brutal über viele Jahre gegen den Jemen Krieg führte, über ein Ende des Krieges dort.

Putin ist nicht zu trauen

Schließlich wird gesagt, dass man Putin nicht vertrauen könne. Aber das ist auch gar nicht notwendig. Jede Friedensdiplomatie startet mit Misstrauen zwischen den verfeindeten Parteien. Ein wichtiger Bestandteil der Gespräche ist es daher, durch geeignete Sicherheitsmechanismen und Vorkehrungen bloßes Vertrauen in die andere Seite überflüssig zu machen.

Die Welt ist leider nicht perfekt und voller Gewalt. Abstrakter moralischer Absolutismus (Schwarz-Weiß) hilft da nicht weiter, wir müssen uns jeden Einzelfall genau anschauen, die Historie des Konflikts sowie die Missstände beurteilen sowie die jeweiligen Möglichkeiten abwägen hinsichtlich der Folgen.

Etwas Richtiges intendieren (z. B. eine Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen), aber im Zuge dessen zusätzliche Ungerechtigkeit und Leid, ein größeres Übel und inakzeptable Menschheitsrisiken zu verursachen, ist keineswegs moralisch, sondern letztlich unmenschlich –siehe Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas.

Prinzipien- vs. Verantwortungsethik

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist ein schweres Kriegsverbrechen. Moskau hat ohne Frage die Verpflichtung, den Krieg zu beenden. Und die Ukraine hat das Recht, sich gegen die Besatzung militärisch zu wehren. Soweit die Prinzipien.

Aber ob es klug ist und in Hinsicht auf die Auswirkungen sowie Gefahren moralisch vertretbar, den Stellvertreterkrieg an der Grenze Russlands mit dem Ziel weiterzuführen, um die russischen Streitkräfte aus der Ukraine zu vertreiben (was nicht möglich ist, es ist ein nicht gewinnbarer Krieg) sowie Moskau militärisch, und wenn es nicht anders geht, auch mit Nato-Truppen, einen Siegfrieden aufzuzwingen (inklusive einer Kopie des Versailler Vertrags) steht auf einem anderen Blatt.

Immer mehr und schwerere Waffen, sogar eigene Truppen für einen auf absehbare Zeit unerreichbaren, mit viel Zerstörung verbundenen Sieg zu liefern, aber keinerlei Gespräche, Diplomatie und Kompromisse zuzulassen: Das ist angesichts der Folgen und der Alternativen jedenfalls eine inakzeptable Strategie und Rezept für einen möglichen Weltuntergang. Es ist aber immer noch die Denkweise, die in den europäischen Hauptstädten vorherrscht.

Die Folgen der Kriegseskalation in der Ukraine mit dem Ziel, Russland zu besiegen, sind weitreichend und dramatisch. Viele Fachleute und Friedensaktivisten haben vor dem Kurs gewarnt, in Europa und auch in den USA – darunter der amerikanische Ex-Außenminister Henry Kissinger, der keineswegs bekannt ist für Appeasement, siehe seinen genozidalen Befehl als Nationaler Sicherheitsberater im Vietnamkrieg– "Alles, was fliegt, auf alles, was sich bewegt" –, der zu nichts führen kann, außer zu wachsendem Elend und der Bedrohung des Weltfriedens.

Die Schuld des Westens

Hunderttausende Tote und Verletzte, massive Zerstörungen, Versorgungskrisen im Globalen Süden und ständiges Hochstufen der Atomkriegsgefahr später stehen wir nun im Schlamassel, während die Vertreter des "No-Appeasement" weiter Durchhalteparolen ausgeben und zur historischen Militarisierung ohne strategisches Konzept aufrufen, nur dass nun die USA einen Deal wollen und man in London, Paris, Brüssel und Berlin in Panik verfällt.

Fakt ist: Der Krieg ist der Wahnsinn, nicht seine Beendigung in einem machbaren diplomatischen Kompromiss. Russland trägt die Verantwortung für die kriegerische Verwüstung in der Ukraine, so wie die USA für ihre weit schlimmeren Verwüstungen überall auf der Welt. Das versteht sich von selbst.

Aber der Westen und die US-geführte Nato tragen auch Verantwortung, da sie den Konflikt provoziert und seine Entschärfung sowie eine mögliche Beendigung des Krieges blockiert haben. Solange sie das tun, sind sie kein neutraler Beobachter, auch kein Friedensstifter, sondern ein Akteur, der alles noch schlimmer macht.

Die westliche Verantwortung für den Konflikt ist keine bloße Meinung, sondern die Einschätzung von Historikern und einer Vielzahl prominenter politischer Intellektueller seit den 1990er-Jahren, darunter führende US-amerikanischen Hardliner sowie die oberste Riege des diplomatischen US-Korps, die sich mit Russland auskennen, von George Kennan und Reagans Botschafter in Russland, Jack Matlock, über den kriegerischen Verteidigungsminister Robert Gates unter Bush II. bis zum CIA-Chef der Biden-Regierung, William Burns, sowie viele andere prominente Vertreter.

Ukraine-Krieg: Von wegen Appeasement

Was eine Befriedung der Ukraine angeht: Es hätte schon früh Lösungen gegeben. Die USA hätten erst gar nicht damit beginnen sollen, Russland unter Druck zu setzen mit der von ihnen gepushten Nato-Erweiterung bis in die Ukraine und der politisch-militärischen Einmischung in die Region, dann wäre der Konflikt erst gar nicht eskaliert.

Seit der russischen Invasion hat man dann einen Schattenkrieg gegen Russland gestartet und die ukrainischen Streitkräfte in historisch beispiellosem Ausmaß militärisch zu einem Bollwerk des Westens aufgebaut. Die Ukraine ist nun zum größten Waffenimporteur der Welt aufgestiegen.

Der Krieg ist also längst da, seit über zehn Jahren (inklusive des Bürgerkriegs ab 2014) Hunderttausende Tote, also kein Appeasement gegenüber Russland weit und breit zu sehen, im Gegensatz zu 1938. Dass es Gott sei Dank bisher "nur" bei einem Stellvertreterkrieg geblieben ist (also keine Nato- und US-Truppen gegen russische kämpfen), ist offensichtlich: Russland ist eine Atommacht.

Daher ist der Vergleich mit Hitler und der Appeasement-Politik von 1938 nicht nur historisch relativierend und falsch (was die Kriminalität des Nazi-Regimes, Ambition und Machtreichweite angeht), sondern blendet aus, was sich seit 1938 gravierend verändert hat. Denn Hitler hatte keine 5.580 Atomsprengköpfe.

Moralische Blindheit gegenüber den Folgen

Ähnliches gilt für die USA: Eine russische Eskalation im Irak während der illegalen US-Invasion und -Besatzung wäre aus gleichem Grund Wahnsinn und ein unverantwortliches Spiel mit dem Atomkriegsfeuer gewesen, ganz zu schweigen von den kriegerischen Eskalationsspiralen, die das erzeugt hätte.

Der Krieg – auch wenn die Ukraine weiter mit Waffen geflutet werden sollte – wird mit jedem weiterem Jahr Russland in die Karten spielen, wie uns Militärexperten und ukrainische Befehlshaber seit Jahren sagen, die sich die Realität anschauen und nicht das Sein vom Sollen ableiten. Das hat sich auch nach der versandeten Frühlingsoffensive Kiews im Jahr 2023 bestätigt, da die Ukraine demografisch, ökonomisch und militärisch nicht mit Russland mithalten kann, trotz historischer Unterstützung des Westens.

Es könnte am Ende sogar ein Kollaps der Ukraine drohen, auch dieses Szenario muss moralisch abgewogen werden. Letztlich heißt Kriegsfortführung endloser Zermürbungskrieg mit immer mehr Toten, Verstümmelten, allgemeiner Verwüstung und gefährlicher Instabilität, die jederzeit in den (atomaren) Weltkrieg kippen kann.

Der zentrale Unterschied zu 1938

Das ist der Grundunterschied zu 1938, wo fehlende militärische Entschlossenheit den Weg ebnete zum Weltkrieg, wohingegen heute fehlende diplomatische Entschlossenheit die Türen öffnet zu militärischer Vernichtung und einem möglichen Weltkrieg mit atomarem "Game Over".

Es gab und gibt weiter zwei Optionen im Ukraine-Krieg: Diplomatie oder möglicher dritter Weltkrieg. Das schwebt seit über drei Jahren über unseren Köpfen. Der einzige Weg aus der Misere sind Verhandlungen und Kompromisse, wobei beide Seiten in den Prozess mit einbezogen werden müssen.

Die einzige Weise herauszufinden, ob Putin es ernst meint und eine Lösung tatsächlich will (wie er immer wieder erklärt hat), ist, ihn zu testen. Das hat jetzt begonnen, und es sollte begrüßt werden, selbst wenn Trump eigene geopolitische Interessen verfolgt und die US-Dominanz gegen China stärken möchte.

Der schwere Weg zum Frieden

Es wird ein sehr schwieriger, komplexer, sicherlich langwieriger Prozess, der jederzeit scheitern kann – beide Seiten brauchen Kompromissbereitschaft. Ohne die geht es nicht.

Wenn die ukrainische Seite unterstützt von den Europäern Verhandlungen jedoch weiter boykottieren (was die USA ebenfalls lange getan haben), indem sie unerfüllbare Bedingungen an die Gespräche knüpfen (Russland müsse sich komplett aus der Ukraine zurückziehen, Stationierung von Nato-Truppen in der Ukraine usw.) und die militärische Lage nicht beachten, dann wird Putin wahrscheinlich den Krieg fortführen, weil er am längeren Hebel sitzt.

Was realistische Bedingungen für Verhandlungen sind, haben Experten mit verschiedenen Ansätzen und Szenarien entwickelt. Es gibt auch das Kommuniqué von Istanbul von April 2022, auf dem aufgebaut werden könnte. Nichts davon erscheint abwegig und unerreichbar (wenn auch letztlich ungerecht für die Ukraine, was die territoriale Frage angeht), wenn der Wille zum Frieden wichtiger erscheint als Beharren auf Unerreichbarem.

"Verrat an der Ukraine", neues "Jalta-Abkommen"

Wir werden sehen, wie sich die Gespräche entwickeln. Man kann nur hoffen, dass es einen Waffenstillstand gibt und dann, weit wichtiger, echte Verhandlungen daran anschließen, die die Kämpfe dauerhaft in einer Einigung beenden oder doch den Konflikt zumindest einfrieren können.

In großen Teilen der Öffentlichkeit in Europa und den USA herrscht jedoch weiter eine aufgeheizte Stimmung. Es wird von "Verrat an der Ukraine" und einem neuen "Jalta-Abkommen" gesprochen.

Ein vollkommen überzogener Vergleich: Damals wurde am Ende des 2. Weltkriegs eine starre strategische und ideologische Linie Mitten durch Europa und Deutschland gezogen. Ein Kompromissfrieden in der Ukraine wird eine Linie zwischen einigen Provinzen in der Ostukraine ziehen, weit entfernt von den westlichen Hauptstädten in Europa.

Ostukraine ist nicht Sudentenland

Es wird, ich wiederhole mich, schwer werden, wenn der Westen die Ukraine weiter benutzen will, um Russland zu schwächen, ein westliches Nato- oder sonstiges militärisches Bollwerk an der russischen Grenze zu errichten und Moskaus Interessen nicht bei der Lösung miteinbezieht.

Wir sollten endlich begreifen, dass die Ostukraine nicht das Sudentenland ist: sonst wird aus dem Kampf um rund 20 Prozent der Ukraine der Weg geebnet zu einem möglichen dritten Weltkrieg.