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Ukraine-Krieg: Wie lautet die Friedensformel?

Der ukrainische Präsident Selenskyj will einen Gipfel für seine Formel. Ex-US-Außenminister Kissinger schlägt einen Friedensprozess vor, mit Verhandlungen und Abstimmungen. Den Unterschied macht die Rolle Russlands.

Weihnachten naht, das "Fest des Friedens". Die Aussichten, dass der bittere Krieg in der Ukraine absehbar beendet wird, sind finster. Fällt das Wort "Friedensverhandlungen", fällt auch schon der Vorhang. Die militärische Lösung ist bis auf weiteres alternativlos, so der Eindruck, der sich aus den Berichten zum Ukrainekrieg und zum Thema "Friedensverhandlungen" der letzten Wochen aufdrängt.

"Ich bin nicht optimistisch, was die Möglichkeit von wirksamen Friedensgesprächen in der unmittelbaren Zukunft betrifft", wird der UN-Generalsekretär António Guterres heute zitiert. Er hofft darauf, dass der Druck wächst.

Dass die "schwerwiegenden Folgen des Krieges für die Menschen in der Ukraine, für die russische Gesellschaft und für die Weltwirtschaft, besonders in Entwicklungsländern", Gründe dafür geben, "alles zu tun, was möglich ist, um für eine friedliche Lösung vor dem Ende des Jahres 2023 [1] zu sorgen".

Aber wie soll die friedliche Lösung aussehen? Die Frage steht frostig da; es gibt keine Bewegung hin zu Verhandlungen. Es gilt das "no go", das mit dem Begriff "Diktatfrieden" verbunden ist. Keine Konzessionen an den Angreifer Russland einerseits; auf der anderen Seite wird daran erinnert, dass es keine Friedensregelungen ohne Verhandlungen gibt.

Nur wenn Russland eine vollständige militärische Niederlage einräumen muss, gibt es Aussichten auf Friedensverhandlungen, die der angegriffenen Ukraine Gerechtigkeit widerfahren lässt?

Es geht nicht nur um die Ukraine

Es geht aber nicht nur um die Ukraine, sondern um eine Friedensordnung in einem größeren Rahmen. Das wird auch vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj, der sich zur Fußball-WM mit Vorschlag zu einem "Gipfel über eine Friedensformel‘" [2]meldete, mehrfach angesprochen.

So sieht er die Ukraine als Vorposten der Verteidigung westlicher und demokratischer Werte. Überdeutlich wird der größere Horizont des Krieges, wenn es um die nukleare Bedrohung durch die Atommacht Russland geht, wie sie Selenskyj in seinem Zehn-Punkte-Vorschlag zum Frieden [3] anspricht, den er zum G20-Gipfel vorstellte.

Aber auch bei Punkt acht, der die Bedrohung des Ökozid infolge des Krieges betrifft, spricht Selenskyj von einer Herausforderung, die weit über die Grenzen der Ukraine hinausgeht: "Dies ist nicht nur ein ukrainisches Problem. Dies ist eine Herausforderung für die ganze Welt."

Nachkriegs-Sicherheitsarchitektur

Auch der ukrainische Präsident spricht in seiner Adresse an den G20-Gipfel Mitte November das Thema einer "Nachkriegs-Sicherheitsarchitektur im euro-atlantischen Raum an.

Er plädiert für eine "internationale Konferenz, die die Schlüsselelemente der Nachkriegs-Sicherheitsarchitektur festigen solle, "einschließlich Garantien für die Ukraine". Dass Russland an dieser Konferenz teilnehmen sollte, erwähnt er nicht.

Seine Vorstellungen lauten:

Russland muss alle seine Truppen und bewaffneten Verbände aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine abziehen. Die Kontrolle der Ukraine über alle Abschnitte unserer Staatsgrenze zu Russland muss wiederhergestellt werden.

Wolodymyr Selenskyj [4]

Das Ende sieht er so: Wenn alle Antikriegsmaßnahmen, die er in seinem Zehn-Punkte-Papier vorstellt, umgesetzt seien, "wenn Sicherheit und Gerechtigkeit wiederhergestellt" sind, dann sollte ein Dokument, "das das Ende des Krieges bestätigt, von den Parteien unterzeichnet werden". Also auch von Russland.

Wann aber wäre Russland dazu bereit?

Der französische Präsident Macron machte jüngst den Vorschlag, Russland in Verhandlungen über eine künftige Sicherheitsarchitektur nicht nur einzubeziehen, sondern auch dessen Sicherheitsgarantien zum Thema zu machen: "Wir müssen uns darauf vorbereiten, wie wir unsere Verbündeten und die Mitgliedsstaaten schützen, indem wir Russland für seine Sicherheit Garantien geben – an dem Tag, an dem es an den Verhandlungstisch zurückkehrt." (vgl. Diplomatie und Ukraine-Krieg: Macron will auch Sicherheitsgarantien für Russland bedenken [5]).

In der Reaktion darauf gab es starke Entrüstung.

Nun präsentiert auch Henry Kissinger einen Vorschlag zu einem Friedensprozess [6], um den Krieg in der Ukraine zu beenden und eine stabile Friedensordnung zu schaffen, veröffentlicht im britischen Magazin The Spectator.

Kissinger: Russland einbeziehen

Für den Politiker, der auf lange Jahre der Erfahrung in politischen Ämtern [7], etwa als US-Außenminister, und als Berater und politischer "Weltordnungstheoretiker" zurückblickt, ist es keine Frage, dass Russland in Gespräche über eine neue Sicherheitsarchitektur einbezogen werden sollte.

Das Ziel eines Friedensprozesses wäre ein zweifaches: die Freiheit der Ukraine zu bestätigen und eine neue internationale Struktur, insbesondere für Mittel- und Osteuropa, zu definieren. Letztendlich sollte Russland einen Platz in einer solchen Ordnung finden.

Manche bevorzugen ein Russland, das durch den Krieg ohnmächtig geworden ist. Dem stimme ich nicht zu. Trotz seiner Neigung zur Gewalt hat Russland über ein halbes Jahrtausend lang entscheidende Beiträge zum globalen Gleichgewicht und zur Machtbalance geleistet. Seine historische Rolle sollte nicht herabgewürdigt werden.

Henry Kissinger [8]

Nun könnte man dies als einen etwas abgerückten, altersmilden, von keiner aktuellen und konkreten Kriegszumutung belästigten Rückblick eines fast hundertjährigen Politikers sehen, der in seiner Karriere auch eine Neigung zur Politik mit Gewalt [9] hatte, aber es damit abzutun, wäre zu einfach. Kissinger hat auch Argumente. In die "russophil voreingenommene" Ecke passt er mit seinem Vorschlag nicht.

Kissinger plädiert dafür, dass die Ukraine nicht neutral wird. Die Alternative der Neutralität sei nach dem Nato-Beitritt Finnlands und Schweden "nicht mehr sinnvoll".

Er spricht sich für eine Waffenstillstandslinie aus – "entlang der bestehenden Grenzen, an denen der Krieg am 24. Februar begann" –, dafür, dass Russland seine Eroberungen, die es mit seiner militärischen Invasion gemacht hat, aufgibt. Aber, so Kissinger, "nicht aber das Gebiet, das es vor fast einem Jahrzehnt besetzt hatte, einschließlich der Krim".

Anschließend an einen Waffenstillstand müsse es Verhandlungen über genau dieses Gebiet geben:

Wenn die Vorkriegsgrenze zwischen der Ukraine und Russland weder durch Kampfhandlungen noch durch Verhandlungen erreicht werden kann, könnte der Rückgriff auf den Grundsatz der Selbstbestimmung erwogen werden.

International überwachte Volksabstimmungen über die Selbstbestimmung könnten auf besonders geteilte Gebiete angewandt werden, die im Laufe der Jahrhunderte wiederholt den Besitzer gewechselt haben.

Henry Kissinger [10]

Sollten die Streitpunkte nicht über solche Verhandlungen gelöst werden und stattdessen eine militärische Lösung angestrebt werden, die das vorrangige Ziel hat, Russland militärisch möglichst stark zu schwächen, so droht nach Ansicht des früheren US-Außenpolitikers ein neues großes Konfliktgelände – entweder durch eine nukleare Eskalation oder durch eine Auflösung der russischen Föderation:

Russlands militärische Rückschläge haben seine globale nukleare Reichweite nicht beseitigt, die es ihm ermöglicht, mit einer Eskalation in der Ukraine zu drohen. Selbst wenn diese Fähigkeit verringert wird, könnte die Auflösung Russlands oder die Zerstörung seiner Fähigkeit zu strategischer Politik sein 11 Zeitzonen umfassendes Territorium in ein umkämpftes Vakuum verwandeln.

Seine konkurrierenden Gesellschaften könnten beschließen, ihre Streitigkeiten mit Gewalt beizulegen. Andere Länder könnten versuchen, ihre Ansprüche mit Gewalt auszuweiten. All diese Gefahren würden durch das Vorhandensein von Tausenden von Atomwaffen, die Russland zu einer der beiden größten Atommächte der Welt machen, noch verstärkt werden.

Henry Kissinger [11]

Zuletzt kommt Kissinger noch auf eine weitere Eskalationsmöglichkeit zu sprechen, die deutliche Spuren seiner Beschäftigung in den vergangenen Jahren mit KI zeigt:

Während sich die Staats- und Regierungschefs der Welt bemühen, den Krieg zu beenden, in dem zwei Atommächte gegen ein konventionell bewaffnetes Land antreten, sollten sie auch darüber nachdenken, welche Auswirkungen die aufkommende Hochtechnologie und künstliche Intelligenz auf diesen Konflikt und auf die langfristige Strategie haben.

Es gibt bereits autonome Waffen, die in der Lage sind, ihre eigenen wahrgenommenen Bedrohungen zu definieren, zu bewerten und ins Visier zu nehmen, und die somit in der Lage sind, ihren eigenen Krieg zu beginnen.

Henry Kissinger [12]

Das macht nun tatsächlich den Anschein eines etwas abgehobenen Panorama-Blick eines Politikers im Alterssitz, aber eine Eigendynamik des Konflikts, die vorderhand nichts mit KI-Steuerung zu tun hat, ist ein wichtiges Thema beim Ukraine-Krieg: Der Showdown der Waffensysteme, die Geschäfte der Waffenhersteller und die vielen, unaufhörlichen Bestellungen. Was für eine Bescherung.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7434120

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.dw.com/de/ukraine-aktuell-selenskyj-zieht-blutige-bilanz/a-64158759
[2] https://overton-magazin.de/top-story/selenskij-und-seine-friedensformel/
[3] https://www.president.gov.ua/en/news/ukrayina-zavzhdi-bula-liderom-mirotvorchih-zusil-yaksho-rosi-79141
[4] https://www.president.gov.ua/en/news/ukrayina-zavzhdi-bula-liderom-mirotvorchih-zusil-yaksho-rosi-79141
[5] https://www.heise.de/tp/features/Diplomatie-und-Ukraine-Krieg-Macron-will-auch-Sicherheitsgarantien-fuer-Russland-bedenken-7366717.html
[6] https://www.spectator.co.uk/article/the-push-for-peace/
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Kissinger
[8] https://www.spectator.co.uk/article/the-push-for-peace/
[9] https://www.history.com/news/henry-kissinger-vietnam-war-legacy
[10] https://www.spectator.co.uk/article/the-push-for-peace/
[11] https://www.spectator.co.uk/article/the-push-for-peace/
[12] https://www.spectator.co.uk/article/the-push-for-peace/