Ukraine-Krieg und Geopolitik: Jürgen Habermas zur Zukunft Europas
Jürgen Habermas bei einer Diskussion in der Hochschule für Philosophie München. Bild von 2007: Wolfram Huke / CC BY-SA 3.0 Deed
Wie Deutschlands bekanntester Denker die Situation zurechtrückt. Drei Thesen zur neuen Europa-Debatte sowie eine gewaltige Frage, von der niemand spricht.
Wie dem auch sei, Europa ist noch immer der kleinste Teil der Welt; doch hat es, wie Montesquieu im "Geist der Gesetze" anmerkt, eine solche Macht erlangt, dass sich in der Geschichte fast nichts mit ihm vergleichen lässt, wenn man die ungeheuren Ausgaben betrachtet, die Höhe der Verpflichtungen, die Zahl der Truppen & die Stetigkeit ihres Unterhalts, auch wenn sie völlig nutzlos sind & man sie nur aus Prahlerei beibehält.
Im Übrigen ist es unwichtig, dass Europa in Hinsicht auf die Größe des Terrains der kleinste der vier Erdteile ist, da es im Hinsicht auf seinen Handel, seine Seefahrt, seine Fruchtbarkeit, die Aufgeklärtheit und den Fleiß seiner Völker der angesehenste ist, ebenso durch die Kenntnis der Künste, der Wissenschaften, der Handwerker...
Artikel "Europa" in der Enzyklopädie, hrsg. von Diderot und d'Alembert, 1751
Er wird zwar in wenigen Wochen 96 Jahre alt, aber er ist jünger und energiegeladener als viele jener Kollegen, die seine Enkel und Urenkel sein könnten: Jürgen Habermas, der letzte Vertreter der zweiten Generation der Kritischen Theorie, ehemaliger Assistent von Adorno und Horkheimer und der weltweit bekannteste und einflussreichste deutsche Denker. Nie war er so wertvoll wie heute.
Habermas ist zu verdanken, dass es gerade wieder eine kleine Europa-Debatte gibt, mitten in Europa unter Intellektuellen verschiedener Länder.
Gebrauchsanweisungen für die EU
"Für Europa" heißt der doppelseitige Essay, den Habermas am 22. März im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte.
Man kann der SZ danken, dass sie dem Denken des Philosophen regelmäßig Raum gibt. Zum dritten Mal seit Beginn des Ukraine-Kriegs rückt Habermas in der Zeitung die Situation zurecht und stellt sie in einen größeren historischen wie geschichtsphilosophischen Zusammenhang.
Diese Stellungnahmen gehören, wie auch seine übrigen öffentlichen Wortmeldungen zu gesellschaftspolitisch virulenten Problemen, zu den meistdiskutierten und wichtigsten Texten der vergangenen Jahrzehnte.
"Für Europa" – das ist ganz einfach und ganz klar und zugleich in mehrfachem Sinn gemeint: Der Text ist als ein Geschenk gedacht, das Europa dargereicht wird, ein Angebot an die Europäer und die Institutionen der EU, die Gebrauchsanweisungen, die ihnen aufgeführt sind, ernst zu nehmen.
Er bezeichnet zugleich die weltanschauliche wie politische Position von Habermas selbst, aber auch das Verlangen, dass die Europäer diese Position einnehmen. Der Essay ist also auch ein Appell an die Vernunft.
Drei Thesen: Ende des Westens, Europas Blindheit, Nibelungentreue gegenüber Ukraine
Der Westen als politische Größe ist mit Donald Trumps Regierungsantritt "und dem damit in Gang gekommenen Systemwechsel der USA zerfallen", diese pessimistische Sicht teilt Habermas mit vielen Beobachtern.
Ein Epochenbruch ohne Frage, mit tiefgreifenden Konsequenzen. Warum? Nicht weil es etwa Europa so schlecht ginge, sondern weil die USA eine "absteigende Supermacht" sind. Und falls die EU keine Strategie findet, um mit diesem Abstieg umzugehen, droht sie in dessen Strudel zu geraten.
Tatsächlich läuft Habermas Argumentation darauf hinaus, dass sich die EU von den USA befreien muss. Das ist allerdings nicht originell. Andere haben Ähnliches viel früher gesagt.
"Ganz in die Hand der ukrainischen Regierung gegeben"
Habermas nutzt seinen Text vor allem für eine Kritik an der europäischen und speziell der deutschen Politik. Von unverständlicher Kurzsichtigkeit und Blindheit gegenüber vorhersehbaren Entwicklungen spricht er, aber nicht nur im Verhältnis zu den USA, sondern etwa auch im Verhältnis zur Ukraine:
Unverständlich war es, wie sich die Europäer in der trügerischen Annahme eines intakten Bündnisses mit den USA ganz in die Hand der ukrainischen Regierung gegeben, nämlich ohne eigene Zielsetzung und ohne eigene Orientierung auf eine unbedingte Unterstützung der ukrainischen Kriegsführung eingelassen haben.
"Unverzeihliche" politische Fehler hätten vor allem die deutschen Regierungen gemacht. In blindem Vertrauen auf die "Einheit des Westens" seien sie der Notwendigkeit ausgewichen, Europa eigenständiger und politisch wie militärisch handlungsfähiger zu machen.
Der entscheidende Bruch in den USA
Spätestens die Wahl von Trump 2016 hätte, so Habermas, "den Blick der Europäer auf die Erschütterung politischer Institutionen in den USA lenken sollen".
Historisch sieht Habermas den entscheidenden Bruch um die Jahrtausendwende mit dem Regierungsantritt von George W. Bush durch das "zweifelhafte Urteil des Supreme Court gegen Al Gore" und dem Terrorangriff des 11. September, der das politische Klima in den USA radikal verändert und von der idealistischen Perspektive weggeführt habe.
Fortan ähnelten den USA tatsächlich mehr und mehr dem Bild, das ihre Feinde schon immer von ihr gezeichnet hatten: völkerrechtswidrige Angriffskriege und Militärschläge, die Erlaubnis von Folterpraktiken, die Einrichtung eines Konzentrationslagers in Guantánamo.
Auch innenpolitisch setzte da – oder vielleicht doch schon in den früheren 1990ern mit der Entstehung der Tea Party? – eine "plebiszitäre Unterwanderung" der Republikanischen Partei und der US-Demokratie ein.
Gespenstische Triumphe und Namensgebungen
Den zweiten entscheidenden Bruch der Einheit des Westens sieht Habermas im Ausbruch des Ukraine-Kriegs 2022.
Sein Text ist eine Fundgrube an präzisen Formulierungen und Beobachtungen, differenzierten Gedanken, die man sich zumindest ansatzweise auch von professionellen politischen Kommentatoren hierzulande gewünscht hätte, aber kaum geboten bekommt.
So etwa, wenn Habermas von der "irritierenden" öffentlichen Unempfindlichkeit für den Ausbruch militärischer Gewalt in Europa spricht. Wenn er über deutsche Politiker spottet, "die eine aus guten Gründen postheroische Jugend mit der Wiederbelebung der Wehrpflicht aufmöbeln wollen".
Oder wenn er vom "gespenstisch selbstzufriedenen Triumph", wenn er über die Einheit des Westens, der eigentlich schon "hirntoten" (Macron) Nato nach Kriegsausbruch schreibt – bis hin zum ätzenden Kommentar über die Rhetorik der neuesten Reparaturversuche:
Nebenbei bemerkt, scheint sich bei dieser "Koalition der Willigen" niemand an der Adoption eines Namens, den George W. Bush für seinen völkerrechtswidrigen Krieg eingeführt hatte, zu stören.
Seine Skepsis gegenüber der öffentlichen Lesart des Ukraine-Kriegs und der russischen Absichten macht Habermas nur vornehm zurückhaltend deutlich:
Über die konkurrierenden Einschätzungen der Vorgeschichte und der möglichen Vermeidbarkeit des russischen Überfalls auf die Ukraine werden die Historiker erst mit dem erforderlichen Zeitabstand ihr Urteil fällen können.
Aber ein realistisches Nachdenken über die Risiken eines längeren Krieges wäre schon nötig gewesen – auch daran lässt er keinen Zweifel: "Es fehlte der kritische Blick für die Gefahr eines Bruchs mit dem bisherigen Weltwirtschaftssystem und einer bis dahin noch mehr oder weniger ausbalancierten Weltgesellschaft."
Der Ukraine-Krieg hat die geopolitischen Kräfteverschiebungen vor allem beschleunigt und der Politik der "strategisch klugen chinesischen Regierung" recht gegeben.
Das deutsche Versagen
Im Blick auf Europa beobachtet Habermas besonders ein Versagen Deutschlands, seiner politischen Klasse und seiner Medien: Die öffentliche Stimmung und die Haltung der Politiker habe sich – "auch forciert von einer einseitigen politischen Meinungsbildung" – in eine gegenseitige Verfeindung mit dem Aggressor hineinziehen lassen.
Habermas lehnt jede Militarisierung des Denkens ab:
Mich erschreckt, von welchen Seiten die deutsche Regierung, die sich nun zu einer beispiellosen Aufrüstung des Landes anschickt, gedankenlos oder gar ausdrücklich mit dem Ziel der Wiederbelebung einer zu Recht überwunden geglaubten militärischen Mentalität unterstützt wird.
In einem Punkt haben sowohl Angela Merkel wie auch Olaf Scholz nicht nur in den Augen des Philosophen außerdem eklatant versagt:
Ignorant strafte Deutschland seit Merkel vor allem die Bemühungen Frankreichs ab.
Die deutsche Regierung stehe jetzt "freilich" vor einer ganz neuen Aufgabe: Mehr und tiefere europäische Integration sei nötig, "auf deren Vermeidung gerade die deutsche Bundesregierung unter Schäuble und Merkel beharrlich bestanden hatte, von der Ignoranz und Untätigkeit der Ampelregierung in Sachen Europa ganz zu schweigen".
Habermas fordert in einer geopolitisch in Bewegung geratenen und auseinanderbrechenden Welt eine selbstständig politisch handlungsfähige Europäische Union. Gerade auch, um ihre Macht auch für ihre Werte und Interessen einzusetzen.
Die Frage, von der niemand spricht
Der Elefant im Raum wird in Habermas' Essay offen benannt: "Kann die EU auf globaler Ebene als selbstständiger militärischer Machtfaktor wahrgenommen werden, solange jeder ihrer Mitgliedstaaten über Aufbau und Einsatz seiner Streitkräfte letztlich souverän entscheiden kann?" – das sei "eine Frage, von der bisher niemand spricht".
Wovon auch Habermas in seiner Forderung nach geopolitischer Selbstständigkeit, einer Bündelung der militärischen Kapazitäten der EU-Länder und seiner Anerkennung des Einsatzes militärischer Gewalt nicht spricht, ist eine weitere grundsätzliche Konsequenz: Ist Europa bereit, sich selbst als Weltmacht zu verstehen?
Nötiger Kulturimperialismus
Und, da es politische Macht nur im Verein mit kultureller und technischer Macht und vice versa gibt: Ist man auch bereit zu kulturimperialistischer Politik?
Also dazu, das, was de facto längst passiert – Verwestlichung mittels Filmen, Pop-Musik und technischen Gadgets – auch innerlich anzuerkennen und strategisch zu praktizieren?
Hoffen auf eine Portion "in den Kellern des Zweiten Weltkriegs gewachsenen Einsicht"
Dass das Vokabular der Geopolitik und ein Denken in ihren Kategorien ausgerechnet für Habermas zu einem zentralen Instrument der Gegenwartsanalyse geworden ist, unterstreicht den Ernst der Lage.
Norbert Frei
Unter den ersten Reaktionen auf Habermas' Essay, die das auslösten, was oben als "neue Europa-Debatte" bezeichnet wurde, sind vier Texte hervorzuheben.
Der deutsche Historiker Norbert Frei antwortete postwendend auf Habermas, ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung: "Der Westen, wie wir ihn kannten, ist weg. Der neue Text von Jürgen Habermas in der SZ vom Wochenende setzt hier an."
Frei erinnert an "das Revolutionäre an Adenauers Politik der Westbindung hinter einer künstlich erzeugten Nebelwand des Antikommunismus" und fordert von der kommenden Bundesregierung ein Anknüpfen an das Projekt der europäischen Integration und den damit einhergehenden Idealismus.
Zurück zur deutsch-französischen Freundschaft – was bei Habermas noch zwischen den Zeilen liegt, arbeitet Frei heraus – und hofft für die ganze deutsche Gesellschaft auf "eine Portion jener 'in den Kellern des Zweiten Weltkriegs gewachsenen Einsicht', über die ein Philosoph des Jahrgangs 1929 noch mühelos verfügt".
Denn dann sollte es auch "möglich sein, sich vorzustellen, was es hieße, wenn in vier Jahren die AfD in der Lage wäre, den Aufbau der stärksten, aber europäisch ungebundenen konventionellen Militärmacht Europas aus der Regierung heraus zu vollenden".
Die europäische Wende
Der in Paris lehrende Schweizer Politikwissenschaftler Joseph de Weck ist in der FAZ optimistischer.
Es sei "eine einzigartige Chance", dass die Europäer derzeit einander mehr vertrauen als den Amerikanern. Gerade heute sei die Zeit für jene Vision einer europäischen Öffentlichkeit gekommen, die Habermas bereits 2003 gemeinsam mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida in der Zeitung Libération entwickelt habe.
Joseph de Weck hofft auf ein Erstarken der EU, ja die "Wiedergeburt Europas".
Vor allem häufen die Europäer ein ganz anderes, wertvolleres Kapital an. Was in jüngster Zeit auf der psychologischen Ebene in den Kabinetten wie in weiten Teilen der Bevölkerungen geschah, läuft mitten in der Zeitenwende auf eine europäische Wende hinaus.
Die Nato sei inzwischen tatsächlich hirntot. Aber Europa müsse sich weiter vereinigen, nicht etwa nur als späte Konsequenz aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, sondern, "weil sie den nächsten europäischen Krieg fürchten und diesen abwenden möchten".
De Weck sieht sich hier durch Umfragen bestätigt, nach denen im Februar 2025 die Zustimmung zum europäischen Einigungsprojekt innerhalb der EU auf den Rekordwert von 74 Prozent gestiegen ist. Eine Verteidigungsunion bedeute aber auch einen Schritt zum Bundesstaat hin. Die Zeitenwende wird damit zur europäischen Wende.
"Europa hat ein neues, altes Friedensnarrativ", schreibt de Weck, "das Einstehen für liberale Demokratie, die Würde des Menschen, soziale Marktwirtschaft und für Freiheit statt Oligarchie à la Elon Musk: wider die testosterongetriebene Hybris. ... Populisten haben es jetzt schon schwerer, gegen die EU zu hetzen. ... Die europäische Wende erwischt extremistische und antieuropäische Politiker auf dem falschen Fuß."
"Ich empfinde jedoch keine Zugehörigkeit zur Europäischen Union"
Weitaus skeptischer sieht alles der in Genua lehrende Philosoph Paolo Becchi. Er nutzt einen Essay in der Berliner Zeitung, um unter Berufung auf rechte Denker wie Heidegger, Carl Schmitt und Ferdinand Tönnies zu erklären, "warum sich die EU wohl nie zu einer Gemeinschaft entwickeln wird".
Seine Argumente sind allerdings vor allem emotionale:
Ich bin in Genua geboren, doch hindert mich diese besondere Herkunft nicht daran, mich als Ligure und sogar als Italiener zu fühlen.
Ich empfinde jedoch keine Zugehörigkeit zur Europäischen Union (EU), auch wenn mich das nicht daran hindert, die deutsche Rechts- und Philosophiegeschichte zu schätzen, der ich große Teile meines intellektuellen Lebens gewidmet habe.
Wir seien eben keine "reinen Weltbürger" – dies hat allerdings auch niemand behauptet, so wie Habermas auch den nur in der deutschen Geistesgeschichte beliebten Ausdruck der Gemeinschaft bewusst nicht verwendet, sondern von Gesellschaft redet, und Joseph de Weck von Bundesstaat.
So wie Becchi sich selbst als Ligure und Italiener kennzeichnet, könnte Habermas auch sagen, dass er am Starnberger See lebt und Deutscher ist. Und de Weck als Schweizer, der in Frankreich lebt, vereint auch mehrere Identitäten – kein Grund also, die Notwendigkeit einer europäischen Einigung zu bestreiten.
Denn man soll, folgt man Habermas' Argumentation, ja nicht aus Liebe zu Europa die europäischen Nationalstaaten vereinen, sondern aus Not und Notwendigkeit.
So wie einst die italienischen Stadtstaaten einander bekämpften und ein Spielball im Konzert der Mächte des Spätmittelalters, der Franzosen, der Spanier und des katholischen Kirchenstaats waren – und die gelegentlichen Besuche deutscher Kaiser und ihrer Heere sind hier nicht mitgerechnet – so kann sich Becchi heute doch als Italiener fühlen, obwohl Ligurien nur mit militärischer Gewalt mit diesem "Zwangsstaat" vereint wurde.
Kein Europa ohne Aufklärung
Man könnte und müsste in diesem Zusammenhang also auch über die Aufklärung reden, die historische wie die überzeitliche.
Auch zu der heute zuendegehenden, sehenswerten Ausstellung "Was ist Aufklärung?" hat Habermas im Katalog einen neuen Text beigesteuert: Über den untrennbaren Zusammenhang zwischen europäischer Aufklärung und Öffentlichkeit, also einem freien Austausch über Medien.
Dazu mehr, bei Gelegenheit.