Ukraine-Krieg und Weltordnung: Die Sicht der anderen

Selbst bei Sieg der Ukraine: In multipolarer Welt muss Westen mit "feindlichen Diktaturen" und "unabhängigen Großmächten" leben. Über eine Umfrage der Denkfabrik ECFR.

Der neue Kalte Krieg mag im Westen eine gängige Kennzeichnung der gegenwärtigen geopolitischen Spannungen zwischen zwei Blöcken sein: dem des Westens unter Führung der USA einerseits und China und Russland auf der anderen Seite. In anderen Regionen gibt es davon aber abweichende Perspektiven auf die Weltlage.

"Im Gegensatz zur Meinung im Westen scheinen die Menschen in vielen nicht-westlichen Ländern zu glauben, dass die Ära nach dem Kalten Krieg beendet ist", ist in einem Papier des European Council on Foreign Relations (ECFR; Europäischer Rat für Auswärtige Beziehungen) zu lesen.

"Fragmentierung in eine multipolare Welt"

Während sich Europäer und US-Amerikaner darüber einig seien, "dass sie der Ukraine zum Sieg verhelfen sollten, dass Russland ihr erklärter Gegner ist und dass die kommende Weltordnung höchstwahrscheinlich von zwei Blöcken unter Führung der USA bzw. Chinas bestimmt werden wird", würde diese Sicht in nicht-westlichen Ländern mehrheitlich nicht geteilt.

Eine Polarisierung zwischen zwei Blöcken unter Führung der USA und Chinas werde als weniger wahrscheinlich angenommen als eine "Fragmentierung in eine multipolare Welt".

Das ist einer der hauptsächlichen Schlüsse, die der Think-Tank ECFR aus einer großangelegten Umfrage zieht.

Die Umfrage

Diese wurde im Dezember 2022 und Januar 2023 in neun EU-Ländern und Großbritannien sowie in China, Indien, der Türkei, Russland und den USA durchgeführt. Insgesamt haben fast 20.000 auf die Umfrage reagiert.

In europäischen Ländern, wo die Beteiligung zwischen 1.000 und 2.000 Teilnehmern lag, wird sie als repräsentativ gewertet, in China, Russland und Indien werden Einschränkungen gemacht.

Entstehung einer "post-westlichen internationalen Ordnung"

Im Großen ergibt sich laut den Verfassern des ECFR-Berichts zur Umfrage, darunter der bekannte Historiker Timothy Garton Ash, das Bild eine "Konsolidierung des Westens" infolge des Ukraine-Kriegs wie auch sich entwickelnde Vorstellungen einer "post-westlichen internationalen Ordnung".

Unbestritten, so heben es die Verfasser, angeführt werden neben Ash Ivan Krastev und Mark Leonard, heraus, sei, dass die russische Aggression ein Ereignis von globaler Bedeutung, allerdings würde dies von Menschen in verschiedenen Teilen der Welt "auf unterschiedliche Weise erlebt und interpretiert".

Folgende Unterschiede werden in der Zusammenfassung außer dem zu Anfang dieses Beitrags genannten hervorgehoben:

  1. Im Gegensatz zu Europäer und US-Amerikanern bevorzugen die Bürger in China, Indien und der Türkei ein schnelles Ende des Krieges, selbst wenn die Ukraine Gebiete abtreten muss.
  2. Die westlichen Entscheidungsträger sollten berücksichtigen, dass die Konsolidierung des Westens in einer zunehmend gespaltenen post-westlichen Welt stattfindet und dass aufstrebende Mächte wie Indien und die Türkei nach ihren eigenen Bedingungen handeln und sich nicht in einen Kampf zwischen den Vereinigten Staaten und China verwickeln lassen werden.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine habe "in vielen Teilen der Welt weniger dazu beigetragen, die Weltordnung neu zu definieren, als sie weiter ins Wanken zu bringen und neue Fragen darüber aufzuwerfen, wie dringende transnationale Herausforderungen bewältigt werden können", wird dazu der indische Politologe und Ex-Diplomat Shivshankar Menon gewissermaßen als Bestätigung von höherer Expertenwarte angeführt.

Mehrheiten in nicht-westlichen Ländern für Verhandlungen

Die Studie offenbart jedoch auch eine große Kluft zwischen dem Westen und dem "Rest", wenn es um die gewünschten Ergebnisse des Krieges geht, sowie unterschiedliche Auffassungen darüber, warum die USA und Europa die Ukraine unterstützen.

Eine beachtliche Kluft zwischen den Menschen im Westen und in nicht-westlichen Ländern zeige sich in der Umfragen darin, dass letztere eindeutig dafür seien, dass der Krieg sofort beendet werde – "selbst wenn dies bedeutet, dass die Ukraine Territorium abtreten muss".

Bei den in China Befragten spreche sich mit 42 Prozent die Mehrheit dafür aus. Noch deutlicher zeige sich diese Auffassung in der Türkei mit 48 Prozent und in Indien mit 54 Prozent. Erwähnenswert sei jedoch, dass "fast ein Drittel der Menschen in diesen beiden Ländern es vorziehen würde, dass die Ukraine ihr gesamtes Territorium zurückerhält, auch wenn dies einen längeren Krieg oder mehr ukrainische Tote und Vertriebene bedeutet".

Zum Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus

Das Überbau-Thema zum Krieg in der Ukraine, dass es um einen Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus gehe, wird in den "nicht-westlichen Ländern" anders gesehen, so der Think-Tank:

Auch wenn westliche Persönlichkeiten den Konflikt auf diese Weise darstellen mögen, um den Westen zu einen, so ist dies doch kein sicherer Weg, um die Bürger in nicht-westlichen Ländern anzusprechen. Im Gegenteil: In den Augen vieler Menschen außerhalb des Westens sind ihre eigenen Länder ebenfalls Demokratien - und vielleicht sogar die besten Demokratien.

Auf die Frage, welches Land einer "echten Demokratie" am nächsten kommt, antworten 77 Prozent der Chinesen mit "China" und 57 Prozent der Inder mit "Indien".

ECFR

Weitere Ergebnisse unserer Umfrage würden zeigen, "dass die Menschen in China, Indien und der Türkei den Behauptungen über die Verteidigung der Demokratie skeptisch gegenüberstehen".

Ferner beobachtet die Umfrage, dass "für die große Mehrheit der Chinesen und Türken" die westliche Unterstützung für die Ukraine andere Gründe habe als die Verteidigung der territorialen Integrität der Ukraine oder ihrer Demokratie.

Unter den aufstrebenden Mächten bildet Indien eine Ausnahme, wo (ähnlich wie in den USA) mehr als die Hälfte der Befragten einen dieser beiden Gründe für die westliche Solidarität anführt. Der Mangel an Demokratie in Russland hindert die Inder jedoch nicht daran, eine allgemein positive Sicht auf das Land zu haben: 51 Prozent bezeichnen es als "Verbündeten" und weitere 29 Prozent sehen es als "Partner".

ECFR