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Ukraine-Krieg und Weltordnung: Die Sicht der anderen

Selbst bei Sieg der Ukraine: In multipolarer Welt muss Westen mit "feindlichen Diktaturen" und "unabhĂ€ngigen GroßmĂ€chten" leben. Über eine Umfrage der Denkfabrik ECFR.

Der neue Kalte Krieg mag im Westen eine gĂ€ngige Kennzeichnung der gegenwĂ€rtigen geopolitischen Spannungen zwischen zwei Blöcken sein: dem des Westens unter FĂŒhrung der USA einerseits und China und Russland auf der anderen Seite. In anderen Regionen gibt es davon aber abweichende Perspektiven auf die Weltlage.

"Im Gegensatz zur Meinung im Westen scheinen die Menschen in vielen nicht-westlichen LĂ€ndern zu glauben, dass die Ära nach dem Kalten Krieg beendet ist", ist in einem Papier des European Council on Foreign Relations [1] (ECFR; EuropĂ€ischer Rat fĂŒr AuswĂ€rtige Beziehungen) zu lesen.

"Fragmentierung in eine multipolare Welt"

WĂ€hrend sich EuropĂ€er und US-Amerikaner darĂŒber einig seien, "dass sie der Ukraine zum Sieg verhelfen sollten, dass Russland ihr erklĂ€rter Gegner ist und dass die kommende Weltordnung höchstwahrscheinlich von zwei Blöcken unter FĂŒhrung der USA bzw. Chinas bestimmt werden wird", wĂŒrde diese Sicht in nicht-westlichen LĂ€ndern mehrheitlich nicht geteilt.

Eine Polarisierung zwischen zwei Blöcken unter FĂŒhrung der USA und Chinas werde als weniger wahrscheinlich angenommen als eine "Fragmentierung in eine multipolare Welt".

Das ist einer der hauptsĂ€chlichen SchlĂŒsse, die der Think-Tank ECFR aus einer großangelegten Umfrage zieht.

Die Umfrage

Diese wurde im Dezember 2022 und Januar 2023 in neun EU-LĂ€ndern und Großbritannien sowie in China, Indien, der TĂŒrkei, Russland und den USA durchgefĂŒhrt. Insgesamt haben fast 20.000 auf die Umfrage reagiert.

In europÀischen LÀndern, wo die Beteiligung zwischen 1.000 und 2.000 Teilnehmern lag, wird sie als reprÀsentativ gewertet, in China, Russland und Indien werden EinschrÀnkungen gemacht [2].

Entstehung einer "post-westlichen internationalen Ordnung"

Im Großen ergibt sich laut den Verfassern des ECFR-Berichts zur Umfrage, darunter der bekannte Historiker Timothy Garton Ash, das Bild eine "Konsolidierung des Westens" infolge des Ukraine-Kriegs wie auch sich entwickelnde Vorstellungen einer "post-westlichen internationalen Ordnung".

Unbestritten, so heben es die Verfasser, angefĂŒhrt werden neben Ash Ivan Krastev und Mark Leonard, heraus, sei, dass die russische Aggression ein Ereignis von globaler Bedeutung, allerdings wĂŒrde dies von Menschen in verschiedenen Teilen der Welt "auf unterschiedliche Weise erlebt und interpretiert".

Folgende Unterschiede werden in der Zusammenfassung außer dem zu Anfang dieses Beitrags genannten hervorgehoben:

  1. Im Gegensatz zu EuropĂ€er und US-Amerikanern bevorzugen die BĂŒrger in China, Indien und der TĂŒrkei ein schnelles Ende des Krieges, selbst wenn die Ukraine Gebiete abtreten muss.
  2. Die westlichen EntscheidungstrĂ€ger sollten berĂŒcksichtigen, dass die Konsolidierung des Westens in einer zunehmend gespaltenen post-westlichen Welt stattfindet und dass aufstrebende MĂ€chte wie Indien und die TĂŒrkei nach ihren eigenen Bedingungen handeln und sich nicht in einen Kampf zwischen den Vereinigten Staaten und China verwickeln lassen werden.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine habe "in vielen Teilen der Welt weniger dazu beigetragen, die Weltordnung neu zu definieren, als sie weiter ins Wanken zu bringen und neue Fragen darĂŒber aufzuwerfen [3], wie dringende transnationale Herausforderungen bewĂ€ltigt werden können", wird dazu der indische Politologe und Ex-Diplomat Shivshankar Menon gewissermaßen als BestĂ€tigung von höherer Expertenwarte angefĂŒhrt.

Mehrheiten in nicht-westlichen LĂ€ndern fĂŒr Verhandlungen

Die Studie offenbart jedoch auch eine große Kluft zwischen dem Westen und dem "Rest", wenn es um die gewĂŒnschten Ergebnisse des Krieges geht, sowie unterschiedliche Auffassungen darĂŒber, warum die USA und Europa die Ukraine unterstĂŒtzen.

Eine beachtliche Kluft zwischen den Menschen im Westen und in nicht-westlichen LĂ€ndern zeige sich in der Umfragen darin, dass letztere eindeutig dafĂŒr seien, dass der Krieg sofort beendet werde – "selbst wenn dies bedeutet, dass die Ukraine Territorium abtreten muss".

Bei den in China Befragten spreche sich mit 42 Prozent die Mehrheit dafĂŒr aus. Noch deutlicher zeige sich diese Auffassung in der TĂŒrkei mit 48 Prozent und in Indien mit 54 Prozent. ErwĂ€hnenswert sei jedoch, dass "fast ein Drittel der Menschen in diesen beiden LĂ€ndern es vorziehen wĂŒrde, dass die Ukraine ihr gesamtes Territorium zurĂŒckerhĂ€lt, auch wenn dies einen lĂ€ngeren Krieg oder mehr ukrainische Tote und Vertriebene bedeutet".

Zum Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus

Das Überbau-Thema zum Krieg in der Ukraine, dass es um einen Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus gehe, wird in den "nicht-westlichen LĂ€ndern" anders gesehen, so der Think-Tank:

Auch wenn westliche Persönlichkeiten den Konflikt auf diese Weise darstellen mögen, um den Westen zu einen, so ist dies doch kein sicherer Weg, um die BĂŒrger in nicht-westlichen LĂ€ndern anzusprechen. Im Gegenteil: In den Augen vieler Menschen außerhalb des Westens sind ihre eigenen LĂ€nder ebenfalls Demokratien - und vielleicht sogar die besten Demokratien.

Auf die Frage, welches Land einer "echten Demokratie" am nÀchsten kommt, antworten 77 Prozent der Chinesen mit "China" und 57 Prozent der Inder mit "Indien".

ECFR [4]

Weitere Ergebnisse unserer Umfrage wĂŒrden zeigen, "dass die Menschen in China, Indien und der TĂŒrkei den Behauptungen ĂŒber die Verteidigung der Demokratie skeptisch gegenĂŒberstehen".

Ferner beobachtet die Umfrage, dass "fĂŒr die große Mehrheit der Chinesen und TĂŒrken" die westliche UnterstĂŒtzung fĂŒr die Ukraine andere GrĂŒnde habe als die Verteidigung der territorialen IntegritĂ€t der Ukraine oder ihrer Demokratie.

Unter den aufstrebenden MĂ€chten bildet Indien eine Ausnahme, wo (Ă€hnlich wie in den USA) mehr als die HĂ€lfte der Befragten einen dieser beiden GrĂŒnde fĂŒr die westliche SolidaritĂ€t anfĂŒhrt. Der Mangel an Demokratie in Russland hindert die Inder jedoch nicht daran, eine allgemein positive Sicht auf das Land zu haben: 51 Prozent bezeichnen es als "VerbĂŒndeten" und weitere 29 Prozent sehen es als "Partner".

ECFR [5]

Innere Gefahren in den USA und neue souverÀne Subjekte der Weltgeschichte

Der Ukraine-Krieg habe zwar, anders als es der Kreml erwartet habe, den Westen eher gefestigt, wie die Autoren des Berichts resĂŒmieren.

Aber es gebe eine innere Gefahr der Spaltung: "Ein möglicher Sieg von Donald Trump bei den amerikanischen PrÀsidentschaftswahlen 2024 könnte die Einheit des Westens stÀrker bedrohen als alles, was Russland bisher zustande gebracht hat."

Zum anderen sei der Westen trotz der Konsolidierung nicht unbedingt einflussreicher in der Weltpolitik.

Das Paradoxe ist, dass diese neu gefundene Einheit mit der Entstehung einer post-westlichen Welt zusammenfÀllt. Der Westen hat sich nicht aufgelöst, aber seine Konsolidierung findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem andere MÀchte nicht einfach tun werden, was er will.

ECFR [6]

Die dominierende Sicht vieler im Westen, die die kommende internationale Ordnung als RĂŒckkehr einer dem Kalten Krieg Ă€hnlichen BipolaritĂ€t zwischen West und Ost, zwischen Demokratie und Autoritarismus sehen, könnte zu fatalen Ergebnissen fĂŒhren, wird gewarnt.

So könnten EntscheidungstrĂ€ger in den USA und der EU geneigt sein, LĂ€nder wie Indien und die TĂŒrkei als Swing States zu betrachten, die man auf die Seite des Westens ziehen kann.

Das entspreche jedoch nicht den RealitĂ€ten, da sich die Menschen in diesen LĂ€ndern selbst ganz anders verstehen: "als aufstrebende GroßmĂ€chte, die sich in einigen Fragen auf die Seite des Westens stellen, in anderen jedoch nicht".

Selbst wenn die aufstrebenden MĂ€chte mit dem Westen einer Meinung seien, werden sie oft gute Beziehungen zu Russland und China unterhalten. Als Beispiel wird etwa Brasilien genannt.

Der Westen wĂ€re nach Ansicht der Autoren gut beraten, Indien, die TĂŒrkei, Brasilien und andere vergleichbare MĂ€chte "als neue souverĂ€ne Subjekte der Weltgeschichte zu behandeln und nicht als Objekte, die auf die richtige Seite der Geschichte gezerrt werden mĂŒssen".

Diese LÀnder stellen keinen neuen dritten Block oder Pol in der internationalen Politik dar. Sie haben untereinander keine gemeinsame Ideologie. Vielmehr haben sie oft divergierende oder konkurrierende Interessen. Sie wissen, dass sie nicht den globalen Einfluss der USA oder Chinas haben. Aber sie sind sicherlich nicht damit zufrieden, sich den Launen und PlÀnen der SupermÀchte anzupassen.

ECFR [7]

Und der Sieg in der Ukraine?

Die EinschĂ€tzung der Autoren hierzu lautet, dass er fĂŒr die Gestaltung der nĂ€chsten europĂ€ischen Ordnung entscheidend wĂ€re. Aber als "höchst unwahrscheinlich" wird bewertet, dass er eine globale liberale Ordnung unter FĂŒhrung der USA wiederherstellen werde.

Die Konsolidierung des Westens geschehe in einer zunehmend geteilten post-westlichen Welt. Der Westen werde in einer multipolaren Welt "mit feindlichen Diktaturen wie China und Russland, aber auch mit unabhĂ€ngigen GroßmĂ€chten wie Indien und der TĂŒrkei leben mĂŒssen".


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7538058

Links in diesem Artikel:
[1] https://ecfr.eu/publication/united-west-divided-from-the-rest-global-public-opinion-one-year-into-russias-war-on-ukraine/#summary
[2] https://ecfr.eu/publication/united-west-divided-from-the-rest-global-public-opinion-one-year-into-russias-war-on-ukraine/#methodology
[3] https://www.foreignaffairs.com/world/out-alignment-war-in-ukraine-non-western-powers-shivshankar-menon
[4] https://ecfr.eu/publication/united-west-divided-from-the-rest-global-public-opinion-one-year-into-russias-war-on-ukraine
[5] https://ecfr.eu/publication/united-west-divided-from-the-rest-global-public-opinion-one-year-into-russias-war-on-ukraine
[6] https://ecfr.eu/publication/united-west-divided-from-the-rest-global-public-opinion-one-year-into-russias-war-on-ukraine
[7] https://ecfr.eu/publication/united-west-divided-from-the-rest-global-public-opinion-one-year-into-russias-war-on-ukraine