Ukraine-Krieg und die Krise des deutschen Mindsets: Das schizophrene Verhältnis zu Russland

Rüdiger Suchsland
Ukrainische und russische Flagge auf einer Europakarte

Bild: evan_huang / Shutterstock.com

Gefordert ist eine strategische Wende – weg vom Idealismus, hin zum machtpolitischen Realismus. Europa muss lernen, Geopolitik zu lieben. Analyse.

Internationale Ordnungen sind stets nur temporäre Verstetigungen der zugrunde liegenden Machtverhältnisse.

Marc Saxer

Marc Saxer ist eine der interessantesten Stimmen in der derzeitigen Debatte um das angebliche oder tatsächliche Entstehen einer neuen Weltordnung und einer der wenigen politischen Beobachter, die sich explizit grundsätzlicher zu Fragen der Weltpolitik und der internationalen Ordnung der Gegenwart äußern.

Immer wieder meldet sich Saxer, Geopolitikexperte der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), in Zeitschriften- und Zeitungsbeiträgen und auf Social Media zu Wort.

Wohlfeile Ideen statt Realismus

In einem Beitrag für Cicero skizziert Saxer, Leiter des FES-Büros für Regionale Zusammenarbeit in Asien, nun den neuen deutschen Sonderweg im Ukraine-Krieg: die "Russophrebnie" der Deutschen.

Russophrenie, also eine schizophrene Sicht auf Russland, nennt Saxer eine grundsätzlich widersprüchliche Sichtweise beider Seiten der deutschen Ukraine-Debatte auf die russische Republik. Für beide Perspektiven gelte: Einerseits seien die Russen zu schwach, andererseits zu stark und zu gefährlich.

Den Pazifisten stellt Saxer die harte Frage: "Ja, was denn nun?" Ist Russland nun unbesiegbar, weil es eine Atommacht ist, mit der man sich arrangieren muss? Oder hat die Unfähigkeit, die Ukraine auch in drei Jahren Krieg zu besiegen, nicht gezeigt, dass das Land keine Bedrohung für Europa ist?

Aber auch die andere Seite, für Saxer bestehend aus "Moralbellizisten", leidet unter Russophrenie: Russland sei einerseits so schwach, dass es bei einem ukrainischen Sieg zerbreche; andererseits so stark, dass es Europa bis nach Lissabon überrennen könne.

Was da in beiden Fällen auf der Strecke bleibt, ist der Realismus.

Verantwortlich macht Saxer eine Art kollektive Blindheit, eine Krise des deutschen Mindsets. Man habe versäumt, sich auf die Realitäten des Politischen einzustellen, und sei stattdessen in einem überholten klassisch-idealistischen Verständnis von Politik gefangen:

Diese russophrenen Widersprüche sind kein Zufall. Denn sowohl Pazifisten wie Moralbellizisten leiten ihre Handlungsmaximen nicht aus den Kräfteverhältnissen ab, sondern aus historischen Analogien und normativen Prinzipien.

Moralbellizismus: Moralischer Aktivismus in der Außenpolitik

Da seien, so Saxer auf der einen Seite die deutschen Ukraine-Versteher, die entschlossenen Verteidiger der Ukraine, die das Land bedingungslos unterstützen, Waffen jeder Kategorie an Kiew liefern wollen, und keine Kompromisse gegenüber Moskau machen wollen, in deren Folge auch nur ein Quadratzentimeter der Ukraine in den Grenzen von 1991 an Russland fällt. Sie nennt Saxer "Moralbellizisten"

Sie beriefen sich auf – ein falsches Verständnis von – Immanuel Kants "Zum ewigen Frieden". Krieg gelte ihnen als überwindbares Übel; der Schlüssel zum Frieden sei die Verbreitung der Freiheit, dann würden sich zivilisierte moderne Menschen quasi von selbst dafür entscheiden, ihre Konflikte friedlich beizulegen.

Es ist das Denken der alten, aus Saxers Sicht rettungslos obsolet gewordenen liberalen Weltordnung, die global Demokratie und Menschenrechte verbreiten wolle, im Extremfall sogar durch militärisch gestützte "humanitäre Interventionen".

Es handelt sich dabei um die Übertragung des moralischen Aktivismus aus der Umwelt-, Bürger- und Menschenrechtsbewegung auf die Außenpolitik. Idealziele und Prinzipien – über die man im Einzelfall auch noch prächtig streiten könnte – werden oft einseitig und "fundamentalistisch" verkündet.

Die Frage ihrer praktischen Umsetzung und der Lebensrealität der hiervon Betroffenen wird hintenan gestellt. Moralische Belehrungen und Missionseifer ersetzen das Argumentieren und die taktische Orientierung am politisch Machbaren.

Dieser moralische Aktivismus in der Außenpolitik hat mehrere blinde Flecken: Durch die Konzentration aufs Prinzipielle werden die Machtkonzentrationen ausgeblendet, ebenso wie Interessen von Menschen und Institutionen, die andere Vorstellungen haben als die eigenen.

Zudem duldet das für richtig erkannte und nach eigenem Verständnis moralisch gebotene Endziel und der Kampf zwischen Gut und Böse keinerlei Kompromisse – jeder, der solche fordert, und im konkreten Fall beispielsweise für "Verhandlungen" eintritt, ist ein Verräter an der heiligen Sache. Eine derart rigorose Position tut sich auch schwer darin, Verbündete zu finden.

Linksliberale oder Neokonservative oder beide?

Weniger einleuchtend als diese Beschreibung ist es, warum der Sozialdemokrat die Vertreter dieser Position als "Neokonservative" beschreibt:

Während für die amerikanischen Neokonservativen die Verbreitung der Demokratie im Vordergrund stand, lag für ihre deutschen Pendants der Fokus stärker auf den Menschenrechten. Ziel der wertegeleiteten Außenpolitik war unter anderem die Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit, um dem "Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts" entgegenzusetzen.

Deshalb drängen deutsche Neokonservative darauf, den russischen Präsidenten vor den Internationalen Strafgerichtshof zu stellen – ein Tribunal, das ihre amerikanischen Kollegen nicht anerkennen.

Das ist zumindest zu simpel, sind doch sein eigener Parteigenosse Michael Roth sowie die Grünen Annalena Baerbock und Anton "Panzertoni" Hofreiter führende Vertreter dieses Moralbellizismus in der Bundespolitik, so wie die US-Demokraten traditionell gegenüber den pragmatischeren US-Republikanern eher eine moral-interventionistische Außenpolitik vertreten.

Allerdings trifft es zu, dass die einseitig-negative Sicht vieler Linksliberaler auf Russland gegenwärtig in Deutschland auch von der Mehrheit der Unionspolitiker geteilt wird, und gelegentlich an einen Wiederaufguss von George W. Bush Rede von einer "Achse des Bösen" erinnert.

Pazifisten im "Land der Moral"

Nicht besser aus Saxers Sicht sind aber jene Pazifisten von "Die Linke" bis AfD, die daran kranken, dass sie keine Mittel gegen einen Aggressor haben, der Menschen- und Völkerrechte ignoriert.

In ihrer Weigerung, geopolitische Kräfteverhältnisse und sicherheitspolitische Risiken anzuerkennen, zeigen die Pazifisten, dass auch sie ihre Wurzeln im deutschen Idealismus haben, ...

Im Gegensatz zum Empirismus ging der Idealismus davon aus, dass unsere Realität durch Ideen und Prinzipien bestimmt ist und dass jede historische Umwälzung eine Revolution der Gedanken voraussetzte.

Auch die "Russlandversteher" sehen laut Saxer die Welt nicht so, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte. Auf der gesellschaftlichen Linken vermische sich dergleichen oft noch mit antiamerikanisch gefärbtem Antiimperialismus:

Die berechtigte Kritik ... führt dabei häufig zu der vorschnellen Annahme, dass Amerikas Gegner – von den Khmer Rouge bis zur Hamas – auf der richtigen Seite der Geschichte stünden oder sogar als Verbündete in postkolonialen und emanzipatorischen Kämpfen betrachtet werden könnten.

Spöttisch zitiert Saxer, "dass der chinesische Name für Deutschland 'Land der Moral' (德国道德之乡 Déguó dàodé zhī xiāng) lautet", und kritisiert den moralisch aufgeladenen politischen Diskurs in Deutschland, der meist in der Tradition des lutherischen "Hier stehe ich und kann nicht anders" ablaufe.

"Diese Nibelungentreue verstellt den Blick für eine nüchterne Einschätzung der Lage."

Abkehr von der Ausblendung der Wirklichkeit

Was ist nun für den Autor eine mögliche Alternative? Saxer fordert eine Abkehr vom Idealismus und seinen Denkschulen. Die Fixierung auf Prinzipien (Freiheit oder Frieden?) und Mittel (Waffen oder Verhandlungen?) verhindere die dringend notwendige Klärung der europäischen Kriegsgründe und Kriegsziele.

Die Deutschen seien nicht in der Lage, "den geopolitischen Charakter des Ukraine-Kriegs zu erfassen, was zu falschen und potenziell gefährlichen politischen Schlussfolgerungen führt".

Die Geschichte gehe längst über dergleichen – und damit über deutsche Positionen – hinweg, spätestens nachdem US-Präsident Trump das Ende der endlosen Kriege des US-Imperiums verkündet hat.

Noch ziehen die ehemaligen US-Verbündeten daraus aber die völlig falschen Schlüsse: "Der Schock über den Verrat aus Washington spornt die europäischen Neokonservativen dazu an, den Einsatz im Ukraine-Krieg noch einmal zu erhöhen. Unter völliger Ausblendung der immer katastrophaleren Berichte aus der Ukraine glauben sie weiter an einen ukrainischen Sieg."

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, tun sich die Moralbellizisten schwer damit, einzusehen, dass der Krieg in der Ukraine nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch verloren ist. Das neokonservative Narrativ vom "ukrainischen Freiheitskampf für Europa" hat stets verschleiert, dass die Vereinigten Staaten – auch und gerade unter der Biden-Regierung – den Krieg vor allem aus geopolitischen Gründen unterstützt haben. ...

Washington unterstützte den Stellvertreterkrieg in der Ukraine, um Russland zu schwächen und damit aus dem Rennen um die geopolitische Neuordnung der Welt zu nehmen.

"Globaler Epochenbruch"

Die Grundlage von Saxers bedenkenswerten Überlegungen ist die Überzeugung eines "globalen Epochenbruchs", der sich gerade ereigne. Saxer verabsolutiert die jüngsten Entscheidungen der Trump-Regierung zu der These, "der liberale Hegemon" habe "die von ihm geschaffene und garantierte Weltordnung für obsolet erklärt".

Doch selbst eine umfassende Übereinkunft der USA mit Russland und eine Verständigung in der Ukraine-Frage wäre zunächst nur ein "neues Jalta" und ein Zurück in die Zeit vor 1989/90, als die Welt eine Großraumordnung mit gegenseitig anerkannten Einflusszonen für die Großmächte und rivalisierenden Blöcke gewesen ist.

Allenfalls ein Zurück zu einem "Konzert der Großmächte" und einer Pentarchie – USA, Europa, Russland, China, der "Globale Süden"/Dritte Welt – wäre ein klarer Bruch mit der Weltordnung des 20. Jahrhunderts, aber letztlich auch nur ein Zurück zum außenpolitischen Normalfall.

Waffenstillstand auf der Basis des Status Quo

Saxer fordert von Europa, jetzt "den Reset-Knopf" zu drücken und sich endlich auf die Welt einzulassen, in der harte Machtmittel entscheiden. Darum plädiert Saxer für eine Außenpolitik im Gefolge der Schule des "Realismus", jener in den USA begründeten außenpolitischen Denkschule, für die Namen wie Hans J. Morgenthau, Kenneth Waltz, Henry Kissinger und John Mearsheimer stehen.

In deren Zentrum steht die Analyse von Interessen und von Kräfteverhältnissen.

Der "wertebasierte Realismus", wie es Saxer nennt, "lehnt sowohl das pazifistische Narrativ 'Frieden schaffen ohne Waffen' als auch das bellizistische 'Russland muss besiegt werden' ab. Stattdessen leitet er seine strategischen Empfehlungen von den europäischen Machtressourcen und ihren Grenzen ab".

Was heißt das? Im Ukraine-Krieg liegt kein Sieg einer der beiden Mächte im europäischen Interesse. Europa muss deswegen an einem Waffenstillstand auf der Basis des Status quo interessiert sein, daran, die Ukraine als souveränen Staat zu erhalten, ohne die berechtigten russischen Interessen – keine Ausweitung der Nato, ein Schwarzmeerhafen und russisch geprägte Gebiete unter russischer Kontrolle – zu ignorieren.

Saxer spricht von einem "Gleichgewicht zwischen russischen und europäischen Interessen." Zudem führe eine realistische Einschätzung europäischer Stärken zu der Einsicht, dass Europa einen militärischen Konflikt mit Russland derzeit nicht gewinnen kann.

Europa muss lernen, Geopolitik zu lieben

Mittelfristig sollte Europa, so Saxer "mit Hochdruck seine Verteidigungsfähigkeiten ausbauen, um Russland von einer Wiederaufnahme der Kampfhandlungen abzuschrecken".

Langfristig muss eine starke und eigenständige europäische Sicherheitsordnung mit eigener Abschreckungsfähigkeit geschaffen werden, sonst droht Europa, so Saxer, in "einer regellosen Wolfswelt" durch Fliehkräfte zerrissen zu werden.

Als ersten Schritt schlägt Saxer einleuchtend "die gemeinsame Kodifizierung westfälischer Prinzipien – Souveränität, territoriale Integrität und Nichteinmischung –" vor.

Nichts schreibt er hier allerdings über das prekäre Thema des europäischen "Wir". Erst wenn Europa mit einer Stimme spricht – als Vielvölkerstaat, aber eben als politische Einheit – kann es weltpolitisch mithalten.

Saxers zweiter Vorschlag – die Reform oder Neugründung multilateraler Institutionen wie der OSZE – klingt angesichts seines Plädoyers für harten Realismus schon erst recht sehr optimistisch.

Technologische und militärische Fähigkeiten und Interessenspartner in anderen Weltteilen erscheinen da für Europa effizienter als Verträge. Vor allem aber muss sich Europa von den USA emanzipieren. Insbesondere sollte es sich nicht für die China-Politik der USA instrumentalisieren lassen.

Europa muss lernen, Macht und Interessen zu denken. Es muss lernen, die Geopolitik zu lieben.