Ukraine: Russische Truppen marschieren in zweitgrößte Stadt ein

Ein russischer T-14-Panzer (Archivbild). Foto: Boevaya mashina / CC-BY-SA-4.0

Die Informationslage ist schwierig, jedoch ist ein Einmarsch in die Metropole Charkiw von verschiedenen Seiten bestätigt. Die Entscheidungsschlacht vermuten Experten woanders.

Der Einmarsch der russischen Armee in der Millionenmetropole Charkiw ist eine der wenigen Informationen, die aktuell von Quellen beider Seiten bestätigt werden. So zeigt die Kiewer Nachrichtenagentur Unian in die Stadt eindringende russische Militärfahrzeuge und spricht von einer offiziellen Bestätigung der Stadtverwaltung über den Einmarsch.

Russische Zeitungen berichten ebenfalls darüber und verweisen auf eine Meldung ihres Verteidigungsministeriums, dass sich bei Charkiw eine ukrainische Einheit russischen Truppen ergeben habe. Charkiw ist mit 1,4 Millionen Einwohnern die größte Stadt im mehrheitlich russischsprachigen Osten des Landes, jedoch mehr als 150 Kilometer entfernt vom Donbass.

Drang und Zwang zur Einseitigkeit

Die Lage an der Front im Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist unübersichtlich und man sollte sich hüten, Angaben einer Kriegspartei zu Opferzahlen, Vormärschen und ihrem vorgeblichen Stopp ungeprüft zu glauben. Hierbei ist zu beachten, dass deutschsprachige Medien schon aus Sympathie fast ausschließlich auf ukrainische Angaben zurückgreifen. Russische Medien sind sogar von einer Aufsichtsbehörde angewiesen worden, nur noch Angaben ihres eigenen Verteidigungsministeriums als "Wahrheit" zu akzeptieren.

Nur wenige Medien widersetzen sich so weit es geht diesem Ritual und versuchen alle Seiten gleichermaßen auszuwerten. Dazu gehören in Russland (noch) agierende liberale Zeitungen und Sender wie RBK, Meduza und Doschd, die versuchen, ausgewogen zu berichten, aber wegen der von den Offiziellen verordneten Sprachregelung bereits mit Verbotsdrohungen beziehungsweise der Androhung hoher Geldstrafen konfrontiert sind.

Dennoch kombinieren sie beide Darstellungen zu einem möglichst realistischen Bild. Dabei kommt es zu widersinnigen Situationen, wie gegen RBK einer Beschränkung des Angebots durch Facebook, weil auch Darstellungen der russischen Seite und der Donbass-Rebellen Teil des Angebots sind, die nach Auffassung des US-Konzerns generell Fake-News sind.

RBK-Chefredakteur Kanajew meint dazu: "Die Glaubwürdigkeit von Informationen wird nicht durch die Staatsbürgerschaft derjenigen bestimmt, die als Nachrichtenquelle fungieren“. Viele RBK-Journalisten haben sich selbst an einem Antikriegs-Aufruf von Medienschaffenden beteiligt, der auch der russischen Obrigkeit nicht schmeckt.

Russen agieren ohne Opferzahlen, Ukrainer mit verfälschten

Meduza zitiert den US-amerikanischen Militärexperten Robert Lee. Dieser meint zu den ukrainischen Zahlen, bei denen die Opfer der angreifenden Russen die der eigenen Truppen erheblich übersteigen, dass jede Schätzung hierzu erheblich verzerrt sein dürfte. Die eigenen Opferzahlen würden auch in der Ukraine zu niedrig geschätzt, die des Gegners zu hoch. In deutschen Medien tauchen sie dennoch teilweise als Wahrheit auf, die als Beleg herangezogen werden, dass der russische Vormarsch "wohl vorerst ausgebremst wurde", so der O-Ton in der ARD-tagesschau.

Die russische Seite betont dagegen laut Kremlsprecher Dmitri Peskow, dass die eigene Offensive in Erwartung von Verhandlungen vorübergehend gestoppt worden sei. Sie veröffentlicht seit Beginn der Invasion keinerlei Informationen über eigene Opfer. Nachdem es zu Verhandlungen trotz diverser Ankündigungen bisher nicht kam, würden nun die Offensivaktionen fortgesetzt. Selbst bei solchen Angaben ist stets unklar, wie viel davon Kriegspropaganda ist. Denn es gilt der Satz: Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, was ein Ausspruch des US-amerikanischen Politikers Hiram Johnson sein soll.

Entscheidungsschlacht im Südosten?

Dementsprechend stellt Meduza fest, dass tatsächliche Opferzahlen erst nach dem Ende des Krieges wirklich festgestellt werden können. Gesichert ist zur Stunde, dass heftige Kämpfe im Südosten des Landes weit weg von Kiew toben, die nach eigenen Quellen kriegsentscheidend sein könnten. Dort haben die russischen Streitkräfte die Städte Melitopol und Nowaja Kachowka eingenommen. Von ersterer haben erst vorgestern ukrainische und deutsche Zeitungen einen Rückeroberungserfolg gemeldet.

Die nichtstaatliche Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta spricht davon, dass in der betreffenden Region zwischen Donbass und Krim eine entscheidende Schlacht des Krieges stattfinden werde und beruft sich dabei auf einen ukrainischen Analysten. Dort, unweit der Kleinstadt Wasilewka konzentriere die ukrainische Armee beträchtliche Kräfte, um eine Vereinigung der von Norden und von Süden angreifenden russischen Verbände zu verhindern.

Gelänge das nicht, müssten sich die Ukrainer aus dem gesamten Osten des Landes, unter anderem dem hart umkämpften Donbass zurückziehen, um eine Kappung ihrer Nachschubverbindungen zu verhindern. Diese seien wichtig, da gerade Treibstoff aktuell vom Westen aus Belgien geliefert würde.

"Kein Spaziergang und keine Parade"

Ähnliche Angaben macht der russische Militärexperte Wassili Kaschin gegenüber der Onlinezeitung Lenta.ru. Er sagt aus, dass genau diese Zweiteilung der ukrainischen Truppen das russische Angriffsziel sei, sowie die Eroberung von Kiew. Die russische Militäroffensive sei jedoch "sehr ernst" und gehe mit erheblichen Risiken einher, gerade weil sie einer der größten Offensiven seit dem Zweiten Weltkrieg sei. "Das ist kein Spaziergang und keine Parade. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die ukrainische Armee irgendwie verschwindet – sie ist eine bedeutende Kraft. Und leistet zum Teil sehr hartnäckigen Widerstand", sagte Kaschin.

Jeder sucht sich aus, was es Positives zu berichten gibt

Kaschin widerspricht damit teilweise offiziell-russischen Darstellungen, die suggerieren, die ukrainische Armee sei schon in Auflösung begriffen. Auch dem in Deutschland erweckte Eindruck, die Ukrainer halten die Russen überall auf, widerspricht er. Er stellt fest, dass es normal sei, dass so großen Offensiven an einigen Stellen gut und an anderen wiederum schlecht laufe. Berichtet werde von beiden Seiten dann der gewünschte Ausschnitt.

Kaschin bestätigt auch die generelle Strategie der russischen Truppen, große Städte für gewöhnlich zu umgehen, da deren Eroberung immer mit hohen Verlusten verbunden sei. Umso bemerkenswerter ist deshalb die Besetzung der Millionenmetropole Charkiw. Etwas besser erfasst als Kriegsopfer werden Kriegsflüchtlinge, von denen es laut einem Vertreter der UNO gestern mehr als 150.000 gegeben haben soll; Tendenz steigend.