Ukraine: Staatsräson und Mythen vom homogenen Kampfeswillen
Angeblich will "die Bevölkerung" keinesfalls Gebiete aufgeben. Wozu dann Ausreisesperren für Männer? Ein naheliegender Lösungsvorschlag wird skandalisiert.
"Der heutige Tag hat eine besondere, tragische Bedeutung, weil die Ukraine in einem Krieg kämpfen muss. Es ist auch unsere Sache, für die sie kämpft – wir müssen sie unterstützen." Diese pathetische Erklärung zum ukrainischen Unabhängigkeitstag am 24. August stammt vom Ralf Fücks, der sich auf seinen Weg vom Maoisten zum Propagandisten der "liberalen Moderne" in einem Punkt treu bleiben konnte.
Der Kampf gegen den sowjetischen Revisionismus mutierte zum Widerstand gegen den russischen Nationalismus. Und immer lag er damit ganz auf der Linie der deutschen Staatsraison. Dazu gehörte schon immer eine Förderung des ukrainischen Nationalismus. Deswegen kennt man in Deutschland auch keine Parteien mehr, wenn es um dessen Unterstützung geht.
Das wurde am 23. August, dem ukrainischen Unabhängigkeitstag, besonders deutlich. Von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kamen Durchhalteappelle, die sich nicht stark von den Texten eines Ralf Fücks und des Zentrums Liberale Moderne unterscheiden.
Anarchisten für Staat und Nation
Wie weit die deutsche Volksgemeinschaft bei der Verteidigung geht, zeigen auch manche Pamphlete aus der gefühlt anarchistischen Szene, die nur durch ihre besondere Geschichtsvergessenheit und ihre martialische Sprache negativ herausstechen. Unter dem Motto "Damit der Kreml niederbrennt", fabrizierte die Gruppierung Anarchist Black Cross Dresden ein Pamphlet, das mehr deutsche Staatsraison enthält, als man es von dieser politischen Ecke jemals erwartet hätte.
So schreiben nicht nur Fücks und Baerbock, dass die Ukraine für "unsere Freiheit kämpft". Auch die Dresdener Anarchisten bekräftigten dies anlässlich ihrer Demonstration ein Jahr nach den russischen Einmarsch in die Ukraine:
Ein Jahr nach all dem wollen wir uns treffen und durch die Straßen von Dresden gehen, wo Politiker:innen oft freundlich zu Putin und seinen Freund:innen sind. Wir wollen lautstark derer gedenken, die nicht mehr unter uns sind und derer, die noch immer nicht nur für ihre eigene Freiheit, sondern auch für die Freiheit anderer kämpfen.
Aus dem Aufruf von Anarchist Black Cross Deutschland
Die Tageszeitung Neues Deutschland druckte kürzlich ein Interview mit Unterstützern ukrainischer Anarchisten ab. Sie begründeten dort durchaus verständlich, warum sie sich gegen den russischen Einmarsch wehren, üben dort auch durchaus linke Kritik an den ukrainischen Staatsverhältnissen, um dann aber zu dieser für Anarchisten erstaunlichen Position zu kommen:
Es sind nicht die USA oder die Nato, die uns in den Krieg treiben. Nein, es ist die ukrainische Bevölkerung, die keine Gebietsverluste hinnimmt.
Interview mit Mitgliedern des ukrainischen Solidarity Collectives in der Tageszeitung Neues Deutschland
Nun ist die Verteidigung der unmittelbaren Interessen der Bevölkerung ein durchaus nachvollziehbares Motiv für die Verteidigung.
Wozu Wehrpflicht, wenn es genug Freiwillige geben müsste?
Doch wenn es da sehr pauschal heißt, dass "die ukrainische Bevölkerung" nicht akzeptieren würde, besetzte Gebiete aufzugeben, dann müsste es eigentlich so viele Freiwillige geben, dass niemand zum Dienst an der Waffe gezwungen werden müsste. Ein paar wenige Männer zwischen 18 und 60 Jahren, die vielleicht doch nicht kämpfen wollen, könnten dann problemlos ausreisen, weil es auf sie nicht ankäme. Genau das dürfen sie aber nicht. Einige schaffen es trotzdem – manche starben aber auch schon auf der Flucht.
So stark ist die Identifizierung mit der ukrainischen Staatsraison aber wohl doch nicht in der Bevölkerung verankert.
Auch die besagten Anarchisten scheinen zu vergessen, dass auf der Krim 2014 die Mehrheit der dortigen Bevölkerung für die Zugehörigkeit zur russischen Welt votiert hat. Im Donbass dürften die Abstimmungen unter den Bedingungen von 2022 weniger aussagekräftig gewesen sein und Sympathien für Russland wegen der Kriegshandlungen real deutlich abgenommen haben. Aber heute von einer pro-ukrainischen Einheitsmeinung der dortigen Bevölkerung auszugehen, ist dennoch gewagt.
Es scheint auch nicht der Erwähnung wert, dass die Krim 1954 über die Köpfe der dortigen Bevölkerung hinweg von der Sowjet-Nomenklatura unter Chruschtschow der Ukraine zugeschlagen worden war. Warum ist dieser historische Fakt für die Anarchisten nicht ein Grund, um auch für diese Menschen Selbstbestimmung zu fordern?
Dazu könnte zum Beispiel eine Abstimmung der Bevölkerung unter Aufsicht unabhängiger Beobachter gehören. Das wäre eine Forderung, die der anarchistischen Selbstbestimmung nahekäme und sich von nationalistischen Positionen abgrenzen würde, die sich unabhängig von der Meinung der Bevölkerung gegen jeden Gebietsverlust wenden. Nun war es ausgerechnet der rechtskonservative französische Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, der mit der Forderung nach international anerkannten Volksabstimmungen in den zwischen Russland und der Ukraine umstrittenen Gebiete für Empörung sorgte.
Dabei müsste die Kiewer Regierung nach eigener Aussage gar keine Angst vor dem Ergebnis haben. Was soll also an einer Forderung nach einer international anerkannten Volksabstimmung, wie sie in der Geschichte schon häufig veranstaltet wurde, prorussisch sein?
Da steht doch wohl eher die Befürchtung im Raum, die Bevölkerung würde sich nicht für die Ukraine und den Globalen Westen entscheiden. Dann sollte man erst gar keine Abstimmungen durchführen, was die EU nach dem Brexit in Großbritannien zur Devise gemacht hat. Weil da eine Abstimmung nicht in ihrem Sinne ausgegangen ist, wird allein die Forderung danach als populistisch abgetan.
Und weil Kiew und der Westen selbst nicht sicher sein können, wie eine Abstimmung heute auf der Krim ausginge, gilt allein die Forderung danach schon als prorussisch. Wie auch die eigentlich banale Äußerung, dass mit den Waffen, die jetzt an die Ukraine geliefert werden, Menschen getötet werden – schon mit dieser Aussage hat der dänische Regisseur Lars van Trier für Empörung gesorgt, als er die Waffenlieferungen seines Landes an die Ukraine kritisierte.
Ein großer Teil der heutigen Kriegsbefürworter wie Baerbock und Co. will eben nicht daran erinnert werden, dass dafür Menschen sterben, die durchaus nicht alle freiwillig in den Krieg gezogen sind.
Die Ukraine und die Deserteure
Es müsste eigentlich der Grundsatz gelten, dass man an der Art, wie ein Staat mit den Kriegsgegnern im eigenen Land umgeht, auch etwas über die Stärke der Demokratie dort sagen kann. Dabei würde die Ukraine aber sicher nicht gut abschneiden, die erst vor einigen Wochen wieder gegen die kleine pazifistische Bewegung des Landes vorgegangen ist. Immer wieder wird auch berichtet, wie der ukrainische Staatsapparat Jagd auf Kriegs- und Militärverweigerer macht, was auch vielfach dokumentiert wurde. Am ukrainischen Unabhängigkeitstag wollte niemand darüber reden.
Dafür wurde in den letzten Tagen ausführlich über angeblich russische Propaganda im öffentlich rechtlichen Rundfunk Österreichs berichtet. Der Grund waren zwei falsch zugeordnete Fotos zu einem Beitrag über rabiate Methoden der Zwangsrekrutierung in der Ukraine. Die Bilder waren falsch zugeordnet, der Inhalt aber war völlig korrekt. Über den massiven Zwang der auch in der Ukraine auf Menschen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, ausgeübt wird, wird selten berichtet. Schon gar nicht am ukrainischen Unabhängigkeitstag.