Ukraine: Wenn nur Russen im Krieg sterben

Trauerumzug in Kiew: Am 7. März 2023 wurde der ukrainische Kommandeur Dmytro Kotsiubailo bei einem Kampfeinsatz in der Nähe von Bachmut getötet. Bild: Armyinform.com.ua

Alle Kriegsparteien benutzen Opferzahlen für ihre Propaganda. Neue Todeszahlen zum Ukraine-Krieg zeigen, wie gefährlich es ist, wenn Medien Unangenehmes ausblenden. Über ein Rätsel und seine Lösung.

Der klassische "Nebel des Krieges" wirkt auch im Ukraine-Krieg. Vieles, was auf dem Schlachtfeld passiert, bleibt vage, unverifiziert und spekulativ. Die Kriegsparteien nutzen das für sich, um Informationen, die für sie nützlich sind, möglichst breit in die Öffentlichkeit zu tragen.

Opferzahlen stehen im Zentrum jeder Kriegspropaganda. Denn mit ihnen lässt sich Stimmung machen. Man kann die Brutalität des gegnerischen Aggressors damit anprangern, aber auch seine militärische Schwäche akzentuieren, je nachdem. Zudem werden die Opfer von Kriegsoperationen der eigenen Seite meist relativiert, um ihren grausamen Effekt zu verschleiern.

Um nur ein Beispiel zu nehmen: Als die USA Afghanistan und den Irak überfielen, spielten westliche Medien deren Opferzahlen herunter. Analysen haben die extremen Falschdarstellungen, Manipulationen und das Verschweigen wissenschaftlicher Opferzahlen durch den Guardian, BBC, Zeit, Spiegel oder New York Times offengelegt.

Das Verschweigen hatte Folgen. In Großbritannien wurde 2013 eine Umfrage durchgeführt zu den Opferzahlen. Dabei kam heraus, dass etwa 60 Prozent der Briten glaubten, dass weniger als 10.000 Iraker durch den Krieg starben, 44 Prozent glaubten, es seien weniger als 5000.

Wissenschaftliche Studien gingen damals von mindestens 500.000 bis einer Million Toten aus – Zahlen, die von der Presse praktisch nicht erwähnt und sofort bestritten wurden. Das ist ungefähr so, als wenn in Deutschland eine Mehrheit glauben würde, dass im Holocaust nur rund 100.000 Juden ermordet wären.

Die Berichterstattung über die Opfer der russischen Invasion in die Ukraine in westlichen Medien ist demgegenüber komplexer. Im Fokus stehen die ukrainischen Zivilisten, die von den russischen Angriffen verletzt und getötet werden. Das ist absolut richtig und sollte, unabhängig vom Aggressor, immer so sein.

Bei den Soldaten auf dem Schlachtfeld wird die Perspektive jedoch gewechselt, wie vielfach festgestellt worden ist. In diesem Fall berichten die US- und europäischen Medien vorrangig über die hohen Verluste von russischer Seite, während die ukrainischen heruntergespielt werden. In Russland ist es andersherum.

Es geht bei der westlichen Berichterstattung natürlich nicht darum, das ukrainische Militär als besonders brutal darzustellen oder die ukrainischen Opfer mit Missachtung zu strafen. Vielmehr ist die implizite Botschaft: Die Ukrainer werden durch unsere Waffen geschützt (und werden kaum getötet), die russische Armee ist auf dem absteigenden Ast und dabei, zu verlieren sowie für seinen Angriffskrieg bezahlen zu müssen.

So nachvollziehbar der Wunsch nach Bestrafen des Aggressors sein mag, so sehr täuscht die einseitige Berichterstattung über die realen Verhältnisse hinweg. Zwar wird eingeräumt, dass "militärische Verluste auf beiden Seiten des Krieges schwer zu ermitteln und zu verifizieren sind; die Kriegsparteien ermitteln oft die Verluste ihrer Rivalen und spielen ihre eigenen Verluste herunter." Aber in fast jeder Top-Meldung wird versucht, mit Verweis auf Regierungsquellen und andere Organisationen, die Zahlen aufzublähen – und zwar auf russischer Seite.

Gretchenfrage: Wie viele Russen, wie viele Ukrainer?

Das zeigt sich aktuell auch bei den neuen Daten-Auswertungen von Mediazona, einer Organisation, die mit der BBC zusammenarbeitet. Mediazona kommt auf 27.000 getötete Russen. Die mit Mediazona kooperierende Meduza, einer exilrussischen Internetzeitung, schätzt die Zahl eher auf 50.000. Beide Berichte geben keine Angaben zu den ukrainischen Verlusten.

Diese Schätzungen machten sofort überall Schlagzeilen im Westen. Wobei man sagen muss, dass frühere Angaben deutlich höhere Zahlen enthalten. Danach sollen, wie aus Großbritannien gemeldet wurde, bis zu 60.000 russische Soldaten im Krieg gefallen und bis zu 177.000 verwundet worden sein. Auf ukrainischer Seite sollen laut US-Angaben bis zu 17.000 Soldaten gestorben sein, während man von bis zu 110.500 Verwundeten ausgeht.

Sicherlich arbeiten die Berechnungen von Mediazona und Meduza sorgfältig mit den verfügbaren, öffentlich zugänglichen Daten. Allerdings blenden sie die andere Seite, die Ukraine, aus. Keine Auswertungen dazu.

Auch sind manche Behauptungen, die immer wieder in der Öffentlichkeit kursieren, wenig glaubwürdig. Dass Russen etwa in Kämpfen im Verhältnis zu Ukrainern im Verhältnis sieben zu eins getötet wurden, ist angesichts der Tatsache, dass Russland zehnmal mehr Artillerie abfeuert als die Ukraine, kaum denkbar.

Das ukrainische Verteidigungsministerium listet über 234.000 liquidierte Feinde auf (Stand Anfang Juli). Russland hat offiziell 6.000 Kriegsopfer seit Beginn des Krieges anerkannt. Ansonsten hüten die beiden Parteien ihre eigenen Verluste wie ein Staatsgeheimnis. Der US-Journalist Branko Marcetic hat in einem Artikel, der auf Telepolis erschien, auf die Leerstelle in der westlichen Sichtweise hingewiesen:

In der Berichterstattung werden die russischen Verluste stets in den Vordergrund gestellt und stark propagiert, während die ähnlichen und wohl noch verheerenderen Verluste der Ukraine weitgehend heruntergespielt werden.

Dabei muss man bedenken, dass die Bevölkerung der Ukraine, primär nach den großen Flüchtlingswellen, um ein Vielfaches kleiner ist als die Russlands. Auch wenn die russischen Verluste katastrophal sind, für die Ukraine haben sie noch schlimmere Auswirkungen.

Bei allem Kriegsnebel, bei aller offensichtlichen Instrumentalisierung von Kriegsopfern durch die involvierten Parteien, sollten wir nicht den Fehler begehen, unangenehme, dem politischen Wunschdenken widersprechende Daten auszublenden oder herunterzuspielen.

Die Medien haben die Aufgabe, vollumfänglich zu berichten. Durch Auslassungen und Herunterspielen das Publikum zu beruhigen, um Zweifel am Zermürbungskrieg sowie endlosen Waffenlieferungen ohne diplomatische Perspektive erst gar nicht aufkommen zu lassen, führt in eine gefährliche Sackgasse.

Die US-Amerikaner, Deutschen und Briten haben ein Anrecht darauf, zu erfahren, wie hoch der Blutzoll der Ukrainer ist und wie es um diese auf dem Schlachtfeld steht. Wer über ukrainische Opfer nicht reden will, sollte auch über russische schweigen.