Ukraine: Zermürbung vor einem harten Kriegswinter

Löscharbeiten an einem Blockheizkraftwerk in Kiew nach russischem Beschuss am Morgen des 18. Oktober 2022. Foto: State Emergency Service of Ukraine / CC-BY-4.0

Der Ukraine-Krieg ist in eine neue Phase eingetreten. Nach den weitreichenden ukrainischen Offensiven im September prägt nun Stillstand und Zermürbung das Geschehen. Angriffe auf zivile Infrastruktur sollen Luftabwehr binden.

Der ukrainische Oberbefehlshaber Walery Saluschny bestätigt es selbst auf seinem Telegram-Kanal: Russische Offensivbemühungen und Angriffe in mehreren Frontabschnitten bestimmen momentan das Kampfgeschehen - aktuell jedoch ohne entscheidenden Durchbruch.

Bis zu 80 Angriffe der Russen täglich registriert der ukrainische General, vor allem in der Mitte der Front gelegenen Region rund um die Stadt Bachmut. Selbst in Zeiten großer ukrainischer Gebietsgewinne hat die Angriffstätigkeit der Russen dort, wo viele Söldner des russischen Unternehmens PMC Wagner eingesetzt sind, nie ganz aufgehört und wird momentan verstärkt.

Stopp ukrainischer Offensiven nur wegen der Wetterlage?

Die Ukrainer selbst führen den Stopp ihres Vormarschs vor allem auf das Wetter zurück. Auch die lettische Online-Zeitung Meduza schreibt, dass die Fronttruppen momentan im Schlamm festsitzen und sich auf entscheidende Wintereinsätze vorbereiten.

Sie will sich aber nicht nur auf die Witterung festlegen und hält das Vorhandensein größerer russischer Reserven an der Front aus frisch mobilisierten Truppen für eine weitere mögliche Ursache der wieder fest gefahrenen Front.

Auf die gezielte Bombardierung russischer Munitionsvorräte durch gezielte ukrainische Lenkwaffen westlicher Produktion habe die Armee Russlands auch mit einer weiteren Verteilung dieser Vorräte reagiert, so dass Aufnahmen von explodierenden großen Depots seltener geworden sind.

Angriffe auf Infrastruktur sollen Luftabwehr binden

Meduza erwähnt auch, dass das Hauptziel der umfassenden Raketen- und Drohnenangriffe Russlands auf die ukrainische Infrastruktur nicht die Verbreitung von Angst und Schrecken sei. Auch wenn dies natürlich einen für die russischen Strategen positiven und für die betroffenen Ukrainer grausamen "Nebeneffekt" bedeutet und der neue russische Oberbefehlshaber als Freund der Zerstörung auch ziviler Infrastruktur auf der Gegenseite gilt.

Allein in Kiew soll es nach Angaben des Bürgermeisters Vitali Klitschko infolge der Angriffe 450.000 Wohnungen ohne Stromversorgung geben. Landesweit sollen 4,5 Millionen Verbraucher von Stromausfällen betroffen sein.

Man will aber vor allem mit den ständigen Angriffen auf das Hinterland die feindliche Luftabwehr mit Arbeit belasten und zum Verbrauch der Munition zwingen, damit sie sich nicht auf das Kampfgeschehen an der Front konzentrieren kann.

Auch soll möglichst viel von dieser Luftabwehr zerstört werden, da sie momentan einen effektiven Einsatz von teuren russischen Kampfjets ohne immense Verluste verhindert. Hier hätte Russland einen zahlenmäßigen Vorteil, den es aktuell nicht ausspielen kann. Den Einsatz iranischer Drohnen durch die Russen, von offizieller Seite bestritten, bezweifelt in Expertenkreisen beider Seiten keiner ernsthaft. Er wurde nun vom Iran auch offiziell zugegeben.

Ukrainische Offensivbemühungen werden weiter aus dem Gebiet von Cherson am Südende des Kampfgebiets gemeldet. Von dort gibt es auch in russischen Medien wie der Tageszeitung Kommersant immer wieder Meldungen über "Evakuierungsaktionen" von Zivilisten. In einem Gespräch mit Kriegsfreiwilligen im armeeeigenen TV-Kanal Swesda hat sich auch Putin heute nochmals entsprechend für eine Notwendigkeit solcher Maßnahmen geäußert.

Schlagzeilen machte aus Cherson die Einholung der russischen Flagge von der Gebietsverwaltung. An zahlreichen weiteren Verwaltungsgebäuden in der Stadt, die das nächste Ziel ukrainischer Eroberungsbemühungen sein wird, wehen derartige Fahnen jedoch weiterhin. Aktuell hofft etwa der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow auf einen Rückzug der Russen aus Cherson bis hinter den Strom Dnjepr. Ob dieser tatsächlich erfolgt, ist jedoch offen.

Abwarten mit Großaktionen bedeutet keinen nahenden Kompromiss

Aus russischer Sicht ist ein Abwarten mit einzelnen Angriffsoperationen aktuell eine gute Strategie. Die frisch im Heimatland mobilisierten Truppen sind noch lange nicht vollständig kampfbereit. Eilig an die Front geworfene Einheiten operierten nicht erfolgreich, es gibt Berichte von Desertionen und Desastern.

Doch mit fortschreitender Zeit gibt es auch die Möglichkeit einer verbesserten Ausbildung und Eingliederung der neuen Rekruten in bestehende Einheiten, die im Spätsommer durch Verluste erheblich ausgedünnt wurden.

Die Mobilmachung in Russland an sich wurde inzwischen für vorläufig beendet erklärt. Offensichtlich ist aber, dass weitere Mobilisierungswellen nach einer Pause wieder möglich sind. Präsident Wladimir Putin unterzeichnete am Freitag ein Gesetz, das die Mobilmachung einer Reihe von Straftätern rechtlich ermöglicht. Mehr Flexibilität bei der nächsten Runde an "Personalbedarf" für den eigenen Angriffskrieg wird damit vorbereitet.

Mit einem wirklichen Kompromissfrieden ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Die Bedingungen, die Russland an einem Kompromiss knüpft, widersprechen diametral den Vorstellungen von Politikern in Kiew, Washington oder Brüssel von einer Nachkriegsordnung. Keiner will auch nur Teile des Donbass aufgeben.

In den Führungsetagen der Politik beider Seiten sind deswegen zumindest keine offenen Zeichen eines Umdenkens spürbar. Ein vor allem für die betroffenen Zivilisten harter und entbehrungsreicher Kriegswinter steht voraussichtlich vor der Tür.