Ukraine geht Personal für Wirtschaft und Militär aus
Die Ukraine verliert durch den Krieg viele Arbeitskräfte. Der Personalmangel bremst die Wirtschaft und erschwert die Mobilisierung. Droht der Kollaps?
Der Ukraine gehen die Leute aus. Das macht sich nicht nur bei der Mobilisierung neuer Soldaten bemerkbar, sondern auch in der Wirtschaft. In Fabriken, auf Baustellen, in Bergwerken und Restaurants fehlen Arbeitskräfte, berichtet der Finanzdienst Bloomberg. Und die Lage wird nicht besser.
Zermürbungskrieg zwingt Ukraine zur Wahl zwischen Butter und Gewehren
Viele Menschen sind vor dem Krieg ins Ausland geflohen, andere wurden zur Armee eingezogen und viele sind in den Kämpfen gefallen. Von den verbliebenen Männern könnten nun mehrere Hunderttausend zum Militärdienst eingezogen werden, wie es das im vergangenen Monat in Kraft getretene Mobilisierungsgesetz vorsieht.
Das könnte vielen Unternehmen das Rückgrat brechen – doch für die Ukraine gibt es derzeit nur ein Entweder-oder. "Wir befinden uns jetzt in einem Zermürbungskrieg", sagte der stellvertretende Gouverneur der ukrainischen Zentralbank Sergij Nikolajtschuk laut Bloomberg. "Es ist sehr schwer, sich zwischen Butter und Gewehren zu entscheiden."
Das Problem wird sich mit jedem Tag, den die russische Invasion andauert, weiter verschärfen. Die russische Armee scheint auf große Offensivaktionen zu verzichten und setzt stattdessen auf eine langwierige Zermürbung des Gegners mit verheerenden Folgen für die ukrainische Bevölkerung. Seit Beginn des Krieges hat die Ukraine etwa ein Viertel ihrer Produktion eingebüßt, und die sinkende Zahl der Arbeitskräfte lässt einen weiteren Rückgang erwarten.
Metinvest BV: Stahlkonzern sucht händeringend nach Fachkräften
Ein Beispiel ist die ukrainische Einheit des Stahl- und Bergbaukonglomerats Metinvest BV. Knapp 60.000 Menschen sind dort beschäftigt, aber es gibt 4.000 offene Stellen, die nicht besetzt werden können, weil Fachkräfte fehlen.
Eine Vertreterin des Unternehmens erklärte gegenüber Bloomberg, dass die Suche nach 89 Arbeitern für den Betrieb eines Hochofens drei Monate gedauert habe und sehr intensiv gewesen sei. In Friedenszeiten hätte dies nur einen Monat gedauert.
"Es geht nicht um Rohstoffe, Ausrüstung oder Maschinen – die wichtigste Frage ist, wer arbeiten wird und ob wir liefern können", sagte die Vertreterin von Metinvest. Zur prekären Personalsituation habe auch beigetragen, dass rund 15 Prozent der Beschäftigten eingezogen wurden.
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Arbeitskräftemangel ist zweitgrößtes Problem ukrainischer Unternehmen
Laut einer Umfrage des Kiewer Instituts für Wirtschaftsforschung und Politikberatung ist der Arbeitskräftemangel nach den steigenden Kosten das zweitgrößte Problem der ukrainischen Unternehmen. Etwa die Hälfte der Unternehmen gab an, mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen.
Eine Folge davon ist der Anstieg der Kriegslöhne, da die Arbeitgeber die Zahlungen erhöhen, um die verbleibenden Arbeitskräfte zu halten. Die ukrainische Zentralbank erwartet, dass die inflationsbereinigten Löhne im nächsten Jahr das Vorkriegsniveau übersteigen werden.
Ukraine hat nicht genug Ressourcen für wesentliche Truppenaufstockung
Volodymyr Landa, ein leitender Ökonom am Kiewer Zentrum für Wirtschaftsstrategien, sagte laut Bloomberg, dass die Regierung die Bedürfnisse der Wirtschaft im Auge behalten müsse, auch wenn sie das Militär aufrüste. "Der Grund dafür ist einfach: Die Ukraine hat nicht genug Ressourcen, um ihre Truppen wesentlich aufzustocken", sagte Landa.
In einigen Städten zeigen sich die Folgen des Personalmangels längst. In Mykolaiv, einer südlichen Stadt in der Nähe der Frontlinie, wurde etwa der Busverkehr eingeschränkt. Der Grund: Viele Fahrer wurden zum Kriegsdienst eingezogen. In Kiew könnten aus demselben Grund bald weniger Züge der Metro fahren.
Sollten die Unternehmen ihre Produktion zurückfahren müssen, könnte das fatale Wirkungen auf den Staat haben. Weniger Produktion bedeutet weniger Steuereinnahmen – und weniger Steuern bedeuten weniger Geld für das Militär. Die westlichen Verbündeten könnten zwar durch mehr finanzielle Geschenke die Lücke schließen, der Mangel an Männern lässt sich dadurch aber nicht kompensieren.