Ukraine stellt übliche Auffassung vom Seekrieg infrage
Die ukrainischen Erfolge bei der Vertreibung russischer Marineschiffe aus Odessa bieten wichtige Lehren für die Strategie der US-Marine. Ein Gastbeitrag.
In einer außergewöhnlichen, aber wenig beachteten Entwicklung im Krieg in der Ukraine erklärte Vizeadmiral Oleksly Neizhpapa, Chef der ukrainischen Marine, am 12. November, dass sein Land die russische Seeblockade des Hafens von Odessa durchbrochen habe, obwohl es nur über wenige eigene große Schiffe verfüge.
Mit einer Kombination aus Drohnen, Langstreckenraketen und Spezialeinheiten hat die ukrainische Marine die russischen Marineschiffe aus Odessa vertrieben und den Hafen möglicherweise wieder für den internationalen Handel geöffnet. Dies bedeutet zwar nicht, dass die russische Blockade der ukrainischen Küste vollständig gebrochen ist, da Russland weiterhin Handelsschiffe mit Langstreckenraketen oder Drohnen angreifen kann, wirft aber interessante Fragen über die Zukunft des Seekriegs im Schwarzen Meer auf.
Zu den Instrumenten, die von ukrainischer Seite eingesetzt werden, gehören Raketenangriffe auf russische Marineschiffe, insbesondere die dramatische Versenkung der Moskwa im April 2022. Im September 2023 griff die Ukraine das russische Marinehauptquartier in Sewastopol in zwei getrennten Angriffen mit von Großbritannien gelieferten Marschflugkörpern an und erschwerte damit die russischen Marineoperationen im Schwarzen Meer zusätzlich.
Nicht zuletzt setzte die Ukraine Spezialeinheiten mit Jetskis ein, um weitere Angriffe auf russische U-Boote und Marineeinrichtungen im Osten der Krim zu unternehmen. Einem Bericht der Washington Post vom 13. Oktober zufolge haben die ukrainischen Angriffe Russland dazu veranlasst, einen Teil seiner Flotte nach Noworossijsk an der Ostküste des Schwarzen Meeres zu verlegen, wo sie außerhalb der Reichweite ukrainischer Waffen liegt.
Die Angriffe der Ukraine sind an sich schon wichtig, da sie den Weg für eine Wiederaufnahme des Seehandels ebnen könnten. Aber vielleicht noch wichtiger ist die fundamentale Herausforderung, die diese Entwicklungen für die liebgewonnene Vorstellung von Seemacht und ganz allgemein für den Zweck von Seestreitkräften darstellen. Ein Paradigmenwechsel in der Anwendung von Seemacht in der Kriegsführung könnte bevorstehen.
Zurück in die Zukunft
Das ukrainische Vorgehen im Seekrieg im Schwarzen Meer lässt sich als "Jeune Ecole meets Anti-Access Area Denial" zusammenfassen und gibt einen Ausblick auf die Zukunft des Seekriegs, der möglicherweise nicht von Flugzeugträgern und schwer bewaffneten Lenkwaffenkreuzern geführt wird. Stattdessen könnte eine neue Generation von Waffen auf uns zukommen, die große Überwasserschiffe bedrohen.
Jeune Ecole bezieht sich auf eine französische Marinedoktrin aus dem späten 19. Jahrhundert, die sich die damals neue Waffe, den Torpedo, zunutze machen wollte. Kleine Boote in großer Zahl, die mit dieser Waffe ausgerüstet waren, konnten große Schlachtschiffe zu einem Bruchteil der Kosten eines Schlachtschiffes bedrohen. Kurzum, sie erlaubte einem schwächeren Staat, einen stärkeren Staat mit einer größeren Marine herauszufordern.
Tatsächlich griff die US-Marine auf diese Ideen zurück, als sie im Zweiten Weltkrieg ihre PT-Boote konstruierte, um die mächtigere japanische Marine im Pazifik zu Beginn des Krieges zu bedrohen. Während die Jeune Ecole in den katastrophalen Schlachten des Zweiten Weltkriegs im Atlantik und im Pazifik auf dem Müllhaufen der Geschichte zu verschwinden schien, könnte sie im Seekrieg, der sich im Schwarzen Meer abspielt, ein Comeback feiern, und zwar nicht nur mit Torpedos, sondern auch mit landgestützten Drohnen und Langstreckenraketen.
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Anti-Access Area Denial (A2AD) bezeichnet die Fähigkeit, gegnerischen Einheiten zu Lande, zu Wasser und in der Luft den Zugang und/oder die Bewegungsfreiheit in einem ausgewählten Operationsgebiet mit militärischen Mitteln zu verwehren oder zumindest zu erschweren.
Diese Fähigkeit hat sich in den vergangenen 20 Jahren mit der weltweiten Verbreitung von Anti-Schiffs- und Langstreckenraketen entwickelt. Die Genauigkeit dieser Waffen hat sich mit dem Bau von sensorgestützten Präzisionsschlagkomplexen, die globale Positionsdaten mit anderen Informationen kombinieren und so ermöglichen, mobile Ziele auf See zu treffen, ständig verbessert.
Die US-Marine wurde erstmals Ende der 1990er-Jahre auf dieses Phänomen aufmerksam, als die Iraner damit begannen, Tunnel und Unterstände entlang der Küste von Bandar Abbas und auf den Inseln Abu Musa und Tunbs zu graben, die sie 1971 von den Vereinigten Arabischen Emiraten erobert hatten. Beide Standorte ermöglichten es den Iranern, die Schifffahrtsrouten in und aus dem Golf mit landgestützten Waffen zu unterbrechen.
Ende der 1990er-Jahre waren in den gut vorbereiteten betonbewehrten Tunneln Anti-Schiffsraketen installiert worden, die praktisch unangreifbar waren. Natürlich wurde der Marine klar, dass sie ihre Flugzeugträger nicht mehr in den Golf schicken konnte, wie sie es in den 1990er-Jahren routinemäßig getan hatte, um Einsätze zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen über dem Irak durchzuführen und die Operation Southern Watch zu unterstützen.
Die iranischen Tunnel erwiesen sich als Vorläufer der weitaus größeren und mächtigeren chinesischen Bedrohung durch die mobilen Anti-Schiffsraketen der DF-Serie, die die Schifffahrt in mehr als 1.000 Meilen (ca. 1.609 km) Entfernung von der Küste bedrohen können. Diese Raketen haben eine weitaus größere Reichweite als die Trägerflugzeuge der US-Marine.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums entwickelt China aggressiv eine ganze Familie neuer Raketen, darunter Hyperschall-Flugkörper, die in der Lage sind, fahrende Schiffe im Pazifischen Ozean in großer Entfernung zu treffen. Chinas Arsenal wirft die Frage auf, ob der Flugzeugträger nicht verwundbar und obsolet geworden ist – zumindest als Instrument der Machtprojektion gegenüber Gegnern, die über Arsenale von Langstreckenraketen verfügen.
Das Ende der Seemacht, wie wir sie kennen?
Die umfassendere Frage, die ernsthaft diskutiert und analysiert werden muss, ist, ob die Verbreitung dieser mobilen Langstreckenraketen, Drohnen und anderer Waffen das Ende einer Ära markiert, in der sich die etablierten Seestreitkräfte unaufhaltsam auf den Bau von weniger und immer teureren Mehrzweckschiffen konzentriert haben.
Nach Angaben des Congressional Research Service wird etwa die neueste Mehrzweckfregatte der Constellation-Klasse der US-Marine, die sich derzeit im Bau befindet, mehr als eine Milliarde US-Dollar pro Schiff kosten – im Rahmen eines Programms, das die Lieferung von 20 Schiffen in den nächsten zehn Jahren vorsieht.
Die exorbitanten Kosten dieser Schiffe stellen selbst für die USA mit ihrem jährlichen Verteidigungsbudget von über 700 Milliarden US-Dollar eine starke Einschränkung für die Anzahl der zu beschaffenden Schiffe dar. Das Paradebeispiel für teure Marineschiffe ist der Flugzeugträger der Ford-Klasse, dessen Kosten für die fünf Schiffe dieser Klasse auf jeweils über 13 Milliarden US-Dollar geschätzt werden.
Die Auswirkungen des Seekriegs im Schwarzen Meer werfen ernsthafte Fragen auf, ob es sich nicht nur in den USA, sondern auch anderswo lohnt, derart hohe Summen zu investieren. Wenn Schiffe im Wert von einer Milliarde oder mehr Dollar mit Raketen und/oder Robotern, die nur einen Bruchteil der Kosten dieser Schiffe ausmachen, gefährdet (und versenkt) werden können, dann sollte die Kalkulation, die den Bau teurer Mehrzweckschiffe erforderlich macht, ernsthaft überdacht werden.
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Es ist unwahrscheinlich, dass Institutionen wie die US Navy aus dem ukrainisch-russischen Seekrieg generelle Lehren ziehen und ihre geschätzten und in der Vergangenheit bewährten Systeme freiwillig aufgeben werden. Die Karrierepfade der fest verankerten Berufsoffiziere machen es der Marine beispielsweise nahezu unmöglich, ihre Flugzeugträger, die bei Indienststellung ebenfalls eine Lebensdauer von 50 Jahren haben, außer Dienst zu stellen. Die Beschaffung neuer Systeme, die diese Gemeinschaften auflösen oder gefährden würden, würde eine völlige Umgestaltung des Marinedienstes bedeuten.
Eine grundlegende Änderung der Streitkräftestruktur der Marine würde bedeuten, dass man sich mit diesen etablierten und mächtigen Gemeinschaften auseinandersetzen und, was vielleicht am wichtigsten ist, das Personalsystem ändern müsste, auf das die Marine und das Land angewiesen sind. Nichts, was man leichtfertig tun sollte.
Leider ist auch der Kongress Teil des Problems. Er entscheidet sich für die Politik der "Schweinefleischfässer". Damit ist eine Praxis gemeint, bei der Politiker mit öffentlichen Geldern Projekte finanzieren, die in erster Linie den eigenen Wählern oder Anhängern zugutekommen. Im Gegenzug werden politische Unterstützung oder Gefälligkeiten erwartet. Etwa eine Politik, die darauf abzielt, Arbeitsplätze in den eigenen Bezirken zu sichern, anstatt eine wirksame Kontrolle auszuüben und neue Richtlinien für Politik und Beschaffung zu erwägen, die wahrscheinlich nicht von der Institution selbst kommen.
Die ersten Lehren aus dem Seekrieg im Schwarzen Meer deuten jedoch darauf hin, dass die etablierten Denkweisen über Seestreitkräfte, ihre Ziele und ihre Verwundbarkeit ernsthaft analysiert und überdacht werden müssen. Ein Paradigmenwechsel in der Seekriegsführung könnte bereits im Gange sein. Vor allem sollten wir versuchen, einen Schock auf dem Schlachtfeld wie in Pearl Harbor zu vermeiden. Und der uns daran erinnert, dass wir vor vielen Jahren hätten wachsamer sein müssen, als iranische Erdbewegungsmaschinen begannen, ihre Betontunnel für Anti-Schiffsraketen entlang der Küste des Persischen Golfs zu bauen.
James Russell ist außerordentlicher Professor in der Abteilung für nationale Sicherheitsfragen an der Naval Postgraduate School in Monterey, Kalifornien. Die hier geäußerten Ansichten sind seine eigenen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann und Bernd Müller.
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