Ukraine vs. Armenien: Zweierlei Maß überall?

"In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte", sagre einst ein berühmter Sozialdemokrat. Symbolbild: sweetlouise / Pixabay Licence

Nicht nur die Bundesregierung agiert widersprüchlich auf Aggressionen. Werte sind international anpassungsfähig. Schuld ist der wahre Antrieb jeder Außenpolitik.

Hart kritisieren alternative Medien in Deutschland das Vorgehen der Bundesregierung, seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine immer weitere Waffenlieferungen an Kiew zu realisieren. Vor allem, weil im Gegensatz dazu im Fall der Militäraktion Aserbaidschans gegen die Armenier in Karabach ausschließlich zu Friedens- und Verhandlungsappellen gegriffen wird. In großen Publikationen wird dieser Widerspruch meist übersehen.

Großer Unterschied zwischen Aserbaidschan und Russland

Im Ukraine-Krieg steht der Wunsch nach Verhandlungen in der deutschen Regierungspolitik tatsächlich nicht hoch im Kurs. Auf die Idee, Waffen an das bedrängte Armenien zu liefern kommt in der deutschen Politik und den großen Medien allerdings niemand. Selbst Sanktionsforderungen gegen Aserbaidschan gibt es nur von weniger einflussreichen Akteuren. Warum ist das so?

Die Frage, ob beide Konflikte vergleichbar sind, ist dabei gar nicht so einfach zu beantworten, denn Aserbaidschan operiert militärisch aktiv momentan ausschließlich in völkerrechtlich eigenem Staatsgebiet. Jedoch sind die Auswirkungen für die Zivilbevölkerung vor Ort in beiden Fällen verheerend und auch Armenien fühlt sich zunehmend, was das unzweifelhaft eigene Staatsgebiet angeht, von Aserbaidschan bedroht.

Denn Aserbaidschan strebt einen Transitkorridor zwischen dem Mutterland und seiner Exklave Nachitschewan an, der Armenien in zwei Teile zerschneiden würde und nur mit Waffengewalt gegen Armenien durchsetzbar wäre.

Führender Kritiker ehemals im Staatsauftrag

Eine der lautesten Kritiker der Bundesregierung ist dabei Florian Warweg von den NachDenkSeiten. Er nutzte auch seine gerichtlich erstrittene Teilnahme an der Bundespressekonferenz zu entsprechenden Nachfragen.

Diese beantwortete die Bundesregierung lapidar mit dem Verweis "Die Ukrainer entscheiden, wann sie über was verhandeln" – als ob die westlichen Verbündeten von Kiew als größte Geld- und Waffenlieferanten keinen Einfluss auf diese Entscheidungen hätten.

Etwas befremdlich ist es trotzdem, wenn mit Warweg ein langjähriger früherer Beschäftigter des russischen Staatssenders RT solche Kritik formuliert. Warweg hat sich von diesem nie distanziert und hat nach eigenen Worten gegenüber seiner Ex-Kollegin Jasmin Kosubek RT nicht wegen des Angriffs auf die Ukraine an sich, sondern wegen des dadurch entstehenden Drucks auf seine Familie verlassen.

Er hätte sich ansonsten auch ein Bleiben vorstellen können, "je nachdem, wie die Berichterstattung weitergegangen wäre". Aber Warwegs früherer Auftraggeber, der russische Staat, handelt in internationalen Konflikten genauso diametral entgegengesetzt bei gleichartigen Sachverhalten, ohne dass dies bei ihm, seinem alten oder neuen Auftraggeber bisher Erwähnung findet.

Zweierlei Maß bei Russlands getöteten Soldaten

Als 2008 der prowestliche georgische Präsident Saakaschwili versuchte, mit Waffengewalt die Kontrolle über die separatistische Region Südossetien wiederzuerlangen, gehörten zu den ersten Todesopfern dieser Aggression russische Friedenstruppen. Die Reaktion Russlands war ein militärischer Rachefeldzug, der die russischen Truppen bis tief ins georgische Hinterland führte, heute als Georgien-Krieg bekannt.

"Wir werden den Tod unserer Landsleute nicht ungestraft lassen" tönte der damalige russische Präsident Dmitri Medwedjew und schickte seine Panzer los. Sein Premier Wladimir Putin wurde noch allegorischer: "Sollen wir uns in diesem Fall, wie man sagt, den blutigen Rotz abwischen und uns demütig verneigen? (…) Der Angreifer muss bestraft werden."

2023 geschah das Gleiche an anderer Stelle. Aserbaidschan startete eine Militäraktion, um die separatistische Provinz Bergkarabach zu erobern. Bei den ersten Toten der Aktion waren Soldaten der russischen Friedenstruppe, getötet von aserbaidschanischen Soldaten. Doch kein Moskauer Rachefeldzug schloss sich an, nicht einmal harte Rhetorik mit "blutigem Rotz". Im Gegenteil greift in den Kreml-Medien eher ein Armenien-Bashing um sich.

Russland akzeptierte stillschweigend eine Entschuldigung des aserbaidschanischen Staatchefs Ilham Alijew, Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte lapidar zum Tod der eigenen Soldaten: "Wir haben die Informationen gesehen, wir kennen noch nicht alle Details, aber wenigstens ist eine Untersuchung im Gange."

Ursache sind wahren Ziele hinter großen Worten

Zur wertneutralen Erklärung all dieser Vorgänge reicht es, sich ein bekanntes Zitat der sozialdemokratischen Außenpolitik-Ikone Egon Bahr ins Gedächtnis zu rufen, dessen Grundsätze inzwischen selbst in der eigenen Partei inzwischen wenig Beachtung finden:

In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.


Egon Bahr, ehemals Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt (SPD) im Jahr 2013 vor Schülern in Heidelberg

Genau diese Interessen der beteiligten Staaten erklären diese zunächst widersprüchlich erscheinende Verhaltensweisen beider Seiten vollständig. Die Ukraine ist seit dem Euromaidan 2014, der maßgeblich vom Westen unterstützt wurde, ein wichtiger strategischer Verbündeter der Nato in russischer Nachbarschaft. Damit ist das deutsche Interesse nach Lesart seiner Regierung als Nato-Mitglied, die Ukraine mit aller Kraft zu unterstützen, auch mit der Gefahr einer Eskalation.

Armenien dagegen ist ein klassischer Verbündeter Russlands, Aserbaidschan ein wichtiger Rohstofflieferant der EU, den man im geopolitischen Konflikt mit Russland dringend braucht. Zusätzlich verbinden enge Bande Aserbaidschan und den deutschen Nato-Partner Türkei. Damit erklärt sich die diametral entgegengesetzte Verhaltensweise der Bundesregierung von selbst. Es geht bei der realen Politik nicht um die Menschenrechte.

Zurückhaltung gegenüber "Freunden"

Beim russischen Verhalten ist die Erklärung erstaunlich ähnlich. Da Russland mit seinem Ukraine-Feldzug beschäftigt ist, kann es sich weiteres militärisches Engagement zugunsten Armeniens nicht leisten. Die Ukraine ist das weitaus wichtigere Schlachtfeld. Als dann der armenische Premier Nikol Paschinjan seine Fühler nach Unterstützung auch gen Westen ausstreckte, erschien es dem Kreml von Vorteil, Armenien trotz Bedrängnis links liegen zu lassen.

Paschinjans Regierung wird mit der aktuellen Niederlage geschwächt und Russland hofft auf unzufriedene Kräfte, die den freundlichen Kurs zum Westen beenden.

Mit Baku hat Moskau ebenfalls noch ein gutes Verhältnis. Dieses will es in Zeiten harter geopolitischer Auseinandersetzungen nicht schwächen und damit Aserbaidschan ganz in die Arme Erdogans entlassen. Denn diese Gefahr besteht angesichts eines allgemein wachsenden Einflusses von Ankara im südlichen Kaukasus. Dagegen war Georgien 2008 ein mit dem Westen verbündetes, aber militärisch nicht starkes Land, so dass es im russischen Interesse schien, den Tod der eigenen Friedenstruppen auf die härtest mögliche Weise zu beantworten.

Alle Verhaltensweisen können somit mit geopolitischen Interessen erklärt werden, jedenfalls den Interessen nach Meinung der Regierungen. Nur auf sie kommt es an. Das gilt natürlich nicht nur für Deutschland und Russland, auch für die USA, China oder andere Mächte der Welt.

Große Worte helfen den Opfern nicht

Furchtbar in dieser Gemengelage ist, dass überall Menschen im Ringen um Macht und Einflusssphären sterben. Währenddessen bemühen Politiker Ideologie und hohe Worte, um ihr Handeln nach egoistischen Interessen ihres Staates zu verschleiern. Ganz im Gegensatz zu klassischen Politstrategen wie Bahr, die die Größe besaßen, Hintergründe ihres Handelns offen auszusprechen.

So hat die Realpolitik der stramm transatlantischen deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nur wenig mit der von ihr postulierten "feministischen Außenpolitik" zu tun.

Feministisch ist sie nur dann, wenn man Zustände in ohnehin verfeindeten Ländern wie Russland hart kritisieren kann. Die Türkei dagegen bleibt auch nach ihrem Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und trotz massiver Polizeigewalt gegen Frauentagsdemonstrationen unter Recep Tayyip Erdogan ein Partner. Baerbock lobte sogar ausdrücklich die "starke deutsch-türkische Partnerschaft", als es im Frühjahr 2022 darum ging, gemeinsam Druck auf Russland auszuüben.

Dadurch wird auf dem internationalen Parkett eine deutsche Rolle als unglaubwürdiger Apostel mit Doppelmoral geschaffen, auf den die Welt nicht gewartet hat und dem sie auch nicht zuhört.

Noch viel schlimmer baut allerdings die russische Regierung eine Ideologie einer rückwärtsgewandten "Russischen Welt" auf, um damit geopolitische Ambitionen ebenso wie die Unterdrückung Andersdenkender im Inneren zu rechtfertigen. Im Gegensatz zu Russland hat in Deutschland die Presse die Möglichkeit, ideologische Nebelkerzen der Politik den Lesern darzulegen. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht.

Wenn man das aber tut, sollte man es in ausgewogener Weise bei allen Ungerechtigkeiten machen, nicht nur denen, denen man selbst ideologisch feindselig gegenübersteht. Sollten Politiker dennoch Journalisten mit großen Worten statt mit tatsächlichen Beweggründen abspeisen, hat Altmeister Bahr noch einen Tip: "Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit den Raum zu verlassen."