Ukrainer erobern Region Charkiw weitgehend zurück

Charkiw nach russischem Beschuss am 9. September 2022. Bild: Hauptdirektion des staatlichen Notdienstes der Ukraine im Gebiet Charkiw. / CC BY 4.0

Große Geländegewinne der ukrainischen Armee; russische Armee zieht sich aus Isjum und Umgebung zurück. Ob daraus ein überregionaler Sieg für die Ukraine wird, muss sich erst zeigen.

Lange war die schon viele Wochen laufende ukrainische Gegenoffensive ebenso wenig von Erfolg geprägt wie vorherige monatelange Offensivversuche der russischen Seite im Donbass. Insbesondere im Süden der Front bei Cherson waren die Geländegewinne trotz viel begleitender Propaganda eher bescheiden.

Das änderte sich ab 4. September, doch an einem ganz anderen Abschnitt der Front - im äußersten Norden unweit der russischen Grenze, wo die Ukrainer zeitversetzt ebenfalls und nun erfolgreich in die Offensive gingen.

Tiefer Vorstoß nach Eroberung von Balakleja

Hier brachen bei der Kleinstadt Balakleja in der Region Charkiw (russisch Charkow) die Angriffsspitzen der Ukrainer durch die russische Front. Sie besetzten nicht nur die Stadt, sondern stießen sehr schnell und tief in das zuvor von den Russen besetzte, aber nur schwach verteidigte Hinterland vor, bis zum etwa 70 Kilometer entfernten Verkehrsknotenpunkt Kupjansk.

Die Ukrainer begleiteten den Vorstoß mit einer massiven Social-Media-Kampagne, so dass man in jedem größeren Ort das erneute Hissen der ukrainischen Flagge online beobachten konnte.

Mit dem tiefen Vorstoß wurde aus dem symbolischen Erfolg der Ukrainer auch ein strategischer - denn mit diesem Vormarsch waren 10.000 rund um Isjum eingesetzte russische Soldaten von einer Einkreisung bedroht, die dort eigentlich bei der Eroberung des noch von den Ukrainern gehaltenen Teils des Donbass rund um Slawjansk helfen sollten.

Russen räumen Isjum, um Einkreisung zu entgehen

Die russische Armeeführung reagierte und räumte hastig Isjum und seine Umgebung, wobei es hier zu heftigen Gefechten mit nachrückenden ukrainischen Truppen kam, die noch andauern. Die geplante Eroberung des noch von den Ukrainern beherrschten Teils des Donbass, so etwas wie das militärische russische Minimalziel, ist damit in weite Ferne gerückt.

Die ukrainischen Rückeroberungen innerhalb einer Woche umfassen nun ein Gebiet, das die russische Armee zuvor in mehreren Monaten mühsam besetzt hatte.

Im weiteren Verlauf des Wochenendes stießen die ukrainischen Truppen dann auch nach Norden bis an die russische Grenze und nach Süden auf Liman vor, so dass sie nun nahezu das gesamte Gebiet Charkiw wieder kontrollieren. In Liman fanden bereits Kämpfe statt, aber die russische Seite dementierte Erfolgsmeldungen der Ukrainer, dass man Liman bereits ebenfalls verlassen habe.

Liman hat eine strategisch wichtige Bedeutung, da die Stadt für die Ukrainer einen potentieller Brückenkopf für die Rückeroberung der Region Lugansk darstellt. Von hier ist es nicht weit nach Lisitschansk und Sewerodonezk - Orten, die vor einigen Monaten bei der russischen Eroberung Schlagzeilen gemacht hatten.

Die Erfolge ließen sich in Moskau selbst nicht mehr dementieren. Bewahrte am Freitag Kremlsprecher Peskow bei einem Pressebriefing trotz Nachfragen noch Stillschweigen, wurde der massive Rückschlag schließlich am Samstag mehr schlecht als recht vom Verteidigungsministerium als Umgruppierung der eigenen Truppen zu kaschieren versucht.

Am Sonntag erschien beim üblichen Pressebriefing des russischen Verteidigungsministeriums kommentarlos nahezu die gesamte Region Charkiw wieder als ukrainisch kontrolliertes Gebiet.

Die Stille im Kreml - Kadyrow poltert

Dennoch blieb es im Kreml selbst zum Thema bis Sonntagabend weiter still. Putin weihte am Samstag einen Sportkomplex und ein Riesenrad ein und nutzte beide Gelegenheiten nicht zu einem konkreten Kommentar der militärischen Lage.

Der einzige namhafte Politiker, der sich offen äußerte, war der tschetschenische Machthaber Kadyrow, der innerhalb des Machtzirkels zu den Falken gezählt wird. Er sprach von "Fehlern, die gemacht wurden" und dass er sich, falls keine Strategieänderung erfolge, er sich an die Führung des Landes wenden müsse. Er wäre bereit, aus seiner Republik 10.000 zusätzliche Kämpfer zu schicken, um wieder in die Offensive zu gehen.

Ob aus dem unzweifelhaften regionalen Erfolg der Ukrainer wirklich ein Meilenstein wird, der am Ende zu einem militärischen Sieg gegen die russischen Invasionstruppen führt, ist zum aktuellen Zeitpunkt noch völlig unklar, auch wenn viele deutsche Journalisten schon einen sicheren Sieg herbeischreiben.

Hier hängt es entscheidend davon ab, ob es den russischen Truppen gelingt, die Front an der neuen Linie Kupjansk - Liman zu stabilisieren. Erschwert wird die Wahrheitsfindung von der Propaganda beider Seiten. Während die Ukrainer berichten, dass die russischen Soldaten überall vor ihren angreifenden Truppen fliehen, geben diese wiederum an, die ukrainische Armee hätte im Rahmen der Offensive 4.000 Gefallene zu beklagen und könne den Vormarsch nicht länger durchhalten.

Einige Fakten stehen jedoch fest. Zahlreiche Videos aus dem Kampfgebiet belegen, dass die Ukrainer bei der Offensive auch Panzer aus deutscher Produktion eingesetzt haben, den Flugabwehrpanzer Gepard ebenso wie die Panzerhaubitze 2000. Ersterer soll laut US-Geheimdienstquellen die Deckung von ukrainischen Angriffsgruppen gegen Luftschläge der russischen Luftwaffe übernommen haben, was militärisch Sinn ergibt.

Mit diesem Einsatz gehen die Ukrainer auch offen um, um den Druck auf die Bundesregierung für mehr Waffenlieferungen zu steigern. Auf der Wunschliste von Kiew stehen vor allem Kampf- und Schützenpanzer der Typen Leopard und Marder, die sich bei Offensivaktionen wie aktuell in der Angriffsspitze einsetzen ließen.