Ukrainische Angriffe in Russland sollten für Washington ein Alarmsignal sein
Seite 2: Der Anreiz zu Eskalation nimmt zu
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Die Attacke in Belgorod fällt mit zwei weiteren Entwicklungen zusammen, die mit einer Eskalation einhergehen könnten. Die Erste ist die Ankündigung, dass die Vereinigten Staaten der Ukraine nun F-16-Kampfbomber liefern werden – Flugzeuge, die tief in Russland eindringen können. Biden sagte, Präsident Selenskyj habe versprochen, dass diese Flugzeuge nicht für Angriffe auf russisches Territorium eingesetzt werden.
Angesichts der jüngsten Entwicklungen und der Einschätzung der US-Geheimdienste, dass die Ukraine hinter mehreren Anschlägen in Russland steckt, könnte es sich für die USA jedoch als zu riskant erweisen, sich auf solche Versprechen zu verlassen.
Die Ukraine hat keine Kapazitäten zur Wartung dieser Flugzeuge, und es würde sehr lange dauern, eine solche Fähigkeit aufzubauen. Das bedeutet, dass die Flugzeuge, sollten sie tatsächlich eingesetzt werden, entweder von US- und Nato-Personal auf ukrainischen Flugplätzen gewartet werden oder von Nato-Stützpunkten in Polen aus fliegen müssen. Beide Optionen würden die Nato einen großen Schritt näher an eine direkte Kriegsbeteiligung bringen.
Die zweite Entwicklung ist die in den Medien verbreitete Erklärung des Chefs des ukrainischen Militärgeheimdienstes, General Kyrylo Budanov, dass sein Dienst hinter einer Reihe von Attentatsversuchen und Sabotageakten in Russland steckt – etwas, das in den geleakten Pentagon-Dokumenten angedeutet und von Beobachtern weithin vermutet wurde, aber zuvor von der ukrainischen Regierung öffentlich und wiederholt dementiert worden war.
US-Geheimdienstmitarbeiter haben gegenüber der New York Times erklärt, dass sie davon ausgehen, dass die Ukraine wahrscheinlich hinter dem Drohnenangriff auf den Kreml sowie dem Angriff in Belgorod und den Attentatsversuchen in Russland steckt.
Auch das ist eine klare Missachtung der US-Vorgaben. Nach dem ersten Mordanschlag in Russland auf den nationalistischen Intellektuellen Alexander Dugin (dessen Tochter getötet wurde) wurde berichtet (offensichtlich auf der Grundlage eines beabsichtigten offiziellen Leaks), dass die CIA der ukrainischen Regierung eine eindeutige Botschaft übermittelt habe, dass man gegen derartige Anschläge sei.
Budanow hat nun zugegeben, dass man trotzdem damit weitermachte, und zwar mit der Ermordung des nationalistischen Bloggers Wladlen Tatarski im letzten Monat und dem versuchten Mord an dem ehemaligen Donbass-Separatistenkämpfer Sachar Prilepin (der verwundet wurde).
Man sollte das Recht der Ukraine anerkennen, russisches Territorium anzugreifen. Man kann den Wunsch der Ukraine – nach den Verlusten und der Zerstörung, die die Ukraine infolge der russischen Invasion erlitten hat –, das zu tun, sehr gut verstehen. Dennoch sind solche Angriffe, selbst wenn sie erfolgreich sind, höchst problematisch.
Strategisch gesehen sind Attentate sinnlos. Der Überfall auf Belgorod war zwar politisch falsch, aber militärisch sinnvoll, um die russischen Streitkräfte von der Front in der Ukraine abzulenken und Russland selbst zu verteidigen.
Aber die Ermordung einzelner russischer nationalistischer Intellektueller und Blogger (deren Einfluss auf Putin ohnehin stark übertrieben wurde) wird die russischen Kriegsanstrengungen in keiner Weise beeinflussen.
Die Morde sind auch deshalb gefährlich, weil sie einen Präzedenzfall schaffen, auf den Russland mit der Ermordung ukrainischer Intellektueller und Politiker in der Ukraine oder im Westen reagieren könnte – und damit die Eskalationsspirale weiter anheizt.
Die wichtigste Lehre aus dem Überfall in Belgorod und den ukrainischen Ermordungen besteht darin, dass – was immer Washington auch wünschen mag – solange der Krieg andauert, für beide Seiten ein starker Anreiz zur Eskalation besteht, entweder weil sie darin einen militärischen Vorteil sehen oder als Vergeltung für Aktionen des Feindes. Die Vereinigten Staaten können diesen Prozess nicht kontrollieren.
Die USA und ihre Verbündeten haben der Ukraine wiederholt neue Waffen zur Verfügung gestellt, von denen sie zuvor erklärt hatten, dass sie sie nicht bekommen würden. Die Aufstockungen der Hilfe waren nicht durch eine anwachsende Bedrohung durch Russland motiviert, sondern im Gegenteil durch russische Niederlagen und die stärker werdende Überzeugung, dass Russland nicht mit Angriffen auf den Westen reagieren wird.
Das ist jedoch eine Annahme und keine Tatsache. Wie ein ehemaliger CIA-Analyst es ausdrückte:
Das Problem ist, im Glauben, dass Russland keine roten Linien hat, unsere Unterstützung für die Ukraine ständig zu verstärken, wobei wir nicht wissen können, ob wir eine rote Linie überschritten haben. Wir wissen es erst dann, wenn wir sie tatsächlich überschritten haben und Russland Vergeltung übt.
Die Biden-Regierung sollte der Ukraine weiterhin helfen, sich gegen die russische Invasion zu verteidigen, aber sie muss sich zugleich immer darüber im Klaren sein, dass ihre primäre und durchgängige Pflicht die Sicherheit des amerikanischen Volkes ist – was bedeutet, dass sich die USA aus dem Krieg heraushalten müssen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).