Ukrainische Gegenoffensive: Durchbruch oder Durchbrüchchen?
Ein ukrainische General spricht von einem entscheidenden Erfolg an der Südfront. Doch die Lage vor Ort bleibt unklar. Einen Deutungskampf gibt es auch um die Truppenreserven.
Es war die große Nachricht am Wochenende zum Krieg in der Ukraine: Die ukrainischen Truppen hätten bei der Gegenoffensive im Süden des Landes mit dem Teildurchbruch der russischen Linien einen bedeutenden Teilsieg errungen, sagte ein hochrangiger Militärvertreter des Landes.
Gleicht man diese Darstellung aber mit der Einschätzung US-amerikanischer Militärexperten ab, wirkt die Einschätzung eines "entscheidenden Durchbruchs", wie das Nachrichtenmagazin Stern titelte, infrage. Das gilt auch für die Reserven der beiden Armeen.
General Oleksandr Tarnawskyj sagte im Interview mit der britischen Tageszeitung Guardian, dass die eigenen Streitkräfte in der Region Saporischschja die erste Befestigungsreihe der Russen durchbrochen hätten. "Wir befinden uns jetzt zwischen der ersten und zweiten Verteidigungslinie", so Tarnawskyj.
Es gehe nun um "die Eliminierung der feindlichen Einheiten, die den russischen Truppen Deckung für den Rückzug hinter ihre zweite Verteidigungslinie bieten", sagte Tarnawskyj weiter.
Am Montag hatte die ukrainische Armee nach eigenen Angaben bereits das Dorf Robotyne zurückerobert.
Das in Washington ansässige Institute for the Study of War gab die Einschätzung des ukrainischen Generals in seinem täglichen Monitoring zwar wieder, äußerte sich zu Bedeutung des Geschehens aber zurückhaltend.
Ukrainische Offizielle und russische Militärblogger verwendeten unterschiedliche Begriffe für die offenbar gestürmte Militäranlage: "Russische Quellen bezeichnen die erste Reihe von Stellungen, die die ukrainischen Streitkräfte bereits durchbrochen haben, als Frontlinie, ohne ihr eine Ordnungsnummer zu geben, und die Reihe, auf die sich die ukrainischen Streitkräfte derzeit zubewegen, als erste Hauptverteidigungslinie - während die ukrainischen Streitkräfte diese Stellungen als zweite Verteidigungslinie Russlands bezeichnen", heißt es in der Analyse der US-Beobachter.
Russische Quellen widersprechen
Russische Beobachter stellten die Lage erwartungsgemäß anders dar. Wer mit der Lage vor Ort vertraut sei, wisse, dass die Berichte über das "Durchbrechen der ersten Verteidigungslinie Unsinn" seien, schrieb das kremlnahe Portal Readovka: "Das einzige Argument, das diese Behauptung stützt, ist die Überwindung der ‚Drachenzähne‘ bei Robotyne, die nur ein Hilfselement der Verteidigungsstellungen der russischen Streitkräfte sind."
Der Sprecher der ukrainischen Truppen vor Ort, Oleksandr Shtupun und Tarnawskyj erklärten nach Angaben des ISW, dass die ukrainischen Streitkräfte nun mehr Fahrzeuge in diesem Gebieten einsetzen und mehr Ausrüstung und Truppen in Richtung der nächsten russischen Verteidigungsschicht verbringen.
"Aber sie räumten auch ein, dass Minenfelder immer noch eine erhebliche Bedrohung darstellen werden". Tarnawskyj auch, dass die ukrainischen Streitkräfte zu Beginn der Gegenoffensive mehr Zeit mit der Minenräumung verbrachten, als sie erwartet hatten, und der Einsatz der russischen Artillerie und Luftwaffe die ukrainische Infanterie zwingen, die Minenräumung nur nachts durchzuführen.
Die Ukraine versucht weiterhin, die Nachteile gegenüber der russischen Überlegenheit auszugleichen. Unlängst hieß es in diesem Zusammenhang, Kiew wolle die Herstellung von Kampfdrohen in einem erheblichen Maß steigern.
"Ich denke, dass es in diesem Herbst einen Boom bei der Produktion verschiedener ukrainischer Drohnen geben wird: fliegende, schwebende, kriechende und so weiter", sagt Verteidigungsminister Olexyj Resnikow der Agentur Ukrinform. Ukrainischen Drohnenangriffe auf russisches Territorium haben in den vergangenen Wochen zugenommen und sind gegenüber den westlichen Unterstützern dringend auf Erfolgsmeldungen angewiesen.
Vor wenigen Tagen hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj indirekt die Verantwortung für den Drohnenangriff auf einen Militärflughafen in Pskow im Westen Russlands übernommen.
Ukrainische Langstreckenwaffen seien erfolgreich eingesetzt worden und hätten "ein Ziel in 700 Kilometern Entfernung getroffen", schrieb er auf Telegram. Der Militärflughafen in Pskow befindet sich ebenso weit von der ukrainischen Grenze entfernt.
Wem gehen die Truppen aus?
Nicht nur die Erfolge an den Frontlinien werden von den Kriegsparteien unterschiedlich dargestellt. Die Propaganda bezieht sich auch auf die Reserven der jeweiligen Streitkräfte. "Den Russen gegen die Soldaten aus", schrieb die Frankfurter Zeitung unter Berufung auf Aussagen Tarnawskij, der tatsächlich mutmaßte, den Russen könnten "die besten Soldaten" verlieren.
Russland hat in diesem Jahr nach offiziellen Angaben rund 280.000 Berufssoldatinnen und -soldaten im Einsatz. Sie seien nach Angaben des Verteidigungsministeriums auf Vertragsbasis in die Armee aufgenommen worden, sagte der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew laut der Nachrichtenagentur Tass bei einem Besuch im Osten Russlands.
Dort berate er mit den örtlichen Behörden, wie die Armee weiter gestärkt werden könne. Medwedew ist derzeit Vizechef des russischen Sicherheitsrates. In der Zahl von 280.000 Soldaten seien auch Reservisten enthalten, sagte Medwedew. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte im September 2022 eine Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten angeordnet. Spekulationen über eine weitere Mobilisierung danach wies Putin zurück.
Ukrainische Vertreter Verlangen, dass westliche Staaten Staatsangehörige im wehrfähigen Alter ausliefern. Die Bild bezeichnete das unter der Überschrift "Liefert uns die Fahnenflüchtigen aus" als "weiteren drastischen Schritt". Konkret hatte der Fraktionschef von Selenskyjs Partei, David Arahamia, die Auslieferung von Fahnenflüchtigen aus dem Ausland ins Spiel gebracht: "So könnte die durch Verluste aus 18 Monaten Krieg geschwächte Armee massiv verstärkt werden."
Die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita rechnete bereits aus, dass sich 80.000 Männer im wehrfähigen Alter im Land befinden könnten. Um solche Männer ausgeliefert zu bekommen, müsse die Ukraine für jeden von ihnen einen internationalen Haftbefehl ausstellen, schrieb das Blatt und zitiert einen Polizeisprecher:
Wenn wir einen solchen Ausländer festnehmen, etwa bei einer gewöhnlichen Straßenkontrolle, wird unser System zeigen, dass es sich um eine Person handelt, die von der Staatsanwaltschaft aus der Ukraine verfolgt wird, weil es Interpol-Daten gibt. Wir nehmen eine solche Person dann fest und informieren die Staatsanwaltschaft. Ob sie ausgeliefert wird, entscheidet dann ein polnisches Gericht.
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