Ukrainische Truppen ziehen sich aus umkämpfter Stadt im Osten zurück

Zerstörte Häuser in einer ukrainischen Stadt

(Bild: ChocoPie / Shutterstock.com)

Chasiw Jar wird zum Teil aufgegeben. Heftige Bombenangriffe machten Verteidigung unmöglich. Weitere Städte nun bedroht – droht der Zusammenbruch?

Die ukrainischen Streitkräfte haben den Rückzug aus einem Stadtteil der strategisch wichtigen Stadt Chasiw Jar in der Region Donezk angeordnet. Militärsprecher Nasar Woloschyn sagte am Donnerstag, das Halten des Stadtteils sei "unpraktisch" geworden, weil russische Truppen eingedrungen seien und ukrainische Stellungen zerstört hätten.

Ukraine zieht sich aus Stadtteil von Chasiv Jar zurück

Der Rückzug diene dem Schutz von Leben und Gesundheit der Soldaten, sagte Woloschyn laut Bloomberg im ukrainischen Fernsehen. Die Stellungen der Kiewer Truppen seien durch russische FAB-Bomben zerstört worden, was ein weiteres Halten der Position unmöglich mache. Der Rückzug zeigt aber auch, dass der Abnutzungskrieg Russlands die Möglichkeiten der Ukraine zunehmend überfordert.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte diese Woche erklärt, bis zu 14 Brigaden seien unterversorgt oder gänzlich ohne Waffen, weil die US-Militärhilfe zu langsam ankomme. Die Waffen aus dem jüngsten US-Militärhilfepaket treffen erst jetzt allmählich ein.

Chasiw Jar liegt auf einer Anhöhe rund 55 Kilometer nördlich der russisch besetzten Stadt Donezk. Ukrainische Truppen hatten versucht, die Stadt zu halten, nachdem russische Truppen im vergangenen Jahr die nahe gelegene Festung Bachmut eingenommen hatten. Die erhöhte Lage von Chasiv Jar bietet einen strategischen Vorteil für Artillerieangriffe.

Russland stürmt Stadt trotz hoher Verluste

Russland hat rund um Chasiv Jar Zehntausende Soldaten stationiert und greift die Stadt täglich mit Hunderten Bomben und Granaten an. In sozialen Netzwerken kursieren Videos, auf denen kaum noch ein intaktes Haus in der Stadt zu sehen ist. Von ehemals 12.000 Einwohnern harren noch knapp 600 in Kellern aus.

Wegen ihrer strategischen Bedeutung wird die Stadt weiterhin von der russischen Armee gestürmt - trotz schwerer Verluste, wie es von ukrainischer Seite heißt. Die Zahl der toten und verwundeten russischen Soldaten soll in die Tausende gehen. Von unabhängiger Seite konnten diese Zahlen jedoch nicht bestätigt werden.

Wie in früheren Schlachten soll die russische Armee die Taktik der "Fleischwelle" anwenden. Infanterietruppen werden in Wellen zum Angriff auf ukrainische Stellungen geschickt. Laut Frontberichten stürmen sie mit Motorrädern und Geländewagen die ukrainischen Schützengräben. Ein Videobeweis für eine solche Taktik konnte bisher allerdings nicht erbracht werden.

Bedrohung für weitere ukrainische Städte

Sollte Chasiv Jar fallen, wären die dahinter liegenden Städte Kostjantyniwka, Kramatorsk, Slowjansk und Pokrowsk unmittelbar von einer Besetzung bedroht. Schon jetzt stehen sie unter schwerem Beschuss.

Die ukrainische Denkfabrik "Center for Defense Strategies" (CDS) warnt: Wenn es Russland gelingt, den Brückenkopf auszubauen, droht Chasiw Jar auch von Süden her Gefahr. Russland versuche an mehreren Stellen durchzubrechen, um ukrainische Kräfte zu binden.

Die ukrainische Analysegruppe Deep State, die laut Financial Times dem ukrainischen Verteidigungsministerium nahesteht, erklärte, russische Truppen versuchten an mehreren Stellen entlang der fast 1.000 Kilometer langen Front durchzubrechen. Die Ukraine müsse darauf reagieren, indem sie ihre Kräfte bis zum Äußersten strapaziere.

Sabotage und Aufklärung jenseits der Grenze

Besorgniserregend seien auch die russischen Sabotage- und Aufklärungsoperationen jenseits der Grenze in den Regionen Sumy und Tschernihiw, so der CDS. Im Mai folgte auf ähnliche Einsätze eine Offensive mit 30.000 Soldaten in Charkiw. Mehrere Städte und Dörfer wurden besetzt, die Millionenstadt Charkiw in Reichweite schwererer Waffen gebracht.

Kreml-nahen Militärbloggern zufolge konzentriert Russland neue Angriffe auf die Städte Niu-York und Toretsk. Der zu 12 Jahren Haft verurteilte kremlnahe Ukrainer Jurij Podoljaka sieht die ukrainische Verteidigung zusammenbrechen. Der Kiewer Generalstab widerspricht und betont, die Frontlinie halte.

Der Sicherheitsexperte Michael Kofman prophezeit der Ukraine laut FT dennoch einen schwierigen Sommer im zermürbenden Kampf um Donezk. Die zusätzliche Front bei Charkiw beanspruche die ukrainischen Arbeitskräfte stark, auch wenn die Mobilisierung zunehme und der Westen versuche, die Lücke in der Luftabwehr Kiews zu schließen.

Die Lage habe sich im Vergleich zu vor einigen Monaten verbessert, so Kofman, aber die Priorität für Kiew bleibe, "Russland auf schrittweise Fortschritte zu beschränken und einen bedeutenden Durchbruch zu verhindern".