Ukrainischer Blitzangriff: Wie wird Wladimir Putin auf diese Demütigung reagieren?

Griechische Freiwillige der internationalen Brigade der Ukraine in Kursk

Griechische Freiwillige der internationalen Brigade der Ukraine in Kursk. Bild: @BellumActaNews

Invasion traf Moskau überraschend unvorbereitet. Evakuierungen auf beiden Seiten der Grenze. Was sich in der zweiten Phase der Operation ändert.

Knapp eine Woche dauert der Vormarsch ukrainischer Truppen auf russisches Territorium im Verwaltungsgebiet Kursk inzwischen an – nun zeichnet sich die Antwort Moskaus ab. Die größte ukrainische Offensive auf russischem Territorium seit Beginn des Krieges hat Russlands politische und militärische Führung dazu genötigt, Truppen in die Region zu entsenden und die dortigen Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen.

Westlichen Medienberichten zufolge wurden mehr als 76.000 Menschen aus der russischen Region Kurs evakuiert. All dies deutet auf einen größeren Konflikt hin. Die Frage ist: Ist die Ukraine für die Antwort des mächtigen Nachbarn gewappnet?

NYT: Russen setzen Aerosolbomben ein

Viele Aufmerksamkeit kommt der Wahl der Waffen zu. Die New York Times etwa berichtete, dass die russische Luftwaffe sogenannte thermobarische Bomben eingesetzt hat. Diese auch als Aerosolbomben bekannten Sprengkörper erzeugen eine Druckwelle, die Menschen in ihrem Wirkungsbereich durch ein Lungentrauma erstickt.

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Trotz dieser massiven Gegenangriffe scheinen die ukrainischen Streitkräfte weiterhin Boden zu gewinnen. Am Samstag behaupteten sie, ein kleines Dorf in der benachbarten Region Belgorod eingenommen zu haben. Internationale Beobachter gehen davon aus, dass die ukrainischen Streitkräfte den größten Teil der Stadt Sudscha in der Region Kursk kontrollieren. Sudscha befindet sich etwa zehn Kilometer von der Grenze entfernt.

Der Analyst Pasi Paroinen von der finnischen Organisation Black Bird Group analysiert Satellitenbilder und Inhalte sozialer Medien vom Schlachtfeld. Seiner Einschätzung zufolge deuten diese Quellen darauf hin, dass Moskau in der Lage gewesen ist, die größeren Vorstöße auf russisches Territorium Ende der Woche zu stoppen.

"Wir treten jetzt in die Phase ein, in der nur noch kleinere Gebietsgewinne erzielt werden", sagte er über den anfänglichen Vormarsch der Ukraine. "In den ersten drei Tagen gab es schnellsten Bewegungen", fügte er hinzu. "Und gestern, denke ich, haben wir die ersten Anzeichen der russischen Reaktion sehen können."

Folgen für Ukraine nicht klar

Die langfristigen Folgen für die Ukraine sind noch unklar. Das Land befindet sich im dritten Jahr eines Krieges, der entlang einer mehr als eintausend Kilometer langen Frontlinie im Osten und Süden verläuft. Die Lage dort ist weitgehend festgefahren. Die Entscheidung der ukrainischen Streitkräfte, die Grenze nach Russland zu überschreiten, hat daher nicht nur Moskau, sondern auch die USA und andere Nato-Staaten überrascht.

Einige spekulieren, die Ukraine wolle die russischen Truppen von den Frontlinien in der Ukraine abziehen, um den schwer strapazierten ukrainischen Truppen im eigenen Land eine Atempause zu verschaffen.

Demütigung für Putin

Klar ist aber auch: Für Russlands Präsident ist der Vorstoß der Ukraine eine Demütigung. Andrej Guruljow, ein pensionierter Militäroffizier und derzeit Abgeordneter in der Staatsduma, kritisierte am Freitag Russlands Reaktion. "Es gibt kein militärisches System zum Schutz der Staatsgrenze, keine Reserven und keine zweite Verteidigungslinie", schrieb er auf Telegram und fügte hinzu: "Wenn die ukrainischen Streitkräfte zwei Monate damit verbracht haben, sich darauf vorzubereiten, wie konnten wir das übersehen?"

Dara Massicot, Senior Fellow am Carnegie Endowment for International Peace in Washington, beschrieb die ukrainische Invasion für Russland als "Systemversagen auf mehreren Ebenen: Aufklärung, Verteidigung und Notfallreaktion". Die Grenzregionen seien im Jahr 2022 in einen Notfallmodus versetzt worden – gerade, um auf solche Situationen vorbereitet zu sein. Umso offensichtlicher sei nun das Versagen.

Um der Invasion zu begegnen, scheint sich das russische Militär hauptsächlich auf Einheiten zu verlassen, die bereits in der Nähe des Gebiets stationiert sind. Die meisten dieser Truppen bestehen aus Militärrekruten und irregulären Kräften, im Gegensatz zu den kampferfahrenen Soldaten, die in der Ukraine im Einsatz sind.

Die russischen Behörden und die staatlichen Medien haben wiederholt behauptet, die Lage unter Kontrolle zu haben. Jedes Mal mussten im Nachgang weitere Gebietsverluste eingestanden werden.

Was, wenn russische Rekruten im eigenen Land fallen?

Die New York Times jedenfalls schätzt ein, dass diese Offensive russische Öffentlichkeit erschüttern wird. Wenn jetzt auch noch Rekruten fielen, könnte der Krieg in einer Weise in die russische Öffentlichkeit dringen, wie es die Verluste an der Front in der Ukraine niemals vermocht hätten.

Der Konflikt droht auch auf das benachbarte Belarus überzugreifen: Am Samstag kündigte die dortige, mit Russland verbündete Regierung an, mehr Truppen zum Schutz der Grenze zur Ukraine zu entsenden.

Minsk meldet ukrainische Drohnen

Ukrainische Drohnen, hieß es aus Minsk, seien in den Luftraum des Landes eingedrungen. Der belarussische Verteidigungsminister erklärte auf Telegram, man habe am Freitag mehrere ukrainische Drohnen abgeschossen.

Bis jetzt steht außer Frage, dass der Ukraine ein Coup gelungen ist. Vor allem, weil die Planung im Geheimen stattgefunden hat und offenbar viele der Beteiligten mitgezogen haben. Ein Großteil ihrer Truppenbewegungen konnte verschleiert werden, indem die Armee ihre Soldaten wohl anwies, nicht über den geplanten und laufenden Vorstoß zu sprechen oder Videos zu veröffentlichen.

Rare Fotos der Intervention

Es gab jedoch Ausnahmen. Eine Gruppe von Soldaten etwa, die auf einem Video posierten, das vor einer Anlage des staatlichen russischen Gasmonopolisten Gazprom am Stadtrand von Sudscha aufgenommen wurde. Die New York Times will das Video verifiziert haben.

Satellitenbilder zeigten mehrere beschädigte oder zerstörte Gebäude im Zentrum von Sudscha, darunter das Büro der Staatsanwaltschaft und ein Apartmenthaus. Die New York Times überprüfte weitere Satellitenbilder, die zeigten, dass die Kämpfe am Freitag noch andauerten, mit sichtbaren Rauchsäulen und offenen Brandherden.

Am Samstag äußerte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erstmals ausführlicher zur Invasion. Er sprach davon, dass die Ukraine den Krieg "auf das Territorium unseres Aggressors ausgedehnt" habe und dankte dem Militär dafür.

Eine Ablenkung für die russischen Truppen in der Ukraine stellt die Inversion bislang jedoch nicht dar. In den vergangenen Tagen seien sie in der Nähe der umkämpften ostukrainischen Städte Tschasiw Jar, Torezk und Pokrowsk vorgerückt, so internationale Beobachter.

Am Freitag bestätigte das britische Verteidigungsministerium, dass russische Truppen in der Region Donezk in der Ostukraine auf dem Vormarsch seien und sich etwa 16 Kilometer von Pokrowsk entfernt befänden.

Lage an Grenze angespannt

Die Lage entlang der Grenze blieb am Freitag angespannt. Beide Seiten evakuieren Bewohnen in großem Maßstab. Russland rief eine verschärfte Sicherheitslage in den Regionen Kursk, Belgorod und Brjansk aus.

Dazu gehören Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, wie sie jahrelang in Teilen Tschetscheniens während des dortigen Krieges umgesetzt worden waren.

Die ukrainischen Behörden kündigten am Freitag die Evakuierung von 20.000 Menschen aus der Region Sumy über die Grenze in die Region Kursk an.