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Ukrainischer Generalstaatsanwalt will Janukowitsch wegen MH17 belangen

Die ukrainische Regierung zelebriert mit der Maidanbewegung, der "Revolution der Würde", dem "Tag der Würde und Freiheit" und "Göttlichen Hundert" den Gründungsmythos und ihre Legitimation. Bild: president.gov.uk/CC BY-4.0

Der Poroschenko-Vertraute Lutsenko fordert den ICC auf, gegen den gestürzten Präsidenten zu ermitteln, der für den Abschuss und die Kämpfe in der Ostukraine verantwortlich sei

Einen interessanten Vorschlag hat der ukrainische Generalstaatsanwalt Yuriy Lutsenko in den Den Haag gemacht. Er sagt Journalisten, das Gemeinsame Ermittlungsteam [1] (JIT), das den MH17-Fall strafrechtlich aufklären soll, solle sich an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wenden, der den Abschuss als Folge eines Staatsverrats prüfen soll. Der soll von dem durch die Maidan-Revolte gestürzten Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch begangen worden sein. Das habe auch zur Besetzung der Krim und Teilen der Ostukraine geführt.

Im JIT arbeiten unter Leitung der niederländischen Staatsanwaltschaft Vertreter der Niederland und von Australien, Malaysia und Belgien zusammen mit Repräsentanten aus der Ukraine. Obgleich die Ukraine Konfliktpartei ist, wirkt sie maßgeblich in der Untersuchung mit. Erklärt wird, man habe Maßnahmen ergriffen, um die Unabhängigkeit zu garantieren, was aber nicht näher ausgeführt. Wenn es heißt, dass die Untersuchung gemeinsam durchgeführt wird, heißt das vermutlich auch, dass die Ukraine eine Art Vetorecht besitzt.

Im letzten Bericht wird als Ergebnis festgehalten [2], dass MH17 von einer Buk-Rakete abgeschossen wurde. Das Buk-System sei von Russland in die Ostukraine gebracht und dort auf einem Volvo-Lastwagen in Begleitung anderer Fahrzeuge mit uniformierten Bewaffneten nach Pervomaiskyi gebracht worden, das zu der Zeit von "prorussischen Kämpfern" kontrolliert worden sei. Dort sei die Rakete abgeschossen worden, Zeugen hätten einen lauten Krach gehört und eine Rauchwolke gesehen. Dann sei das System des Nachts wieder nach Russland transportiert worden. Man habe 100 Personen identifiziert, die mit dem Abschuss oder dem Transport in Verbindung stünden. Dass die Beweislage alles andere als gerichtsfest ist, macht die Verlängerung der Untersuchung bis Anfang 2018 deutlich, aber auch, dass weiter nach Zeugen gesucht [3] wird. Abgehörte und als Beweis vorgestellte Telefongespräche wurden vom ukrainischen Geheimdienst geliefert.

Seltsame Logik der Verantwortungszuschreibung

Lutsenko erklärt [4] also, das JIT, d.h. alle fünf Länder, würden vom ICC verlangen, eine Untersuchung einzuleiten. MH17 müsse als militärisches Verbrechen und "wahrscheinlich als Kriegsverbrechen" behandelt werden. Die Ukraine würde darauf bestehen, dass diese Verbrechen eine Folge der Handlungen seien, die Janukowitsch gegenüber Russland unternommen haben, um während "Revolution der Würde" Ende 2013 und Anfang 2014 an der Macht zu bleiben. Die ukrainische Untersuchung könne aber nicht frühere Regierungsangehörige vor Gericht stellen, weil sie sich in Russland aufhielten: "Wer die Befehle (für das Begehen der Verbrechen) gab und die internationalen Gesetze, inklusive der Genfer Konvention über die Regeln der Kriegsführung, verletzte, befindet sich in Moskau", so der Generalstaatsanwalt. Man habe dem ICC viele Beweise übergeben, verfolge aber auch eine eigene Strafverfolgung.

Janukowitsch als gewählten Präsidenten während seiner Amtszeit für den Abschuss der MH17 und die Kämpfe in der Ostukraine verantwortlich zu machen, ist hoch gegriffen. Schließlich wurde bislang nirgendwo behauptet, er habe aus seinem Exil in Russland, wohin er nach dem Sturz durch Maidan-Extremisten geflohen war, nachdem gerade erst unter maßgeblicher Mitwirkung von Deutschland, Frankreich und Polen eine Übergangslösung mit dem Rücktritt und der Bildung einer neuen Regierung gefunden worden war, Befehle gegeben, MH17 abzuschießen oder russische Soldaten und Waffen in die aufständischen Gebiete zu schicken.

Nach dieser Logik könnte man etwa George W. Bush auch für die Kriegsverbrechen verantwortlich machen, die der IS und andere Parteien nach der Invasion in den Irak begangen haben und weiter begehen. Zudem ist die Argumentation riskant, denn bislang wurde noch nicht von westlicher Politik, geschweige von westlichen Medien kritisch untersucht, ob die Proteste der Aufständischen in der Ostukraine tatsächlich berechtigter Anlass waren, gegen diese nicht polizeilich einzuschreiten, wie dies die Janukowitsch-Regierung gegenüber den Maidan-Aktivisten getan hat, sondern eine Militäraktion mit schweren Waffen und Bombardierungen aus der Luft unter dem Namen der Antiterroroperation (ATO) Mitte April 2014 zu starten (Ukraine droht, schnell in einen bewaffneten Konflikt zu steuern [5]). Auch das hat die Lage extrem zugespitzt, wenn nicht überhaupt zu einem wirklichen Krieg gemacht, wobei die Abwehr der Luftangriffe womöglich zu dem versehentlichen Beschuss der MH17 geführt haben könnte, sollten Separatisten oder russische Soldaten die Buk abgeschossen haben.

Der ICC hat erste Ergebnisse einer vorläufigen Untersuchung über die Ostukraine vorgelegt

Tatsächlich hat der ICC im April 2014 eine vorläufige Untersuchung über die Ukraine eingeleitet, auch wenn weder die Ukraine noch Russland das Rom-Statut ratifiziert haben – ebenso wenig wie die USA - , Moskau hat vor wenigen Tagen aus Protest gegen die Einseitigkeit die Unterschrift zurückgezogen. Die Ukraine hatte im April 2014 erklärt, die Rechtsprechung des ICC über Verbrechen im Land zu akzeptieren, die vom 21. November 2013 bis 20. Februar 2014 begangen wurden. Im September 2015 wurde dies auf vorerst unbegrenzte Zeit verlängert.

Nach dem ICC habe ab dem Zeitpunkt, als russische Soldaten auf der Krim ohne Zustimmung der Ukraine eingesetzt wurden, genannt wird der 26. Februar 2014, ein "internationaler bewaffneter Konflikt" geherrscht. In der Ostukraine habe sich die Situation schnell gewaltsam verändert, als Kiew die Antiterroroperation gestartet habe. Verwiesen wird beim Abschuss von MH17 auf den Bericht des JIT, also dass die Maschine "angeblich" von Pervomaisk unter der Kontrolle von "bewaffneten Anti-Regierungsgruppen" abgeschossen worden sei.

Der Bericht versucht jedoch, sich im Hinblick auf den Konflikt in der Ostukraine weitgehend neutral zu halten, hält aber fest, dass vermutlich seit 14. Juli 2014 ein internationaler bewaffneter Konflikt geherrscht habe, da es Hinweise auf "direkte Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Streitkräften" gegeben. Man untersuche deswegen, ob Russland die bewaffneten Gruppen voll kontrolliert habe. Festgehalten werden mögliche Verbrechen oder Vergehen auf der Krim, in der Ostukraine seien mehr als 800 Fälle dokumentiert worden, die allerdings sowohl von Pro-Regierungskräften als auch von bewaffneten Separatisten begangen wurden. Was die angeblichen Verbrechen während der Maidan-Proteste vom 30. 11.2013 bis 20.02.2014 betrifft, konstatiert das Strafgericht, dass es sich zwar möglicherweise um einen Angriff auf eine zivile Bevölkerung gehandelt haben können, dieser sei aber weder systematisch noch breit angelegt gewesen. Es seien schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden, man sei bereit diese im Licht neuer Informationen noch einmal zu bewerten.

Lutsenko erklärte [6], der ICC habe am Dienstag eingereichte Beweise für russische Kriegsverbrechen in der Ostukraine angenommen. Es soll sich um Beweise dafür handeln, dass Moskau russische Truppen nach Ilovaisk gegen weit unterlegene ukrainische Truppen geschickt haben soll. Dabei sei eine Vereinbarung über einen Rückzugskorridor verletzt worden. Es gehe um Exekutionen, Folter, und Entführungen. Der russische Verteidigungsminister, mehrere Generäle und andere Angehörige der russischen Streitkräfte seien angeklagt, den Krieg gegen die Ukraine entfesselt und die Genfer Konventionen verletzt zu haben.

Lutsenko und die Lage in der Ukraine

Yuriy Lutsenko [7] ist seit April 2016 Generalstaatsanwalt. Er war Innenminister in den Regierungen von Julia Tymoschenko sowie im Kabinett von Yuriy Yekhanurov und schließlich von Janukowitsch. 2010 wurde er abgewählt und wegen Amtsmissbrauch und Unterschlagung von Staatsvermögen angeklagt und verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand 2012, dass die Ukraine im Prozess gegen Lutsenko die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt habe, Janukowitsch begnadigt ihn 2013. Lutsenko schloss sich der Maidan-Bewegung an und war Mitglied des Maidan-Rats, den er zusammen mit Julia Tymoschenko, Arsenij Jazenjuk, Vitali Klitschko und Oleh Tjahnybok gründete. Er trat schließlich dem Block Poroschenko bei und wurde im Mai 2016 mit dem Job des Generalstaatsanwalts belohnt.

Wegen der mangelnden Bekämpfung der Korruption hatten die Geldgeber EU und IWF auf einen unabhängigen Generalstaatsanwalt gedrungen. Dass Poroschenko seinem Vertrauten den Posten nach dem erzwungenen Rücktritt seines ebenfalls Vertrauten Viktor Shokin, der in Korruption verwickelt gewesen sein und die Strafverfolgung von Maidan-Verbrechen verzögert haben soll, übergab, zeugt von geringer Bereitschaft, hier wirklich durchzugreifen. Selbst Tymoschenko kritisierte die Ernennung, weil das Amt damit politisiert werde.

Zwar musste Jazenjuk zurücktreten, aber der war Konkurrent von Poroschenko, zum Regierungschef ernannte Poroschenko im April mit Wolodymyr Hrojsman ebenfalls einen Vertrauten (Rücktritt von Jazenjuk: Kiew will Neuwahlen vermeiden [8]), während kürzlich der von zum Berater und dann zum Gouverneur von Odessa berufene Micheil Saakaschwili das Handtuch schmiss (Saakaschwili setzt auf Trump-Rhetorik in der Ukraine [9]).

Am 29. November soll es wieder ein Treffen im Normandie-Format geben, um über das Minsker Abkommen zu sprechen, mit dem es nicht weitergeht. Die Ukraine fordert die Wiederherstellung der Frontlinie vom September 2014 und damit die Rückgabe der Stadt Debaltseve. Möglicherweise in Vorbereitung für das Treffen sagte [10] Armeegeneral Viktor Muzhenko, dass sich die ukrainischen Streitkräfte auf eine "große Aggression gegen die Ukraine" vorbereiten. Man sei bereit, es mit den russischen Truppen aufzunehmen. Man wisse nicht, wie sich die künftige US-Regierung unter Trump verhalten werde. Man habe bislang keine Zeichen, dass sich etwas an der Unterstützung verändert.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3502216

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.om.nl/onderwerpen/mh17-crash/
[2] https://www.om.nl/onderwerpen/mh17-crash/@96068/jit-flight-mh17-shot/
[3] https://www.politie.nl/themas/flight-mh17-2.html
[4] http://en.interfax.com.ua/news/general/385863.html
[5] http://Ukrainedroht,schnellineinenbewaffnetenKonfliktzusteuern
[6] http://www.unian.info/politics/1638732-the-hague-court-accepts-evidence-of-russias-war-crimes.html
[7] http://112.international/article/attorney-general-top-10-facts-from-the-life-of-yuriy-lutsenko-4827.html
[8] https://heise.de/-3224573
[9] https://heise.de/-3492339
[10] http://en.interfax.com.ua/news/general/386002.html