Um den Schlaf gebracht
Seite 2: Schlaf im Kapitalismus
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Die Forscher ignorieren die Tatsache, dass die Menschen früher tatsächlich mehr schliefen: Heutzutage schläft der nordamerikanische Durchschnittsbürger sechseinhalb Stunden; vor einer Generation waren es noch acht Stunden und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar zehn Stunden. Das betont Jonathan Crary, Kulturwissenschaftler an der Columbia University in New York, in seinem Buch "24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus" (Berlin: Wagenbach 2014).
Weil biologisch gesehen durchschnittlich 7 Stunden Schlaf ausreichen, liegt es jedoch nahe, dass die 3 Extra-Stunden Schlaf reiner "Luxus" waren, die den heutigen Lohnabhängigen nicht mehr zur Verfügung stehen. Sprich, die Menschen schliefen früher nicht mehr, weil sie mussten, sondern weil sie konnten. Die 7 Stunden Schlaf jedenfalls scheinen ein global anzutreffender Durchschnitt zu sein, der auch schon zu früheren Zeiten anzutreffen war. Im antiken Rom beispielsweise galt das Sprichwort: "Septem horas dormire satis iuvenique senique." (Sieben Stunden Schlaf sind genug für den Jüngling und den Greis.")
Neben evolutionären Faktoren drängt natürlich auch die kapitalistische Entwicklung des Menschen stetig darauf, möglichst wenig zu schlafen. Denn, so Crary:
Schlaf ist die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit. […] Schlaf aber bedeutet die Idee eines menschlichen Bedürfnisses und Zeitintervalls, das sich nicht von einer gewaltigen Profitmaschinerie vereinnahmen oder einspannen lässt, das eine sperrige Anomalie bleibt, ein Krisenherd in der globalen Gegenwart. Trotz aller wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet durchkreuzt und vereitelt er alle Strategien, ihn nutzbar zu machen und umzugestalten. Das Verblüffende, das Unbegreifliche ist, dass sich nichts Verwertbares aus ihm herausholen lässt.
Jonathan Crary
Die Nachtruhe wird immer häufiger attackiert: Ende der 1990er Jahre planten russische Astronomen, einzelne Großstädte mit riesigen Spiegeln in ständigem Licht zu fluten. Das Ganze floppte. Weit erfolgversprechender tüftelt das US-Militär derzeit an Pillen, die das natürliche Schlafbedürfnis für 7, wenn nicht gar 14 Tage aufheben sollen - und natürlich ist der schlaflose Soldat nur die Vorstufe des dauerwachen Arbeiters und Konsumenten.
Die Kehrseite der vermeintlichen Wachheit: Unglücke wie die Kernschmelze 1979 im AKW Three Mile Island bei Harrisburg oder der missglückte Start der Raumfähre Challenger 1986 lassen sich auf völlig übermüdete Arbeiter zurückführen, denen schlichtweg ausreichend Schlaf gefehlt hat.
Biopolitik der Aufklärung
Vor allem die Biopolitik der Aufklärung - also das Weihelied der bürgerlichen und kapitalistischen Industrialisierung - hat dazu beigetragen, den Schlaf in Misskredit zu bringen und gleichzeitig die Lohnarbeit zu preisen. Immanuel Kant bemerkte dazu:
Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir uns unseres Lebens bewusst. In der Muße fühlen wir nicht allein, dass unser Leben so vorbeistreicht, sondern wir fühlen auch sogar eine Leblosigkeit.
Immanuel Kant
Das Licht der Aufklärung stürzte die Lohnabhängigen in den Nonstop-Betrieb der elektrifizierten Fabriken. Seitdem ist die Beschleunigung nicht aufzuhalten. Um 1845 waren die ersten Geldüberweisungen möglich, fünf Jahre später wurde ein Telegrafenkabel durch den Ärmelkanal verlegt, heute können wir 24/7 mailen, shoppen und eben schuften.
Manager- und Lifestyle-Magazine huldigen dem "Powernapping", der Schlaf wird zunehmend als ein notwendiges Übel angesehen, dass man möglichst schnell hinter sich bringen sollte. (Das gleiche Muster findet sich freilich auch beim Essen: Der lästige Hunger soll schnell, sprich mit billigem Fast Food, vertrieben werden, damit man sich wieder den vermeintlich wichtigen Dingen des Lebens widmen kann - also der Arbeit.)
Aus Sicht des Kapitalismus ist Schlafen nur etwas für Verlierer. Wenn wir aber nicht schlafen, dann tun wir meistens irgendetwas. Und dieses Tun füttert den unermüdlichen Motor des Kapitalismus. Wir sind ständig on, stehen buchstäblich unter Strom und arbeiten bis zum Umfallen. Insofern hat die Evolution des menschlichen Schlafs buchstäblich volle Arbeit geleistet. Vielleicht müssen wir uns wieder ein gutes altes Sprichwort ins Gedächtnis rufen: "Wer schläft, der sündigt nicht."
Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: Und, was machst du so?, Zürich: Rotpunktverlag, 2014.