Umfragen: Immer mehr Ukrainer wollen Kriegsende durch Diplomatie

Bei einem russischen Angriff auf einen Baumarkt in Charkiw am 25. Mai wurden 14 Menschen getötet und mehr als 40 verletzt

Bei einem russischen Angriff auf einen Baumarkt in Charkiw am 25. Mai wurden 14 Menschen getötet und mehr als 40 verletzt. Bild: armyinform.com.ua

Es gibt einen Stimmungswandel in der Ukraine. Die Menschen rücken ab von Selenskyjs Kriegszielen. Warum das für den Westen eine Chance sein könnte.

Neuere Umfragen stellen mehr und mehr infrage, dass die Ukrainer vereint hinter Selenskyjs Kurs stehen, den Krieg weiterzuführen. Danach will ein wachsender Anteil der ukrainischen Bevölkerung Verhandlungen – heute sind es, je nach Befragung, rund die Hälfte bis Zweidrittel der Ukrainer.

Zunehmende Skepsis

Gleichzeitig ist ein Rückgang bei der Zustimmung zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu beobachten. Auch das deutet auf einen Stimmungswandel in der Ukraine hin.

Auf dem Schweizer Friedensgipfel bekräftige Selenskyj die maximalistischen Ziele der Ukraine, während er immer wieder klarmacht, dass man weiterkämpfen werde, egal, wie hoch die Kosten dafür sind. Das Ziel sei, die Grenzen, wie sie zur Zeit der Unabhängigkeit von 1991 bestanden haben, wiederherzustellen.

Doch in der Ukraine ist seit fast zwei Jahren Krieg die Skepsis gewachsen, ob das der einzige und richtige Weg ist. Im September 2022, nach den Erfolgen auf dem Schlachtfeld für die ukrainische Armee, sagten 70 Prozent der Bevölkerung, dass man weiterkämpfen solle. Im Sommer 2023 waren es nur noch 60 Prozent.

Im Dezember letztes Jahr, nach den Misserfolgen der ukrainischen Offensive, fiel der Wert in einer Umfrage auf 48 Prozent gegenüber 44 Prozent, die dafür stimmten, dass man mit Russland verhandeln solle. Damit erhielt die Unterstützung fürs Weiterkämpfen nur noch eine relative, aber keine absolute Mehrheit mehr.

Donbas kein Tabu mehr

Das Kiewer Internationale Institut für Soziologie hat in einer Erhebung von Februar dieses Jahres noch eine höhere Zustimmung zu Diplomatie festgestellt. Nun ist von einer großen Offenheit gegenüber einem Verhandlungsende des Krieges die Rede.

Im Mai 2022 stimmten 59 Prozent und im Februar 2024 72 Prozent der Befragten zu, dass die Ukraine einen diplomatischen Weg zur Beendigung des Krieges suchen sollte (es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich die Formulierung der Frage auf einen solchen Prozess und nicht auf Zugeständnisse bezog). Gleichzeitig ist die Zahl derer, die glauben, dass Russland nur mit militärischen Mitteln besiegt werden kann, von 35 Prozent im Mai 2022 auf 23 Prozent im Februar 2024 gesunken.

Auch sank die Anzahl derjenigen, die in einem Friedenskompromiss die Abgabe der Donbas-Region an Russland für komplett inakzeptabel halten, von Mai 2023 auf Februar 2024 von 77,5 auf 57,2 Prozent. Das ist eine deutliche Reduzierung um 20,3 Prozent in weniger als einem Jahr.

Im letzten Jahr, das bestätigen alle Erhebungen, ist der Anteil von Ukrainern, die offen sind für Verhandlungen, also insgesamt stark angestiegen.

Selenskyjs Popularität sinkt

Das hat auch mit einem wachsenden Pessimismus in Bezug auf einen militärischen Sieg gegenüber den russischen Streitkräften zu tun. Dazu kommt eine Kriegsmüdigkeit bei den Ukrainer:innen nach über zwei Jahren Zermürbungskrieg, vielfältigen Zerstörungen, ökonomischen Einbrüchen und den vielen Toten, ohne dass, trotz der starken Unterstützung durch westliche Staaten, eine Trendwende abzusehen wäre.

Die Anzeichen für einen Stimmungswandel in der Ukraine werden unterstützt von der Tatsache, dass die Zustimmungswerte für Selenskyj signifikant zurückgegangen sind, innerhalb eines Jahres von 91 auf 63 Prozent, während die Ablehnung seiner Politik sich verdoppelte von 16 auf 33 Prozent.

Zudem gibt es noch einen anderen Indikator, der anzeigt, dass der Kriegskurs ohne Kompromiss zunehmend unpopulär wird in der Ukraine. Eine Mehrheit der ukrainischen Männer gab in einer Umfrage im Februar an, dass sie nicht bereit sind, zu kämpfen. Ein ukrainischer Soldat sagte der BBC Ende letzten Jahres:

Es ist ein absoluter Albtraum. Vor einem Jahr hätte ich das noch nicht gesagt, aber jetzt, sorry, habe ich die Nase voll. Alle, die sich freiwillig für den Krieg melden wollen, sind schon vor langer Zeit gekommen – jetzt ist es nicht mehr möglich, die Leute mit Geld zu locken. Jetzt kommen die, die es nicht geschafft haben, der Wehrpflicht zu entkommen. Ihr werdet darüber lachen, aber einige unserer Marinesoldaten können nicht einmal schwimmen.

Der Unwille zu kämpfen

Eine Umfrage der ukrainischen Forschungsagentur InfoSapiens ergab jüngst, dass nur 35 Prozent der Männer, die noch nicht kämpfen, bereit sind, zu dienen. Das ukrainische Militär muss deswegen zu immer härteren Maßnahmen greifen, um sicherzustellen, dass es noch fähige Soldaten an der Front gibt.

18- bis 60-Jährige dürfen das Land nun nicht mehr verlassen und müssen, wenn sie im Ausland sind, ihre Personaldokumente in der Ukraine erneuern lassen.

Harsch vorgehende Militär-Anwerber haben gleichzeitig damit begonnen, Männer im wehrpflichtigen Alter von Veranstaltungen wie Hochzeiten und auf der Straße aufzufangen. Das führt dazu, dass Männer sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, um nicht einberufen zu werden.

Vor dem Hintergrund von Rückschlägen im Zuge von russischen Vormärschen und des Abnutzungskriegs mit hohen Verlusten und vielen Verletzten sind 11.000 ukrainische Männer bereits vor einer Teilnahme am Krieg geflohen, indem sie illegal nach Rumänien, einem der sieben an die Ukraine angrenzenden Länder, eingereist sind.

Flüchtlinge und Donbas-Ukrainer

Die Opposition gegen Weiterkämpfen ohne Verhandeln könnte zudem noch deutlicher ausgeprägt sein, als die Umfrageergebnisse suggerieren. Denn in Kriegszeiten gibt es – auch aufgrund von politischem und öffentlichem Druck – den Hang, sich um die Fahne zu versammeln sowie Kritik an der politischen und militärischen Führung abzudämpfen (die sogenannte "Schweigespirale").

Dazu kommen methodologische Einschränkungen, die die Ergebnisse verändern.

So sind nicht alle Ukrainer in den Umfragen befragt worden. Die rund 6,5 Millionen Geflüchteten in anderen Ländern sowie diejenigen, die in den von Russland besetzten Ostgebieten leben, sind von den Befragungen ausgeschlossen worden.

Auch wenn man nicht sagen kann, wie die Flüchtlinge gegenüber den maximalistischen Kriegszielen eingestellt sind, haben sie doch in gewisser Weise mit den Füßen abgestimmt und sich gegen eine aktive Teilnahme am Krieg entschieden.

Die neue Realität

Und bei den Ukrainer:innen im Donbas ist traditionell eine stärker pro-russische Haltung anzutreffen. Zudem sind Ukrainer, die an der Front leben, in Umfragen unterrepräsentiert, da sie schlechter zu erreichen sind. Man weiß nun aber, dass in den aktiven Kriegszonen die Zustimmung zu einem Waffenstillstand und Verhandlungen höher ist als im wenig umkämpften Westen der Ukraine.

Die Ukrainer haben sich über zwei Jahre lang mutig gegen die russische Invasion gestellt. Aber die düsteren Aussichten auf dem Schlachtfeld und die Zerstörungen nagen an ihrer Zuversicht und dem Wunsch nach einem Verhandlungsfrieden, was nicht überraschend ist.

In den westlichen Unterstützerstaaten sollte diese neue Realität, was die Einstellung der Ukrainer angeht (sie ist ja dynamisch und unterliegt Veränderungen), zur Kenntnis genommen werden.

Ist der Westen an allen Ukrainern interessiert?

So zu tun, als ob Selenskyj mit seinen Kriegszielen heute und in Zukunft alle Ukrainer repräsentiere und sie geschlossen hinter ihm stehen, entspricht nicht dem, was Umfragen hervorbringen. Es ist wenig mehr als Wunschdenken.

Sicherlich ist es nicht so, dass die ukrainische Bevölkerung die russischen Bedingungen für einen Kompromissfrieden einfach so akzeptiert. Denn es ist am Ende ein ungerechter und krimineller Kriegsakt, der ihnen einen Kompromiss und Verluste abverlangt.

Aber Ukrainer sind zunehmend offen für Verhandlungen und zum Teil auch für eine unfaire Lösung, insofern damit Frieden erreicht und die Zerstörungen gestoppt werden kann. Das sollten Washington, Brüssel, Paris und Berlin nutzen, um mit der Ukraine eine Friedensperspektive zu finden, die der Bevölkerung die Chance gibt, das Land wiederaufzubauen.