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Unabhängigkeitsvotum: Barzani hat verloren

Foto (2009): US-Army, gemeinfrei

Jesiden freuen sich über den Abzug der Peschmerga. Die irakische Zentralregierung hat nun die Kontrolle über die "umstrittenen Gebiete"

Der kurdische Clanführer Masud Barzani hat sein Spiel mit dem Unabhängigkeitsvotum verloren. Die irakische Armee hat mittlerweile sämtliche "umstrittenen Gebiete" unter Kontrolle [1], die Peschmerga-Einheiten haben sich daraus zurückgezogen. Das Territorium der Autonomen Region Kurdistan ist nun kleiner als 2014.

Ahnungslose oder untertänige Berater

Beobachter fragen sich, welche Berater Masud Barzani hatte, die im Vorfeld des Referendums am 25. September angeblich im Auftrag des Präsidenten Irakisch- Kurdistans die Lage sondiert hatten, um herauszufinden, ob das Wagnis eines Unabhängigkeitsvotums eingegangen werden kann. Drohungen, dass der Preis dafür "teuer" sein könnte, gab es genug, von Seiten der Türkei und Vertretern Irans, auch die USA und die UN bemühten sich um einen Aufschub.

Ganz offensichtlich waren die Berater ahnungslos. Auf internationaler Seite hat sich erneut der französische Intellektuelle Bernard-Henry Lévy in der Lagebeurteilung verschätzt. Er hatte sich für die Unabhängigkeit Kurdistans stark gemacht und sich demonstrativ an die Seite Barzanis gestellt [2].

Intern ist die Fehleinschätzung über die Folgen des Volksentscheids möglicherweise damit zu erklären, dass sich Barzanis Berater nicht trauten, ihm die Wahrheit zu sagen. Barzani hatte das Votum abgehalten, um sich Legitimation zu verschaffen. Seine Amtszeit als Präsident ist längst abgelaufen, Neuwahlen verschob er mit dem Hinweis auf das Referendum.

Wahn des Machtanspruchs

Barzanis Herrschaft ist umstritten. Hört man Flüchtlingen aus dem Norden Iraks zu, so erfährt man einiges über das Wirken seiner Geheimdienste und Foltermethoden. Die Korruption, abzulesen an den Schulden, die seine Regierung bei ausländischen Ölgesellschaften angehäuft hat - trotz der ergiebigen Ölfelder, die er nun verloren hat - ist atemberaubend. Seine Vetternwirtschaft ist unübersehbar. Den Posten als Premierminister hält sein Neffe.

Anzunehmen ist, dass Barzani darauf setzte, mit dem Unabhängigkeitsvotum eine Einigkeit herzustellen, die Kritik an seiner Herrschaft wie auch interne Konflikte zwischen den Kurden vor der Fahne Kurdistans in den Hintergrund drängt. Jetzt wird allerdings vor allem seine Maßlosigkeit sichtbar.

Jesiden feiern einen "monumentalen Tag"

In Sindschar freuten sich die Jesiden (Eziden) am Dienstag über einen "monumentalen Tag", wie der Kenner der Region und der Jesiden, Matthew Barber [3], in einer längeren Serie von Kurznachrichten [4] schildert. Es ist die Freude über den Abzug der Peschmerga-Einheiten Barzanis aus den Dörfern und dem Gebiet der Jesiden. Barzani reklamierte die Jeziden-Gebiete als zur Autonomen Region Kurdistans gehörend; auf die Autonomie einer anderen Gemeinschaft legte er keinen Wert.

Zum Hintergrund des Konflikts zwischen den Jesiden und den Barzani unterstellten Peschmerga muss man wissen, dass diese die Flucht ergriffen, als ihre Dörfer 2014 in einer Großoffensive des IS angegriffen wurden. Zigtausende Männer wurden getötet, zigtausende Frauen und Mädchen der Jesiden verschleppt, um als "Sex-Sklavinnen" für die IS-Dschihadisten verteilt und verhökert zu werden, erschütternde Schicksale.

Hilfe kam damals von YPG-Einheiten, von syrischen Kurden, die in Verbindung mit der PKK stehen. Sie halfen später dabei mit, jesidische Selbstverteidigungseinheiten (YBS) aufzubauen, die - nach dieser Vorgeschichte kein Wunder - nicht gut auf die Peschmerga-Kräfte Barzanis zu sprechen waren, was laut Barbers Ausführungen auf einen Großteil der Jesiden zutrifft.

Über drei Jahre lang habe die Gemeinschaft der Jesiden auf den Moment des Abzugs der Peschmerga hingefiebert und dafür gekämpft, fasst [5] er die Lage zusammen. Unglücklich seien nur die Minderheit, die von der "Patronage" der KDP (Demokratische Partei Kurdistans, Partei Barzanis) profitiert habe.

Die Zukunft der PKK in Sindschar

Brisant ist, wie die Zukunft der mit der PKK verbundenen Kurden in Sindschar aussieht. Hier kommt es sehr auf das Verhalten der irakischen Zentralregierung an. Bislang läuft über die Grenze zu Syrien die Hauptversorgung der Jesiden [6], damit kommt den mit der PKK verbundenen Kurden noch (?) eine überlebenswichtige Rolle zu.

Die Frage sei, ob Bagdad die PKK einstweilen, bis man die Grenze unter Kontrolle habe, in Sindschar duldet oder ob man einen Abzug verhandle, meint Barber. Es gebe starke Gefühle der Loyalität unter den Jesiden gegenüber der PKK, da die mit ihr verbundenen kurdischen Milizen aus Syrien 2014 die Retter waren.

Böses Blut: "Sieg der iranischen Milizen", "Verrat der PUK"

Nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur ANF [7] kontrollieren die schiitischen Hash-al-Shabi-Milizen das Zentrum der Stadt Sindschar. Die PMU-Milizen bieten in Berichten oder Twitter-Äußerungen [8] den größten Konfliktsstoff. Sie haben sehr enge Verbindungen zu Iran und sind Teil der irakischen Armee.

Verlässliche Informationen - außerhalb offizieller Bekundungen - darüber, wie ihre Beteiligung konkret aussieht, wo sie sich genau befinden und wie sie dort tatsächlich vorgehen, sind schwer zu bekommen. Es gibt viele Widersprüche (vor allem, was Kirkuk anbelangt, siehe etwa hier [9]und im Gegensatz dazu: hier [10]und hier [11]). Die Rolle Irans ist ein Politikum [12].

Zu erinnern sei daran, dass aus Iran Drohungen kamen, das Unabhängigkeitsreferendum könne zu kriegerischen Ausschreitungen führen. Die PMU würden nicht tatenlos zusehen. In Kirkuk leben schiitische Turkmenen, denen eine Kontrolle der Barzani-Kurden, bestätigt durch das Referendum, das diese Gebiete dem künftigen unabhängigen Staat zuschlug, als Kampfansage galt.

Entsprechend machte nach der Wiedererlangung der Kontrolle der irakischen Armee über Kirkuk die Lesart die Runde, dass Iran, via die Hashd-Milizen, gewonnen habe. In US-Publikationen wird dies herausgestellt, mit der üblichen Anmerkung, dass dies gegen US-Interessen gehe. Iran habe die Konfrontation genutzt, um seinen Einfluss auf die Politik im Irak zu vertiefen, schiitische Milizen wurden nach Kirkuk geschickt, so das US-Magazin Foreign Policy [13].

Es braucht nicht viel Phantasie, um sich angesichts des angespannten Verhältnisses zwischen den USA und Iran, vorzustellen, wie viel "böses Blut" durch solche Akzente bei der Lesart des Konflikts zwischen der KDP-Führung unter Barzani und der irakischen Zentralregierung bewegt werden kann (siehe dazu: If Trump Wants to Confront Iran, He Should Start in Kirkuk [14]).

Barzanis Verdacht

Barzani selbst hat seine politischen Rivalen von der PUK (Patriotische Union Kurdistans) im Verdacht, dass sie mit dem irakischen Ministerpräsident al-Abadi gemeinsame Sache gegen ihn gemacht habe. Das geht deutlich für jeden verständlich aus den Anspielungen in seiner Rede hervor (“unilateral decisions of some persons within a certain internal political party of Kurdistan”).

Der Verdacht des Verrats gegenüber den Rivalen in Sulaimaniyya wiegelt ebenfalls böses Blut auf. Mitte der 1990er Jahre gab es einen kriegerischen Konflikt der Brüder.

Ob sich die Vorwürfe bestätigen, wird man sehen. Offenbar ist aber, dass die Konsequenz des mit Hast betriebenen Unabhängigkeitsvotum nicht gerade zu einer Einheit geführt haben. Für die Zentralregierung in Bagdad, die die Einheit des Landes im Auge hat, ist die Entwicklung allerdings - bislang - ein politischer Erfolg, so Premier Abadi [15].


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https://www.heise.de/-3864613

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.rudaw.net/english/kurdistan/171020178
[2] http://laregledujeu.org/2017/09/29/32372/avec-massoud-barzani-le-jour-d-apres/
[3] https://chicago.academia.edu/barber
[4] https://twitter.com/Matthew__Barber/status/920304382192873472
[5] https://twitter.com/Matthew__Barber/status/920304521817022464
[6] https://twitter.com/Matthew__Barber/status/920317861075316737
[7] https://anfenglish.com/kurdistan/kdp-withdraws-its-forces-from-sinjar-22747
[8] https://twitter.com/HoshyarZebari/status/920410535010725896
[9] http://www.rudaw.net/english/kurdistan/1710201710
[10] https://anfenglish.com/kurdistan/hpg-statement-on-kirkuk-incidents-22764
[11] https://twitter.com/HoshyarZebari/status/920410535010725896
[12] http://www.rudaw.net/english/kurdistan/18102017
[13] http://foreignpolicy.com/2017/10/16/iraqi-kurdistan-clash-kirkuk-open-door-to-more-iranian-influence-slows-fight-against-islamic-state-isis-terrorism-middle-east/
[14] http://foreignpolicy.com/2017/10/16/if-trump-wants-to-confront-iran-he-should-start-in-kirkuk/
[15] http://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/17102017