Unruhen in Frankreich: Die Ankündigung eines tödlichen Polizei-Schusses

Nach den Gewaltausschreitungen: Ausgebrannte Autos in Brest. Foto: Roquex / CC0 1.0 Universal

Polizist bleibt in Untersuchungshaft. Staatsanwaltschaft bestätigt Fahrweise des Jugendlichen, der Passanten gefährdete, und einen Dialog aus dem Handyvideo. Es gibt allerdings einen Unterschied zur bislang verbreiteten Version.

Die Bilanz der Unruhen in Frankreich: Fast 6.000 Fahrzeuge wurden angezündet oder anderweitig beschädigt. Angegriffen wurden 258 Polizeistationen sowie Kasernen der Gendarmerie, etwa 100 Rathäuser und 20 Justizgebäude.

Ein Novum

Laut Justizministerium wurden im Laufe einer Woche 3.600 Personen in Polizeigewahrsam genommen. Darunter befanden sich 1.149 Minderjährige. 60 Prozent waren ohne Vorstrafen. 1.122 Personen der Festgenommenen müssen sich vor Gericht: Bei 586 wurde das Gericht sofort eingeschaltet.

Aus dem Verlauf der Tage der Gewaltausschreitungen, deren Dynamik die Zeitung Le Monde heute mithilfe von Karten und Zahlen veranschaulicht, geht ein Novum hervor.

Noch nie waren die Unruhen, die in einem Vorort bei Paris ihren Ursprung hatten, derart ausgedehnt und über das ganze Land verteilt, "von den größten städtischen Zentren bis hin zu den kleinsten Siedlungen". Der Ausbruch der Gewalt ging sehr schnell über die bekannten "Hot-Spots" hinaus:

Laut zuständigem Minister waren in den acht Tagen der Unruhen in ganz Frankreich 553 Gemeinden betroffen. Er zählt 170, die "nicht als problematisch eingestuft" werden. Die gegenwärtige, schwer übersetzbare, administrative Kategorie heißt nicht mehr sensible Viertel, sondern Viertel "politique de la ville"; frei übersetzt könnte man sagen, dass es Viertel sind, die der Kommune politische Probleme bereiten.

Stand der Ermittlungen laut Staatsanwaltschaft

Interessant für deutsche Leser ist auch die Wiedergabe zentraler Stellen aus der Anklageschrift gegen den Polizisten, der den 17-Jährigen mit einem Schuss aus seiner Dienstwaffe tötete, was die Welle der Gewalt auslöste.

Auch in Deutschland gab es dazu weitverbreitete (nicht zuletzt durch einen ehemaligen Bild-Chefredakteur, der nun einen eigenen Videokanal hat) Versionen, die der Darstellung einer Tonaufnahme des tödlichen Geschehens widersprechen, so wie sie an dieser Stelle Bernard Schmid berichtet hat (siehe: Neuer Trouble in Pariser Vorstadt dehnt sich rasant aus).

Die beiden französischen Medien Le Monde und Le Parisien bekamen nach eigenen Angaben Einblick in das Papier der Generalstaatsanwaltschaft von Versailles, das den Stand der laufenden Ermittlungen zum tödlichen Schuss des Polizisten aus seiner Dienstwaffe wiedergibt.

Auf dieser Grundlage wurde entschieden, dass der Polizist weiterhin in Untersuchungshaft bleibt.

In der Diskussion über die Umstände des Todes von Nahel M., so wie sie in sozialen Netzwerken widergespiegelt wird, zeigen sich drei neuralgische Stellen: erstens die Vorgeschichte zur fatalen Situation. Sie erklärt die aufgeladene Situation. Zweitens der Dialog zwischen den Polizisten und dem Fahrer des gemieteten Autos. Drittens die Art der Gefährdung, der die beiden Polizisten während der Kontrolle des Fahrers angeblich ausgesetzt waren – und die der Polizist als Grund für den Schuss anführte.

Laut Staatsanwaltschaft hat der 17-Jährige, der ohne Führerschein einen Mercedes Typ AMG für (in 3,9 Sekunden von 0 auf 100 km/h) fuhr, Polizisten auf sich aufmerksam gemacht, weil er mit "aufheulendem Motor" auf einer Busspur fuhr.

Als die beiden Polizisten, die auf Motorrädern unterwegs waren, dem Fahrer signalisierten, dass er anhalten soll, floh dieser. Laut einem der Polizisten mit einem Tempo zwischen "von bis zu 80 oder 100 km/h". Dabei brachte er mit riskanten Manövern wiederholt andere Verkehrsteilnehmer in große Gefahr.

Le Monde zitiert aus der Anklageschrift:

Der Fahrer beschleunigte jedoch abrupt und flüchtete. Verfolgt von den beiden Motorradfahrern war er mit hoher Geschwindigkeit gefahren, mit plötzlichen Beschleunigungen, überquerte feste rote Ampeln und überquerte Kreuzungen "mit voller Geschwindigkeit" und ohne Rücksicht auf Fußgänger (...)

Nach Prüfung der Videoüberwachung stellte die Staatsanwaltschaft fest, dass der Mercedes auf seiner Fahrt "fast einen Radfahrer getroffen hätte, während ein Fußgänger auf einem Schutzweg umkehren musste, um nicht getroffen zu werden". Außerdem soll der Mercedes mehrmals in die falsche Richtung gefahren sein.

Le Monde

Der Mercedes konnte schließlich nicht mehr weiter, da er mit anderen Fahrzeugen in der Nähe des Place Nelson-Mandela in einen Stau geriet. Dort kam es zur tödlichen Szene, die von einem privaten Handy gefilmt wurde, dessen Clip eine wichtige Rolle für die weitere Eskalation spielte, weil der dort dargestellte Ablauf der Version widerspricht, die von einer Notwehrsituation des Polizisten ausgeht.

Dass eine solche Gefährdungssituation auch in den Augen der Staatsanwaltschaft zumindest nicht eindeutig gegeben ist, zeigt das Protokoll an entscheidenden Punkten auf: Die Positionierung des Polizisten, der den tödlichen Schuss abgab, war nicht so, dass er von dem Auto hätte gefährdet werden können, wenn der Fahrer wieder losgefahren wäre.

Ob dieser dies getan hat oder deutliche Anstalten dazu gemacht hat, ist nicht geklärt. Die Anwälte der Familie von Nahel halten dies für eine falsche Wiedergabe der Geschehnisse und sprechen entschieden gegen diese Version.

Als wichtig wird herausgestellt, dass auch der zweite Polizist nicht in Gefahr für sein Leben war.

Um seinen Schuss zu rechtfertigen, gab der Polizist, der den Schuss abgegeben hatte, an, er sei davon ausgegangen, dass der Körper seines Partners "in das Innere des Fahrzeugs hineingezogen" worden sei. Sein Teamkollege widersprach dem, da er bei der Vernehmung angab, dass nur sein Arm eingeklemmt war.

Le Monde

[Einfügung: Die Libération präzisiert diese Schlüsselsituation anhand der Angaben der Staatsanwaltschaft so:

"Um seinen Schuss zu rechtfertigen, sprach der Polizist (der Schütze, der in Untersuchungshaft ist, Anm. d.A.) von Gefahr: Diese Angst galt weniger ihm, der zugab, dass er 'nur ein bisschen geschubst' worden war, als vielmehr seinem Kollegen. Gegenüber den Ermittlern rechtfertigte F. seinen Schuss mit der Befürchtung, dass der Jugendliche den anderen Polizisten bei einer schnellen Fluchtbewegung mit dem Auto 'mitnehmen' könnte, da er glaubte, dass dessen Körper irgendwie 'in der Fahrgastzelle' des Mercedes steckte, so die Staatsanwaltschaft. Diese Aussagen wurden von dem betroffenen Polizisten allerdings widerlegt. Dieser erklärte bei seinen Vernehmungen, dass nur sein Arm mit dem Auto in Verbindung stand. Außerdem versicherte er, dass Nahel nach zehn bis 15 Sekunden die Zündung des Fahrzeugs ausgeschaltet habe. Der Fahrer habe jedoch anschließend 'seine Hand wieder auf das Lenkrad gelegt und dann den Schalthebel seines Autos betätigt', so die Aussagen des Polizisten (dem Kollegen des Schützen, Einf. d. A."]

Der Dialog

Der Dialog, in dem ein tödlicher Schuss angekündigt wurde, fand nach Ermittlungen der Polizei so statt, wie er infolge der Handyaufnahmen in die Berichterstattung aufgenommen wurde - mit dem Unterschied zur bisherigen Darstellung, wonach die Aussage "Du bekommst eine Kugel in den Kopf" aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von dem Polizisten stammt, der geschossen hat, sondern von seinem Kollegen.

Der Dialog-Ausschnitt wird so wiedergegeben:

Drei unterschiedliche Stimmen:

Stimme 1: "... ein Schuss in den Kopf".

Stimme 2: "Dreh den Motor ab! Dreh den Motor ab!"

Stimme 3: "Verzieh dich!"

Stimme 1: "Du bekommst eine Kugel in den Kopf" (Äußerungen, die laut Protokoll dem Polizisten zugeschrieben werden können, der im selben Moment mit seinem rechten Arm wedelt - und nicht derjenige ist, der geschossen hat, Einf. d. A.).

Stimme 2: "Dreh den Motor ab!"

Ausschnitt aus den Ermittlungen, Le Monde

Wie es in den Berichten zum Stand der Ermittlungen heißt, gibt es noch einiges zu klären, was die Art der Gefährdung betrifft, die der Polizist als Erklärung für seinen Schuss zur Geltung brachte. Dazu würden vonseiten der Polizei noch einige widersprüchliche Aussagen vorliegen.