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"Uns’re Lait werden dann Schossehstein klöppern"

Judenbilder in den Werken der norddeutschen Mundartklassiker Fritz Reuter, Klaus Groth und John Brinckman - zugleich ein Nachtrag zur christlich-jüdischen "Woche der Brüderlichkeit"

Das Feld der sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts etablierenden neuniederdeutschen Literatur könnte für die literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung sehr ergiebig sein. Man denke nur an die vielen Querverbindungen zur Heimatbewegung, deren Ideologiekomplexe schon im Kaiserreich nichts Gutes erahnen lassen und die sich im Vorfeld der Weimarer Republik dann unter dem unseligen Leitbegriff "Volkstum" neu zu formieren beginnt (eine Berücksichtigung der Minores, der kleinen Mundartdichter des nahen Raumes, würde vielleicht sogar Einblicke in "Quellensegmente von unten" eröffnen). Abgesehen davon, dass viele niederdeutsche Philologen der Vergangenheit weitaus nicht so kritische Forschungen betrieben haben wie etwa in neuerer Zeit ein Claus Schuppenhauer, gibt es dabei natürlich vor allem ein Sprachproblem: Zumindest die "klassischen Texte" sind heute zum Großteil bequem im Netz greifbar. Doch wer kann sie noch lesen?

Negative Judenstereotype findet man in Werken bedeutsamer Dichter des 19. Jahrhunderts, so auch bei Gustav Freytag, Theodor Fontane oder den Brüdern Heinrich und Thomas Mann. Doch einzelne Befunde, so zeigt Thomas Gräfe in einer Sammelrezension [1] auf, geben noch keine hinreichende Grundlage her für Einordnung oder Gesamtbewertung eines Autors: Gustav Freitag verteidigte z.B. die Emanzipation der Juden und war Mitglied im 1890 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Heinrich Mann vertrat wirklich ein völkisch-antisemitisches Weltbild, von dem er sich dann allerdings nach seiner Wende zur linken Gesellschaftskritik verabschiedete …

Man darf sich also vom selektiven Blick auf abstoßende Texte nicht zu voreiligen Pauschalurteilen über einen Autor verleiten lassen. Zuverlässige Ergebnisse lassen sich jeweils nur über gründliche Einzelstudien erzielen, in denen Persönlichkeit bzw. Biographie, Werkgeschichte, Veröffentlichtes wie Unveröffentlichtes etc. berücksichtigt werden.

Im Nachfolgenden will ich lediglich einige Bausteine zum Forschungsthema beisteuern und eben den Blick auf die neuniederdeutsche Mundartliteratur lenken. Es geht um die kritische Ergänzung einer Veröffentlichung über Fritz Reuter sowie Hinweise auf zwei Gedichte von Klaus Groth, und zum Schluss folgt die Empfehlung einer vergnüglichen Novelle von John Brinckman.

Fritz Reuters "heitere Mundartschwänke" von 1853

Der Mecklenburger Fritz Reuter (1810-1874) hat 1853/1858 in zwei Folgen seine "Läuschen un Rimels" vorgelegt und damit viele ihm nachfolgende Autoren auf dem Feld der populären Mundartschwänke inspiriert. Die Versuchung liegt nahe, diese plattdeutschen Gedichte "heiteren Inhalts" zugunsten von Reuters Prosa zu vernachlässigen, denn besonders erfreulich sind die im Zusammenhang mit unserem Thema ermittelten Befunde hier nicht. Sichten wir zunächst chronologisch die erste Folge [2] der "Läuschen un Rimels" von 1853. In De Pirdhandel verkauft ein Pastor sein Pferd bei Tage und kauft es im Dunkeln von einem jüdischen Händler wieder zurück. Ganz koscher haben wohl beide Seiten ihren Handel nicht betrieben. In De Frigeri versprechen sich zwei vermögende Juden eine Heirat ihrer Kinder, doch beim ersten Stelldichein stellt es sich heraus, dass beide Kinder Judenjungen - also männlich - sind. In As Du mi, so ick Di" bekommen zwei Fuhrleute die Gelegenheit, jeweils den jüdischen Auftraggeber bzw. Fahrgast des anderen zu verprügeln: "Sall slahn hir warden, denn slag’ jeder sinen, / Sleihst Du mi minen Juden, slag’ ick Dinen."

Fritz Reuter (Lithographie von Josef Kriehuber)

In Dat Johrmark wird ein unerfahrener Bauernsohn von einem schlauen Juden dazu überredet, seine Kuh für 50 Brillen und Schnupftabak zu verkaufen. In De Stadtreis’ verführt ein Jude den weintrinkenden, höchstwahrscheinlich also benebelten Bauern erfolgreich zu einer unfairen Wette: "Smittst Du den Kopp, heww ick gewunnen, / Smittst Du de Schrift, hest Du verluren." [Schmeißt du den Kopf, hab ich gewonnen; schmeißt du die Schrift, hast du verloren.]

Ein geiziger, durchaus reicher Jude in Dat heit ick anführen motiviert sich selbst mit dem Versprechen eines Kümmelschnapses dazu, ein schon schimmeliges Erbsengericht zu essen. Doch nach erfolgtem Verzehr des vergammelten Essens gießt er den Schnaps wieder in die Flasche zurück und ist stolz darauf, sich selbst so schlau angeschmiert zu haben. Wer Platt versteht, wird bei diesem Stück - trotz der hässlichen Passagen - zumindest kräftig schmunzeln müssen.

Im Schwank Mudder hett ümmer recht" wird dem lokalen Adeligen 1848 von einer klugen Mutter aus dem Volk zumindest in einem Punkt recht gegeben: "… Juden un Avkaten; / De hadden all so Vel verführt […]. Hei seggt, Ji sälen Jug von Juden un Avkaten / Nich in de Fingern krigen laten; / Un dat möt ick verstännig heiten" [Er sagt, Ihr solltet Euch von Juden und Advokaten / Nicht in die Finger kriegen lassen; / Und das muss ich verständig nennen].

Unerbittlich wird der Fuhrmann Matz im Stück De russ’schen Rubeln von einem Juden wegen Schulden von fünf Talern und sechzehn Groschen belangt und zwar trotz Zahlungswilligkeit. Die Währung zur Begleichung soll einerlei sein; am Ende erhält der jüdische Geldverleiher "russische Rubel", nämlich Prügel: "Hew ’k ok kein Luggedur nich, Jud, / Tahl ik Di russ’sche Rubel ut. / Du seggst jo, ’t is Di einerlei. / De sülw’gen Rubel gew ik Di, / De mi betahlt oll Rosomi, / Un wenn s’ nich klingen, klappen sei." [… und wenn sie nicht klingen, so klatschen sie doch.]

Die "Läuschen un Rimels" von 1858

In der zweiten Folge [3] der "Läuschen un Rimels" von 1858 findet man zunächst den Schwank Dat kümmt mal anners. Mosis Itzig und Slaume Lessen fahren im komfortablen Wagen zur Leipziger Messe. Unterwegs reden sie von der herrschenden Unterdrückung der Judenschaft, wie es "müßt doch mal eins anners warden, / wenn s’ Rothschildten taum König hadden", und von ihren prächtigen Geschäften und Profiten. Auf dem Weg fahren sie an Straßenarbeitern vorbei, die im Schweiße ihres Angesichts Steine behauen. Einer von diesen erblickt die Nase (!) von Slaume (Salomo), und nun schreien die Arbeiter den antisemitischen Hetzruf "Hep, Hep!". Moses beschwichtigt seinen empörten Begleiter Slaume, der sich leichtfertig gegen die Hetzer zur Wehr setzen will:

Laß gut sein, Schlaume, es wird kümmen!
Paß Achtung! Es wird kümm’n die Zeit,
Daß unser Fett tut oben schwimmen,
Denn werd’n mer aach sein ungeßogen.
Paß Achtung! Es wird kümm’n die Zeit,
Wo wir se denn aach ’runtermöppern;
Sie werd’n dann sitzen in den Wogen,
Un Du und ich und uns’re Lait,
Die werden dann Schossehstein klöppern!

Arbeiter und Juden werden hier unter dem Gesichtspunkt des Klassengegensatzes dargestellt. Die Antwort des Moses soll vermutlich auch von Selbstironie bzw. "jüdischem Witz" zeugen: Es wird der Tag der Umkehrung der Verhältnisse kommen, an dem "uns’re Lait" dereinst von ihrem hohen Ross heruntersteigen müssen, um die Pflastersteine zu klopfen. Man darf dieses Stück nicht im Licht des nachfolgenden 20. Jahrhunderts lesen. Mit Blick auf die gewalttätigen Hep-Hep-Krawalle von 1819 wirkt es freilich schon gruselig genug.

Auch untereinander, so erfährt man im Schwank Ümkihrt, ist man bei "uns’re Lait" nicht zum Geben aufgelegt: zum leckeren Gänsebraten kommt ein unerwarteter Gast, der außerdem einen recht weitgedehnten Begriff von "Probieren" hat, denkbar ungelegen. - In Ein Schmuh wird die Familiengeschichte eines unglaublich geizigen und auch raffgierigen Juden zu Prenzlau erzählt, der sich freilich nach außen hin als gotterbärmlich armen Mann hinstellt. Da sich dieser schließlich "sihr rike" Jude nicht einmal einen langen Rock leisten will, kauft ihm sein - assimilierter - jüngster Sohn für neun Taler einen guten Rock. Dem Vater gibt er aber als Preis nur zwei Taler an, sodass dieser - nachdem er den Rock sogleich für vier Taler weiterverkauft hat - sich wegen eines richtig guten Handels rühmen kann: "Mag Gott uns oft so’n Rebbes gewen!" (Sehr ausführlich werden die Söhne vorgestellt, die der jüdischen Aufklärung huldigen, Philosophie und schöne Künste betreiben, auf anspruchsvollere Waren umsteigen, die Religion nicht mehr ernst nehmen oder auch Schweinefleisch essen.) Bewusst einfache Bekleidung kann übrigens durchaus als tradierte Schutzgewohnheit verstanden werden: "Auch wohlhabende Juden kleideten sich eher unauffällig und vermieden es, der Neid ihrer Umwelt zu wecken."1 [4]

Der Schwank De Hauptsak zeigt das kranke "Blümchen" im Kursanatorium. Eigentlich geht es ihrem Gemahl Moritz Gimpel, der eine für den Heilungsprozess ungünstige Trauernachricht übermitteln muss, gar nicht um das Wohlergehen der Gattin an sich. Wirklich wichtig ist für ihn die Kosten-Nutzen-Rechnung des Kuraufenthaltes: "Geld is de Hauptsach’ doch".

Einige der genannten Stücke kann man unter Wohlwollen als heitere Zeichnung des mecklenburgischen bzw. jüdischen Leutelebens auffassen. Es überwiegen jedoch die negativen Stereotypen: Juden sind geizig, zumeist gleichzeitig wohlhabend, unerbittlich beim Schuldeneintreiben, berechnend und bei Geschäften oder Wetten nicht vertrauenswürdig. Die Leserschaft aus dem "einfachen Volk" erhält durch einige Schwankgedichte die Aussicht, dass Juden Prügel beziehen oder - in Umkehrung bestehender Verhältnisse - in der Gosse Straßenarbeit verrichten müssen. Die Stimmung wird ganz "ungemütlich", und auch physische Gewaltbereitschaft kommt ins Spiel.

Reuter, der "Judenfreundlichkeit" verdächtig?

Nun ist der Autor Fritz Reuter gar kein ausgewiesener Judenfeind2 [5]: Dem jüdischen Arzt Dr. Michael Liebmann (1810-1874) in Stavenhagen war er z.B. freundschaftlich verbunden. Beide Männer unterstützten sich gegenseitig bei ihren wohltätigen Projekten (Kriegsverwundetensorge 1866, Krankenhausbau in Stavenhagen). Reuter schrieb an Liebmann 1867:

… weil ich seit langen, langen Jahren Dein treues und ehrenvolles Wirken in Deinem Berufe und Deine Liebe und Freundschaft für mich kenne, so sende ich diese Gabe an Dich. Dir, dem Juden, der in trübster Zeit, in Not und in Tod treu zu mir gestanden hat, verdanke ich viel mehr als manchem, durch seinen Glauben aufgeputzten Christenmenschen.

In Reuters Roman Ut mine Stromtid [6] von 1862 erscheint Liebmann als "Doktor Soundso". In diesem Werk wird besonders dem Mecklenburger Juden Moses Isaak Salomon (1768-1837) aus Stavenhagen ein ehrendes Denkmal gesetzt. Vor allem wegen dieser literarischen Gestalt des Moses fühlte sich 1942 der Reuter-Forscher Willi Finger-Hain veranlasst, Reuter in der SS-Reichszeitung "von der Verdächtigung der Judenfreundlichkeit frei" zu sprechen.

Schließlich soll der kluge Dr. Michel aus dem "Läuschen un Rimels"-Gedicht De swarten Pocken [7] , der die Folgen einer von "Cirurgus Jakob Kalw" verordneten Behandlung aufklärt, den kundigen Leser an den jüdischen Sanitätsrat Dr. Michel Marcus in Anklam erinnern, mit dem Reuter ebenfalls bekannt war.

Hans Otto Horch vermerkt 1985 in einem Beitrag über "Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur"3 [8], dass der Dialekterzähler Fritz Reuter sich zwar nicht scheue, "des öfteren auf geläufige Klischees der Judendarstellung - vor allem die Memesis des ‚Judendeutsch’ - zurückzugreifen", aber in der Summe erweise "sich sein Judenbild als so differenziert und individualisierend, dass jeder Versuch einer Inanspruchnahme des Autors von antisemitischer Seite scheitern" müsse (S. 151). Dies gelte "trotz einiger als antisemitisch interpretierter früher satirischer Judenfiguren". "Die Juden", so wird behauptet, "werden von Reuter nicht als Außenseiter geschildert, sondern als Teil des humoristisch getönten Sprachkosmos der heimatlichen Provinz; die Kritik an ihnen ist nicht anders zu bewerten als die an adeligen Gutbesitzern, Pfarrern, Bauern und Landarbeitern Mecklenburgs; im Individuum werden Züge als typisch hervorgehoben, ohne dass daraus eine generelle vorurteilsbestimmte Verurteilung eines ganzen Standes erwüchse" (S. 152).

Doch das Judenbild der oben angeführten Schwänke ist ja keineswegs "so differenziert und individualisierend" (S. 151), wie man es nach einer solchen Diagnose erwarten würde. Bezeichnenderweise führt Hans Otto Horch aus Reuters "Läuschen un Rimels" lediglich den Schwank En Schmuh unter Nennung des Titels an, und zwar als Lob auf den noch nicht emanzipierten, orthodoxen Handelsjuden, der im "Festhalten an einer ehrwürdigen Tradition […] ein Beispiel unangepassten Verhaltens" gibt (S. 152). Bei diesem Verweis kann es sich nur um ein Missverständnis oder gar um eine Textverwechslung handeln, worauf wir noch zu sprechen kommen. Der selektive Blick macht Horchs Versuch einer sehr positiven Reuter-Interpretation nicht unbedingt glaubwürdiger, denn auch die gereimten "Läuschen un Rimels" erzählen ja etwas (und zwar mitten in jenes Bürgertum hinein, in dem auch heute islamophobe und andere menschenfeindliche Stereotype hoffähig sind).

In Reuters 1860-1864 entstandenes Satirefragment De Urgeschicht von Mecklnborg [9] , so Horch weiter, seien es nicht die hebräisch sprechenden Nachkommen Sems, sondern gerade die "plattdeutsch redenden ‚Japhiten’", von denen eine "Perversion des Stände- und Kastenwesens" ausgehe (S. 152). Im Roman Ut mine Stromtid [10] von 1862 würden einander "der alte Rahnstädter Jude Moses als ‚Christ’, der christliche Gutsbesitzer Pomuchelskopp jedoch als ‚Jude’ […] idealtypisch gegenübergestellt" (S. 153). Der orthodoxe Moses verweigert sich den Forderungen aufgeklärter Reformjuden und beharrt auf dem gleichberechtigten, genuin jüdischen Beitrag für ein humanes Gemeinwesen. Gerade deshalb, so Horch, werde diese Romanfigur "zum Plädoyer konsequenter Aufklärung, insofern sie gerade als nicht angepasste, als (scheinbar) fremde dem Leser zur Identifikation angeboten wird" (S. 153).

Im Gegensatz zu dieser Interpretation überzeugen Horchs nachfolgende Ausführungen zum späten Reuter ob ihrer allzu offenkundig entschuldigenden Tendenz nicht: "Wenn Reuter, gezeichnet von Krankheit, im Alter - angesichts der von Bismarck inszenierten Kriege von 1866 und 1870/71 - scheinbar wieder in unreflektiertes Poltern gegenüber ‚Judenbengeln’ wie Heine zurückfällt, so ist diese ‚momentane Entgleisung’, wie Gotthard Deutsch hervorhebt, ein ‚Atavismus’, der auch ‚bei den aufrichtigsten Liberalen’ vorkomme." (S. 154)

Schon um 1900 gab es Anlass, einer "Vereinnahmung" Reuters durch Antisemiten in der Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens [11] entgegenzutreten. Eine gründliche Reuter-Studie hätte aber aufzuzeigen, dass das Werk doch auch bedenklichen Zündstoff für eine diesbezügliche "Vereinnahmung" liefert. Ein vertrauter Umgang mit einzelnen Juden, so wird man später z.B. am extremen Beispiel des letzten Hohenzollern-Kaisers lernen können, offenbart nicht unbedingt schon die ganze Gesinnung. Schließlich gibt es keinen Grund, Widersprüche innerhalb eines "Autor/Werk"-Komplexes zu glätten oder gar aufzulösen.

So kann man etwa Reuters hochdeutsche Abenteuer des Entspekter Bräsig [12] von 1861 durchaus auf ganz verschiedene Weise lesen. Schaut "Onkel Bräsig" wirklich nur in Gegenwart des wenig judenfreundlichen preußischen Beamten ganz scheinheilig auf die ganze "Juden-Bagage" herab, die ihn angeblich "verführt" hat? Als sachverständiger Dienstleister bei einer jüdischen Handelsangelegenheit kommt Bräsig wirklich in große Kalamitäten; nur sollte man als aufmerksamer Leser nicht vergessen, weshalb das Unheil der ganzen Geschäftsreise eigentlich seinen Lauf genommen hat: Ein "besoffener Jude" zählte - vermutlich aufgrund eines tradierten Verhaltenskodexes der verwundbaren Minderheit - im 19. Jahrhundert sprichwörtlich zu den jenen Wunderdingen, die man nie zu sehen bekommt. Aber Bräsigs Kumpanen setzen alles daran, ein solches "Wunder" mit freundlicher Nötigung wahr werden zu lassen.

Der "klitzekleine Zimtjude" im Quickborn von Klaus Groth

Der viel mehr nach rückwärts ausgerichtete Holsteiner Klaus Groth (1819-1899) will - anders als der von ihm kritisierte Reuter in den "Läuschen un Rimels" - nicht "plumpe, unwissende oder schmutzige, schlaue Figuren" mit einer z.T. "schluderigsten Sprechweise" vorführen, sondern ideale "Volkspoesie". Sein berühmter Quickborn [13] enthält ab der ersten Auflage 1852/53 das Gedicht Kaneeljud, in dem ein "klitzekleiner Zimt-Jude" die Idylle des "Volkslebens" bereichert:

Luerlüttje Kaneeljud!
Wa süht he verdweer ut!
Hangt Band ut, hangt Trand ut,
Handelt allerallerhand Grandgut.

Isak, is dat Schipp kam?
Is min Säwel mitkam?
Krieg’k en Wagen, krieg’k en Popp,
Krieg’k min Hot mit Feddern op?

"Kinner, noch nicht!
Tokum Johr kumt’t vellicht!
Dat Woter weer dick worn,
Mät teebn bet de Glicksorn!"

Luerlüttje Kaneeljud!
Wa süht he fidel ut!
So afscharn, so utfrarn,
Snackt jimmer, jimmer vun de Glücksaarn.

Abraham, wo büst du?
Vater Abram, sühst du?
Truerbom vun Babylon,
Wo’s de weise Salomon?

Zu diesem Text ist neben ganz unterschiedlichen hochdeutschen Übersetzungen auch eine neuere englische Übertragung Cinnamon Jew! [14] von Reinhard F. Hahn abrufbar. Der jüdische Gewürzhändler bzw. Hausierer ist sehr klein von Gestalt und sieht irgendwie "quer" bzw. "verdreht" aus (beide Beschreibungen entsprechen bekannten Stereotypen). Isaak handelt, was seinem äußeren Erscheinungsbild entspricht, mit ganz unbedeutendem Kleinkram bzw. Ramsch. Vermutlich hat er den Kindern, die ihn jetzt neugierig umringen, bei einem früheren Besuch des Ortes von einem Schiff erzählt, das schöne Dinge mit sich führen wird (Säbel, Wagengespann, Puppe, Federhut). Doch nun lehrt er, der Lebenserfahrene, den Kleinen die Geduld: "Das Schiff kommt, jetzt noch nicht, aber vielleicht nächstes Jahr. Ihr müsst warten, Kinder, warten auf die Glücksernte." Isaak sieht fidel aus, aber gleichzeitig auch abgeschoren und ausgefroren. Unentwegt spricht er von der kommenden Glückszeit …

Klaus Groth (Gravur von Moritz Johannes Klinkicht)

Klaus Groth macht uns bekannt mit einer ärmlichen und vielleicht sogar bewundernswerten Gestalt. Durch die Schluss-Strophe rückt ihre tragische Seite in den Vordergrund. Dies ist schon vorbereitet durch ein vorangestelltes Zitat aus Lord Byrons Hebrew Melodies [15] von 1815:

But we must wander witheringly,
In other lands to die;
And where our fathers’ ashes be,
Our own may never lie:
Our temple hath not left a stone.
And Mockery sits on Salem’s throne.

Dieses Zitat aus dem Gedicht "The Wild Gazelle" fällt in den frühen Quickborn-Editionen zusehends kürzer aus und kann in hochdeutschen Lesehilfen auch ganz entfallen: "Vom Tempel ist kein Stein geblieben; die Häme hockt auf Salems Thron." Groth selbst steht mit seinem plattdeutschen Gedicht wohl kaum auf Seiten der Häme.

Einer der frühen hochdeutschen Übersetzer macht aus dem "klimperkleinen Zimtjuden", der in Groths heimatlicher Landschaft als Hausierer Gewürze feilbietet, 1856 kurzerhand einen "Schacherjud’" mit Spitzhut4 [16], ein anderer setzt etwa zeitgleich "Mauschel"5 [17] an die Stelle. In der vom Dichter selbst autorisierten Übertragung bleibt das Wort "Lüerlüttje Kaneeljud’" hingegen ohne Übersetzung.6 [18] Mehr als irritierend ist die finster wirkende Illustration zu diesem Gedicht nach einer Zeichnung von Otto Specker, die man in einer Quickborn-Ausgabe von 1930 findet (Meersburg und Leipzig: Verlag F.W. Hendel).

Sonntagmorgen: "Wir sind am End’ noch Juden miteinander"

Anfang des 19. Jahrhunderts lebte eine sehr große Mehrheit der Juden "auf oder unter dem Existenzminimum. Abgesehen von einer kleinen Mittelschicht, schlugen sich vor allem auf dem Land die meisten Juden als Bettler, Hausierer, Klein- und Trödelhändler durch. […] Während 1830 noch 50 % der preußischen Juden ‘Nothandel’ betrieben, waren es 1870 nur noch 10 %. Innerhalb weniger Jahrzehnte gelang fast zwei Dritteln der Aufstieg ins Bürgertum"7 [19]. Viele deutsch-christliche Konservative hätten es wohl gerne beim Stand von 1830 belassen, für den auch der "Lüerlüttje Kaneeljud’" steht.

Groths "Quickborn" von 1852/53 enthält außerdem noch das Gedicht De Sünndagmorgen, in dem folgende Passage zu lesen ist:

Mi sünd de Lüd to happi un to hasti;
Mit stille Arbeit kumt keen Minsch mehr doer,
De lüttste Natelhandel is nu bèter.
Wi ward am Enn’ noch Juden mit enanner;
Wer arbeidn will, is redi blot Maschin.
Un doch is mi am glücklichsten to Mot,
Wenn’k Dag an Dag so rech de Glieder bruk,
De ganze Wèk int Wirken un alleen,
Un as de Moelenpèrd int sülwe Spor
Un eenerlei as voerjahrs bi den Törf.
Denn gat de Been un Arm èrn egen Gank
Un de Gedanken still un sach èrn annern,
De strid sik nie, dat Hart is so gesund,
Un dat Gewèten röhrt sik nich in Bossen.

Wolfgang Näser bietet zu diesen Zeilen in seiner hochdeutschen Gedichtübertragung [20] folgende Übersetzung:

Mir sind die Menschen viel zu gierig und zu hastig;
Mit stiller Arbeit kommt kein Mensch mehr aus;
Der kleinste Trödelhandel ist nun besser.
Wir sind am End’ noch Juden miteinander,
Und die Maschin’ ist dann die letzte, die noch schafft.
Und doch ist mir am glücklichsten zu Mut’,
Wenn ich die Glieder brauche Tag für Tag,
Die ganze Woche schaffe und sonst nichts
Und wie das Mühlpferd in derselben Spur
Und einerlei wie frühjahrs mit dem Torf.
Dann gehn die Arm’ und Beine ihren Gang
Und die Gedanken still und sacht den andern;
Uneinig sind sie nie, das Herz ist so gesund,
Und das Gewissen rührt sich nicht im Busen.

"Juden" stehen hier für eine neue Mentalität des Handels- und Maschinenzeitalters, für eine Geschäftigkeit, die in Wirklichkeit kein produktives Arbeiten mehr ist. Vermutlich klingt im Gedicht ein judenfeindliches Argumentationsmuster mit, das die historischen Hintergründe typischer Erwerbstätigkeiten von Juden auf den Kopf stellt und auch die bedeutsamste Aufstiegschance der Minderheit im Industriezeitalter, die sich auf geschichtlicher Erfahrungsbasis anbietet, verleugnet: "Juden handeln, weil sie sich vor ‘echter Arbeit’ drücken wollen." (Nebenbei sei angemerkt: Hausiererhandel mit mobilem Kaufmannsladen ist Knochenarbeit!)

Die bäuerliche Lebensordnung, in der es Beharrlichkeit, die schwere körperliche Anstrengung und den geheiligten Sonntag gibt, bricht auseinander. (Man darf wohl fragen, wie viele Christen um 1853 den Sonntag ähnlich heiliggehalten haben wie die allermeisten Juden den Sabbat.) Eine Umwandlung menschlicher Beziehungen in Warentauschverhältnisse findet statt, und das wird bei Groth als "jüdisch" qualifiziert: "Wi ward am Enn’ noch Juden mit enanner [Wir sind am End’ noch Juden miteinander]". Schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts kündigt sich mit dieser Zeile jener Komplex von Zivilisationskritik und Kulturpessimismus der nachfolgenden Jahrzehnte an, in dem der Antisemitismus fest verankert sein wird.

John Brinkmans "Mottche Spinkus"

Als letztes Mundartklassiker-Beispiel nenne ich nun die plattdeutsche Novelle Mottche Spinkus un de Pelz [21] von John Brinckman (1814-1870). Diese ist angesiedelt "im jüdischen Milieu der mecklenburgischen Kleinstadt Güstrow in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (Wolfgang Rieck). Der Hinstorff-Verlag bewirbt eine Hörbuch-Edition [22] von Wolfgang Rieck so:

John Brinckman lieferte mit "Mottche Spinkus un de Pelz" viel mehr als nur eine Milieustudie aus dem jüdischen Gemeindeleben und aus dem alltäglichen Leben um ihn herum. Das jüdische Leben in Mecklenburg hatte seine Sympathie und deshalb war es für Brinckman als Erzählgegenstand interessant.

Kurt Batt, ehemaliger Lektor des Verlages, bezeichnet die Erzählung als "das kunstvollste Stück Prosa, das jemals in plattdeutsch geschrieben wurde". Der vollständige Text, zuerst 1886 - sechszehn Jahre nach dem Tod des Dichters - bei Werther in Rostock noch mit der Schreibweise "Mottje" ediert, ist im Internet über das Gutenberg-Projekt leicht zugänglich. Genau besehen handelt es sich bei dieser Novelle um die äußerst liebenswürdige Verarbeitung eines Erzählstoffes, der uns schon in dem oben genannten Schwankgedicht Ein Schmuh [23] (1858) von Fritz Reuter begegnet ist (die allzu positive Bezugnahme auf Ein Schmuh bei Hans Otto Horch würde erst plausibel, wenn Horch in Wirklichkeit an Brinckmans Novelle gedacht hat):

Mottche Spinkus, im Gegensatz zu seinen beiden Söhnen Simon und Heimann noch ein orthodoxer, nicht assimilierter Jude, war ehemals ein wendiger Händler, arbeitet aber jetzt als Schächter für die Synagogengemeinde zu Nebelow. Er trägt einen uralten, verschlissenen Kutschermantel, in den er rein vernarrt ist, und das sogar zum allgemeinen Ärgernis an hohen Festtagen. Die beiden Söhne wollen Vaterleben nun zu einem warmen, ansehnlichen Pelzmantel verhelfen und hoffen deshalb auf ein gutes Gelingen ihrer unterschiedlichen Spekulationsgeschäfte (freilich käme es beiden wohl durchaus gelegen, wenn der jeweils andere Bruder den Liebesdienst übernimmt).

Cover eines Hörbuchs zu John Brinckmans Novelle "Mottche Spinkus"

Auch weil sich die Brüder nicht richtig verständigen oder aus strategischen Gründen vorerst noch abwarten, kaufen dann am Ende beide unabhängig voneinander einen teuren Pelzmantel für den Vater. Unter Einhaltung jüdischer Gesetzesvorschriften und aus Achtung vor der Ehre des wenig betuchten Mottche Spinkus lassen sie ihren Vater jeweils für den Pelz bezahlen (bei der Einfädelung dieses vorgetäuschten Geschäftes geben sie nur einen Bruchteil des von ihnen wirklich bezahlten Kaufpreises an). Mottche Spinkus denkt freilich gar nicht daran, die Pelze statt seines schäbigen, geliebten Mantels anzuziehen, sondern verkauft sie postwendend weiter. Da er sich im Handelsgeschäft schon lange nicht mehr auskennt und ja auch eine völlig falsche Preisvorstellung bezüglich der teuren Pelze hat, ist das hierbei erzielte Ergebnis natürlich haarsträubend schlecht.

Die Verwicklung wird perfekt. Vaterleben glaubt, er habe den Söhnen die Pelze fair bezahlt und danach mit seiner größeren Händlerkunst ein noch viel besseres Geschäft gemacht als diese. Die Söhne erkennen, wie ihr aus Sohnesliebe investiertes Geld gleich zweimal zum Schornstein rausgeflogen ist, und müssen am Ende sogar miterleben, dass ausgerechnet zwei ihrer Familie gegenüber offenbar missgünstig gestimmte Honoratioren die dem Vater zugedachten Pelze in der Synagoge tragen: "Kann so was aber passieren, und hat es müssen passieren, so kann es auch nur passieren ainzig und allain die Spinküsen!"

John Brinckman

Mottche Spinkus trägt einen grauen Ziegenbart und hat einen langen Nasenzipfel (und so zeigt es der Hinstorff-Verlag auch auf der Hülle seiner Hörbuch-Edition). Juden spekulieren, handeln und feilschen um "Mauses und die Propheten" in dieser Novelle: "Wo soll es kümmen her, wenn es nich kümmt von das Geschäft?" Über die verschiedensten Charaktere in der alten Synagoge zu Nebelow oder die jeweils wirklich sehr persönlich aufgefassten Deutungen der Auslegungen zum Purimfest lästert und schmunzelt Brinckman mit völliger Unbefangenheit, bisweilen wie ein "Insider" (es bleibt dabei meistens dem Leser überlassen, die Parallelen zur christlichen Gemeinde und ihrer Obrigkeit selbst zu entdecken). Und doch spürt jeder, dass der Dichter nichts gemein hat mit den Häßlichkeiten, die er dem Goi Kürschner Plaß in den Mund legt: "Nee, is nich, Jud, is nich! Schmeiß ihn raus, den Juden Itzig!"

Gegen alle Oberrabbiner und den gesamten Oberkirchenrat hält Brinckman fest, was er als Christ von der hebräischen Bibel weiß. Nie fiele es ihm ein, die Juden und ihren Ritus schlecht zu machen - selbst wenn, was wohl nie eintreffen wird, der Bankier Meyer Amschel Rothschild halb mit ihm teilen würde ("… un de Juden un ehren Ritus hier slicht maken tau wœlen, dat ded ick jo nich, un wenn Amschel Rothschild mi half afgäwen wull"). Bei der Thematisierung des Generationenwandels - vom orthodoxen hin zum sehr assimilierten Judentum - maßt sich John Brinckman keine moralisierenden Richtersprüche aus konservativer oder aufgeklärter Perspektive an. Aber unausgesprochen erfahren wir bei ihm noch eine einfache Wahrheit, die bald nach seinem Tod aus sehr vielen deutschen Köpfen verdrängt werden sollte: Das Judentum ist keine Rasse, sondern eine Religion.

Durch Brinckmans Werk Mottche Spinkus un de Pelz kann man vorzüglich lernen, dass die Verwendung bestimmter Stereotypen und Klischees oder der Einsatz sprachlicher Übertreibungen auch in Texten vorkommen können, deren Zielrichtung ganz und gar nicht judenfeindlich ist. Darf man die plattdeutschen Dichtungen Reuters und anderer Autoren stets an Brinckmans warmherziger Sympathie messen? Vielleicht nicht. Die Novelle vermittelt auf jeden Fall Kriterien für eine Scheidung der Geister: Im humorvollen Literaturgenre werden, je nachdem ob die menschliche Solidarität oder das feindselige Vorurteil im Hintergrund waltet, die Lästereien ganz unterschiedlich ausfallen.

Nachtrag: "Ist Plattdeutsch vielleicht ein judenfeindliches Medium?"

Einige Hinweise zum Themenkomplex "Juden und Plattdeutsch" seien hier auch deshalb angefügt, damit die dargebotenen, durchweg vor 1870 entstandenen Literaturbeispiele keine falschen Erwartungen wecken (zum Ende des 19. Jahrhunderts hin kommt es zu einer Inflation der plattdeutschen Buchproduktion, und mit großer Wahrscheinlichkeit ist innerhalb dieses Sortiments mit weitaus weniger freundlichen Befunden zu rechnen). Am Anfang der neuniederdeutschen Literatur steht in Westfalen ein plattdeutsches Zeugnis wie das des Osnabrückers Friedrich Wilhelm Lyra (1794-1848), der sich 1845 - "wenn auch in seiner derb-humoristischen Art - für die Frauen- und die Judenemanzipation ausspricht"8 [24]. Am Gegenpol findet man z.B. den im Kreis Cruxhaven geborenen Pfarrerssohn, Arzt und Mundartautor Gustav Wilhelm Bernhard Stille (1845-1920), der sich durch das Werk "Der Kampf gegen das Judentum" (1900) im deutschen Kaiserreich als aggressiver Antisemit ausweist. Über seinen plattdeutschen Roman "Dörpkinner", 1918 erschienen in der Deutschnationalen Verlagsanstalt, liest man sogar in einer äußerst wohlwollenden Rezension [25] der "Mitteilungen aus dem Quickborn" (Nr. 12/1918): "… der Verfasser zieht gegen die Juden scharf zu Felde. […] Man braucht durchaus nicht mit den Juden zu sympathisieren, um sich von dieser aufdringlichen Tendenz abgestoßen zu fühlen."

Von Julius Langbehn (1851-1907), dem maßgeblichen Propagandisten eines "niederdeutschen Charakters" und katholischen Konvertiten, stammen Vorgaben für einen "kulturpessimistisch" motivierten Antisemitismus. Zur Zeit des Faschismus wird der Nationalsozialist Dr. Karl Schulte Kemminghausen, der vielen noch nach 1945 als Westfalens plattdeutsche Koryphäe galt, unter wissenschaftlichem Anspruch die These vortragen, dem Judentum sei eine feindselige Einstellung gegenüber dem Niederdeutschen bzw. Plattdeutschen zu eigen.9 [26] Man kann kaum glauben, dass diesem akademischen Scharlatan die Absurdität seiner im Kontext einer rassistischen "Sprachbiologie" vorgetragenen Hirngespinste selbst nicht bewusst war.

So gehörte etwa die später von den Faschisten ermordete jüdische Wissenschaftlerin Agathe Lasch [27] (1879-1942), Deutschlands erste Germanistikprofessorin, im Kaiserreich zu den führenden niederdeutschen Philologen. In Münster, dem Wirkungsort von Schulte Kemminghausen, war der jüdische Kaufmann Eli Marcus (1854-1935) - genannt "Natzohme" - einer der produktivsten Mundartautoren und zugleich als plattdeutscher Theateraktivist der "Zoologischen Abendgesellschaft" bekannt. Der jüdische Buchdrucker Carl van der Linde (1861-1930) aus dem niedersächsischen Veldhausen hat Gedichte, Prosatexte und politische Kommentare im Plattdeutsch der Grafschaft Bentheim veröffentlicht, woran u.a. eine preisgekrönte, von Helga Vorrink und Siegfried Kessemeier bearbeitete Buchedition "Löö en Tieden" (2008) erinnert.

Es ist selbstredend lächerlich, unter Hinweis auf willkürlich ausgewählte individuelle Beispiele eine besondere Abneigung oder Affinität von Juden im Bereich des Plattdeutschen zu konstruieren oder innerhalb des so vielgestaltigen niederdeutschen Raumes Juden irgendein bestimmtes Sprachverhalten zuzuordnen, das nicht von familiärer Sprachbiographie, Minderheitenstatus, regionaler Sprachsoziologie, lokaler Sprachgeschichte etc., sondern gleichsam wesensgemäß vom "Jüdischsein" bestimmt ist. Über den Hamburger Pädagogen und Rabbiner Samson Philip Nathan (1820-1905) wird mitgeteilt [28], dass er "seine Heimatstadt liebte und besonders gern Plattdeutsch sprach". In Krakow, so schreibt [29] Ursula Homann, gehörte der jüdische Gemeindevorsteher Benno Nathan 1910 "zu den Stiftern des Reuter-Gedenksteins in einer Gartenanlage. Sein Bruder Josef […] war ein Verehrer des plattdeutschen Dichters Fritz Reuters. Josef Nathan verfasste selbst ebenfalls plattdeutsche Lyrik und dichtete einmal: ‘Min oll lütt Vaterstadt, tüschen See un Barg: Hier hett min Weig dunn stahn, hier stah’ min Sarg.’ Wie ihre nichtjüdischen Nachbarn betrachteten sich die Nathans im 19. Jahrhundert in erster Linie als Mecklenburger und pflegten wie alle Einheimischen die plattdeutsche Sprache".

Im Bereich der Heimatforschung hat man in bundesrepublikanischer Zeit das Sprachverhalten bisweilen wohl auch rückblickend als Indikator für eine "gute Integration" jüdischer Mitbürger betrachtet, so z.B. hier [30] für Ostfriesland: "Auch die Fehntjer Juden sprachen plattdeutsch." Meine eigenen Studien10 [31] für Südwestfalen lassen am ehesten den Schluss zu, dass sich jüdische Händler außer Haus selbstverständlich der ortsüblichen Mundart bedienten und deshalb auch judenfeindliche Mundartautoren dies in ihren Schwänken fast immer so wiedergeben müssen (zum familiären Sprachverhalten habe ich keine außerliterarischen Quellen für die Region gefunden; ein wirkliches "Westjiddisch" wird man ab Ende des 19. Jahrhunderts wohl kaum noch gesprochen haben). In Sondersprachen wie der "Masematte" aus Armenvierteln in Münster oder dem "Schlausmen"11 [32] der hochsauerländischen Sensenhändler, die auf einem plattdeutschen Grundgerüst beruhen, haben viele Entlehnungen aus dem Jiddischen bzw. Hebräischen Eingang gefunden.

Der in Niederntudorf bei Salzkotten geborene Dichter Jakob Loewenberg (1856-1929) teilt zu seiner Kindheit [33] in einem katholischen Dorf Westfalens mit:

Wären nicht die Erwachsenen störend dazwischen gekommen, die jüdischen und christlichen Knaben und Mädchen würden in derselben einträchtigen Weise weiter verkehrt haben, wie sie es als kleine Kinder getan. […] Hieß es aber bei irgend einer Gelegenheit: "Da heste den Jiuden", - oder "so was kann nur bei Eiszews [von Esau = Nichtjuden] passieren", so horchten die jungen Ohren auf, und der Ruf "olle Jiude", "olle Christ" flog bald herüber und hinüber. Und mehr der Unterschiede taten sich dann den spähenden Äuglein kund: andre Speise, andre Feiertage, andre Gotteshäuser, ja selbst auch eine andere Sprache; denn in den jüdischen Familien wurde (...) nur Hochdeutsch gesprochen, obgleich jeder Platt verstand und es im Verkehr gebrauchte.

Schon bald nach 1800, als antiaufklärerische und dann auch frühnationalistische Judenfeinde sich zu Wort melden, taucht die Wiedergabe von dem, was man für "Judendeutsch" hält, als ein Stilmittel der Verächtlichmachung auf.12 [34] (Freilich ist bei einer Beurteilung entsprechender Literaturpassagen Vorsicht angesagt; nichtjüdische Dichter "müssen" sich bei Sprechanteilen ja meist ohne besondere Kompetenzen etwas "Jiddisches" zusammenreimen.) Viel später will dann Alfred Götze (1876-1946), ein führender Germanist im "Dritten Reich", die Sprache von Wörtern aus dem "jüdischen Verbrechertum" bereinigt sehen.13 [35] Während sich der Allgemeine Deutsche Sprachverein als "SA unserer Muttersprache" anpreist, unterstellt man missliebigen Dichtern wie Thomas Mann oder Stefan Zweig ein "geheimes Jiddisch" und kann ein deutscher Studienrat über ein Gedicht von Heinrich Heine allen Ernstes schreiben: "Die Wortstellung ist viermal ganz jüdisch".14 [36]


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[27] http://www.agathe-lasch.de
[28] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/nathan-samson-philip
[29] http://www.ursulahomann.de/JudenInMecklenburgVorpommern/kap004.html
[30] http://www.michaeltillheinze.de/f_k1987/f_k871119.htm#1
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