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Unterhosen und unwiderstehliche Impulse

Otto Preminger und die Herrschaft des Gesetzes, Teil 2

Im ersten Teil haben wir mit Laura Manions Unterhose aufgehört. Wie kommt man von den Panties zurück zum McCarthyismus und zur schwarzen Liste Hollywoods? Die Verbindung ist die Heimlichtuerei, die Preminger ein Graus war und gegen die er anging wo er konnte, weil intransparente Verfahren seiner Überzeugung nach die Demokratie untergruben. Wenn seine Filme gegen Gesetze verstießen, war das eine Sache für die Polizei und für ordentliche Gerichte, nicht für ein dubioses, hinter den Kulissen agierendes, übermäßig von der katholischen Kirche beeinflusstes Gremium aus Scheinheiligen, Pharisäern und Moralaposteln. Und wenn ein Produzent Leute von einer (offiziell nicht existierenden) schwarzen Liste beschäftigte, sollte er es zugeben, statt ihre Namen zu unterdrücken.

Teil 1 [1]: Anatomie einer Jungfrau

Breaking the Blacklist

Als Preminger Anatomy of a Murder drehte liefen bereits die Vorbereitungen zu seinem nächsten Film: Exodus nach dem Roman von Leon Uris. Das Drehbuch sollte Albert Maltz schreiben, einer von den Hollywood Ten, die zu Haftstrafen verurteilt worden waren, weil sie 1948 vor dem Kongressausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Aktivitäten unter Berufung auf ihre durch die Verfassung garantierten Rechte die Aussage verweigert hatten. Chris Fujiwara zitiert in seinem Preminger-Buch aus einem Brief von Maltz an Dalton Trumbo, auch einen von den Zehn (neun von ihnen verfassten Drehbücher). Darin sagt er, dass ihn der Produzent des Films (Exodus), an dem er gerade arbeite, unbedingt als Autor nennen wolle. Dazu kam es nicht, weil Preminger mit dem von Maltz geschriebenen Buch extrem unzufrieden war und schließlich Trumbo engagierte, was Otto in seiner Eigenschaft als Produzent im Januar 1960 auch einem Journalisten der New York Times erzählte - verbunden mit der Ankündigung, dass Trumbos Name im Vorspann auf der Leinwand zu sehen sein werde. Diese Nachricht war der Times einen Platz auf der Titelseite wert (20.1.) und sorgte für beträchtlichen Wirbel.

Zu dieser Zeit gab es ein Gezerre zwischen der Universal und Kirk Douglas, dem Star und Produzenten von Spartacus, für den Trumbo ebenfalls das Drehbuch geschrieben hatte. Douglas wollte den richtigen Namen des Autors nennen, die Universal war dagegen, Douglas setzte sich am Ende durch. Spartacus darf für sich in Anspruch nehmen, der erste amerikanische Film zu sein, in dessen Vorspann der Name eines Drehbuchautors von der schwarzen Liste auftaucht, weil er zwei Monate vor Exodus ins Kino kam. Ob Douglas sich auch ohne den Rückenwind durch Premingers Times-Interview gegen die Chefetage der Universal durchgesetzt hätte bleibt eine offene Frage. Fest steht, dass Douglas mit seinem Vorhaben erst im September 1960 an die Öffentlichkeit ging (im Oktober war Premiere) - ein Dreivierteljahr nach Preminger, der den Minenhund machte. Als er nicht zerrissen wurde, folgten andere nach.

1991 verlieh die Writers Guild Kirk Douglas ihren Robert Meltzer Award [2] und tat so, als habe er fast im Alleingang mit der schwarzen Liste Schluss gemacht. Trumbos Witwe Cleo war empört und forderte in einem Brief an die Guild, die Ehrung dem inzwischen verstorbenen Preminger zuzuerkennen, weil seine Verdienste viel größer seien. Sie erhielt nie eine Antwort. Die Familie Trumbo boykottierte daraufhin die Feier, bei der Douglas seinen Preis erhielt. Der Geehrte war deshalb eingeschnappt und weigerte sich, mit Cleo zu sprechen, wenn sie sich auf Partys trafen (in der Version der Witwe). Daraus kann man eine Verschwörungstheorie spinnen, oder man bleibt realistisch: Solche Preise werden meistens vergeben, um Werbung für den edlen Spender zu machen. Mit einem Publikumsliebling geht das viel besser als mit einem widerborstigen Regisseur, der aller Voraussicht nach nicht zur Verleihung kommen wird, weil er schon tot ist. 2012 veröffentlichte Kirk Douglas sein Buch I Am Spartacus!, dem er (oder der Verlag?) den Untertitel Making a Film, Breaking the Blacklist gab. Falsche Bescheidenheit ist des Autors Sache nicht. Prompt warf ihm Mitzi Trumbo [3] ein Übermaß an Selbstbeweihräucherung vor, gepaart mit einem Zuviel an dichterischer Freiheit. Mitzi scheint den Kampf ihrer Mutter Cleo um die historische Wahrheit fortzuführen. Solche Auseinandersetzungen rund um die Blacklist, zwischen Opfern, Tätern und anderen Beteiligten oder deren Angehörigen, gibt es öfter. Sie zeugen von einer unbewältigt bleibenden Vergangenheit und Wunden, die nicht verheilt sind.

Gerecht ist das Leben eher nicht, und in der am Umsatz orientierten Unterhaltungsindustrie sowieso nicht. Kirk Douglas durfte sich später Preise abholen. Preminger wurde zu seinen Lebzeiten vorgehalten, was man ihm immer vorhielt, wenn er Zivilcourage zeigte, während die Kollegen noch in der Deckung blieben: er habe Dalton Trumbo nur engagiert und dies an die große Glocke gehängt, um die Werbetrommel für sich und seinen Film zu rühren. Das habe keinen Mut erfordert, weil ohnehin klar gewesen sei, dass die Zeit der schwarzen Liste vorbei war. Mutig aber war es sehr wohl. Jemand musste den Anfang machen. Erst danach ließ sich sagen, was das für Folgen haben würde. Trumbo war Preminger dankbar und überzeugt davon, dass er ihn nicht aus Reklamegründen als Drehbuchautor genannt hatte, sondern aus Prinzip und weil er ein Gegner der schwarzen Liste war.

Preminger selbst sagte gegenüber der New York Times, dass seine Entscheidung praktisch und nicht politisch motiviert sei. Seine Aufgabe als Regisseur und Produzent sei es, Filme nach den bestmöglichen Drehbüchern zu machen: "Ich bin keine Autorität was die schwarze Liste betrifft. Angenommen, dass so etwas existiert, werde ich mich nicht daran beteiligen. Meiner Meinung nach ist das gesetzwidrig und unmoralisch." Das Branchenblatt Variety (20.1.) zitierte ihn mit den Worten: "Ich werde mich nicht an der schwarzen Liste beteiligen, weil sie unmoralisch ist und nicht im Einklang mit einem rechtsstaatlichen Verfahren, so wie die Lynchjustiz. Es ist nicht meine Aufgabe, mich nach den politischen Überzeugungen der Personen zu erkundigen, die ich unter Vertrag nehme." "Ich glaube auch", sagte er am 26. Januar in einem Fernsehinterview, "dass man niemanden für das bestrafen kann, was er denkt. Man bestraft ihn für das, was er tut."

Was Preminger wohl für einen Film gedreht hätte in einer Zeit, in der die Unschuldsvermutung nicht viel gilt, wenn es um Vorwürfe wie Terrorismus und Kinderpornographie geht? Jedenfalls einen, der Mut erfordert. Vielleicht eine Geschichte darüber, welche den Opfern mehr schadenden als nützenden Relativierungen dabei herauskommen, wenn sich eine Gesellschaft Tugendpolizisten leistet, die alles, was ihren Vorstellungen von Sitte und Anstand widerspricht, in einen Topf werden. (Der Begriff "Kinderpornographie" ist ein unrühmliches Beispiel dafür. Der erzwungene Sex mit Abhängigen ist etwas völlig anderes als einvernehmlicher Sex unter Erwachsenen vor einer Kamera, keine Pornographie mit einem Kind davor.)

Die Preminger-Interviews zu Dalton Trumbo forderten den Widerspruch des rechten Lagers heraus, von der mächtigen Veteranenorganisation American Legion bis zur New York Daily News (5.2.1960), deren Leitartikler schrieb: "Wir sind froh zu erfahren, dass die großen Studios beabsichtigen, die schwarze Liste beizubehalten, statt Premingers Beispiel zu folgen. Die schwarze Liste Hollywoods atmet nicht den Geist der Lynchjustiz. Der Gedanke dahinter ist vielmehr, denen die Unterstützung zu verweigern, deren Hauptanliegen es ist, die Freiheit zu lynchen. Kein Gesetz zwingt Herrn Preminger, sich an die schwarze Liste zu halten. Aber genauso wenig zwingt ein Gesetz patriotische Amerikaner, in den Preminger-Trumbo-Film zu gehen." Damals konnte niemand mit Sicherheit sagen, wie das für Preminger enden würde. Das wusste man erst hinterher. Die Protestmärsche der American Legion verloren merklich an Impetus, als die erhoffte Resonanz ausblieb und sich die Legionäre bei ihren Umzügen an der Seite von Mitgliedern der American Nazi Party wiederfanden. Die American Legion arbeitete übrigens gleich nach ihrer Gründung im Jahre 1919 J. Edgar Hoover zu, der die Freiheit durch Datensammeln und Anlegen von Geheimdossiers schützen (sowie nebenbei die Arbeiterbewegung zerschlagen und seine eigene Macht festigen) wollte. In den USA hat so etwas eine unheimliche Tradition.

Planlose und ungeordnete Seele des Menschen

Was, mag sich der Leser inzwischen denken, hat das mit Anatomy of a Murder zu tun, oder gar mit Obamas Drohnenkrieg (was Richter Lynch wohl dazu gesagt hätte?) gegen den Terror? Ganz einfach. Preminger präsentiert nicht die Anatomie eines Mordes, sondern die eines Mordprozesses. Indem er der Frage nachgeht, unter welchen Umständen ein Angeklagter zu verurteilen und zu bestrafen oder auf freien Fuß zu setzen ist, feiert er den Rechtsstaat - nicht in Form von Sonntagsreden, sondern indem er ihn in Aktion zeigt. Der Rechtsstaat, sagt Preminger mit seinem Film, ist keineswegs perfekt. Aber auch, wenn vieles daran zu wünschen übrig lässt: Für eine demokratische Gesellschaft ist das rechtsstaatliche Verfahren unverzichtbar. Das steht letztlich hinter all seinen Auseinandersetzungen mit Zensoren, Studiobossen und Jägern des "Unamerikanischen": Wenn Filme oder Personen aus dem Verkehr gezogen werden müssen, um dieses oder jenes zu schützen, dann bitte nach Abschluss eines geregelten Verfahrens mit öffentlicher Verhandlung.

Anatomy of a Murder

Eine der schönsten Szenen in Anatomy of a Murder ist diese hier: Biegler wartet mit seinem Team auf den Spruch der Geschworenen, die sich zur Beratung zurückgezogen haben. Maida hat Kaffee gemacht und hofft auf einen Freispruch, weil dann vielleicht Geld eingeht, mit dem sie sich eine neue Schreibmaschine kaufen kann. Bei der alten schlagen das p und das f nicht mehr richtig an, weshalb aus einer der typischen Anwaltsphrasen, "party of the first part", oft ein "arty of the irst art" wird, was in dieser Kanzlei im Grunde gar nicht anders sein kann. Polly sitzt am Klavier, einen Zigarillo im Mund, und spielt ein paar Takte Jazz. "Arty of the irst art", meint er, das hat einen guten Klang, von dem er sich nun inspirieren lässt. Sein Anwaltsfreund sinniert vor sich hin, als improvisiere er in freien Rhythmen einen Text zu Pollys (Ellingtons) Musik: 12 Leute gehen in ein Zimmer. 12 verschiedene Köpfe, 12 verschiedene Herzen, 12 verschiedene Leben. 12 Augen- und Ohrenpaare, 12 Körper. Und diese 12 Leute sollen das Urteil über einen Mitmenschen sprechen, der so verschieden von ihnen ist wie sie von einander. Und bei ihrem Urteil müssen sie zu einem Kopf und Verstand werden. Mit einer Stimme.

Anatomy of a Murder

Es sei "eines der Wunder der planlosen und ungeordneten Seele des Menschen", sagt der Anwalt, dass sie das können. Und in den meisten Fällen machen sie es recht gut. "Gott segne die Geschworenen." Gott segne die Transparenz, könnte man auch sagen. Aus Premingers Film spricht ein Urvertrauen in die Öffentlichkeit, der er bei The Moon is Blue den Fall der ehrlich und direkt über ihre Sexualität sprechenden Jungfrau und im Vorfeld von Exodus den Fall des Dalton Trumbo vorlegte. Die Zeit der schwarzen Liste endete nicht durch tiefere Einsicht der hinter den Kulissen kungelnden Funktionsträger, sondern weil sie unhaltbar wurde, nachdem Preminger in der New York Times und in anderen Medien auf rechtsstaatliche Verfahren gepocht, Gesinnungsschnüffelei abgelehnt sowie auf ein im Verborgenen operierendes Femegericht hingewiesen hatte, das zwar keine Todesurteile aussprach, wohl aber - ohne eine demokratische oder juristische Legitimation - die Existenz bedrohende Berufsverbote. Darum durfte er sich auch Debattenbeiträge wie den Leitartikel in der Daily News als Erfolg anrechnen. Indem der Verfasser die schwarze Liste verteidigte, erkannte er die Existenz von etwas an, das es offiziell nicht gab (allein in der oben zitierten Passage wird sie dreimal genannt). Das war der Anfang vom Ende dieses düsteren Kapitels, auch wenn die schwarze Liste nicht über Nacht verschwand (wie lange sich Betroffene noch demütigenden Ritualen unterwerfen mussten, um von der Liste gestrichen zu werden, weiß man bis heute nicht genau).

Wahrscheinlich traute Preminger seinen Augen nicht, als er bei der ersten Lektüre von Voelkers Roman den Namen von Bieglers Freund las. Der Mann heißt Parnell Emmett Joseph McCarthy. Mit der Hatz auf (echte oder vermeintliche) Kommunisten hat das Buch höchstens sehr indirekt zu tun, und Voelker interessierte sich mehr für das Forellenangeln als für Hollywood. Vermutlich war es als Scherz für Insider gemeint, dass der Anwalt so heißt wie jener Senator aus Wisconsin, der einer unseligen Periode in der US-Geschichte den Namen gab. Die Marquette University in Milwaukee, an der Joseph McCarthy Jura studiert hatte, bevor er als Kommunistenjäger und Held der Paranoiker Politkarriere machte, ist nach demselben französischen Jesuiten benannt wie Marquette County, wo Voelker sein Amt als Staatsanwalt verloren hatte, als er den im fiktiven Iron Cliffs County angesiedelten Roman schrieb.

Die beiden anderen Vornamen dürften Zufall gewesen sein. Das ändert nichts daran, dass es einen Emmet Lavery gab (mit einem t), der, obwohl ein Kommunistenhasser, 1946 vom Hollywood Reporter als einer der "roten Kommissare" der Filmindustrie identifiziert wurde und 1947 in seiner Eigenschaft als Präsident der Screen Writers Guild vor dem Kongressausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Aktivitäten aussagte, was ihm von vielen als Kollaboration angekreidet wurde, auch wenn er den unterstellten Einfluss Moskaus auf Hollywood bestritt und Leute wie Dalton Trumbo in Schutz nahm. Preminger kannte Lavery gut, weil er der Autor des Drehbuchs zu seinem Film The Court-Martial of Billy Mitchell (1955) war. Der Vorsitzende, dem Lavery 1947 Rede und Antwort stand, hieß J. Parnell Thomas, war Börsenmakler und Abgeordneter der Republikaner im Repräsentantenhaus. Parnell Thomas war maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich der 1938 eingerichtete Ausschuss der kommunistischen Unterwanderung Hollywoods widmete - als Reaktion auf die dort ausgetragenen Arbeitskämpfe zwischen den Gewerkschaften und der Produzentenvereinigung. Nach einem Korruptionsskandal zu 18 Monaten verurteilt, fand er sich im selben Gefängnis wieder, in dem die Drehbuchautoren Lester Cole und Ring Lardner Jr. ihre Haftstrafen absaßen, zwei der von ihm einst vorgeladenen Hollywood Ten.

Amerikaner mit Bindestrich

Im Roman eines Juristen aus Michigan fiel ein Name wie Parnell Emmett Joseph McCarthy vielleicht nicht weiter auf. Im Kino war das anders. Da lädt er sich mit einer Bedeutung auf, die Voelker vermutlich nie so intendiert hatte (wobei: ganz sicher bin ich mir da nicht). Um nicht zu demonstrativ zu werden ließ Preminger wenigstens den Joseph weg. Arthur O’Connell als Parnell Emmett McCarthy ist James Stewart ein kongenialer Partner in diesem Film, in dem es so sehr auf Rhythmus, Timing und das Zusammenspiel der Akteure ankommt. Mit O’Connells Hilfe (und der für ihn als Regisseur typischen Hinterlist) macht Preminger aus der Figur den Repräsentanten der Utopie. Der von FBI-Chef Hoover mit Lügen und Halbwahrheiten gefütterte Joseph McCarthy, ein gelernter Anwalt, blies zur Jagd auf die auf dubiosen Listen stehenden Staatsfeinde und starb 1957 an den Folgen seines Alkoholkonsums. Parnell McCarthy, eine Art positive Wiedergeburt des mit Rufmord arbeitenden Demagogen aus Wisconsin, hört mit dem Trinken auf, als er die Chance erhält, auf Seiten der Verteidigung in einem großen Mordprozess mitzuwirken und dem Rechtsstaat zum Sieg zu verhelfen. Thematisiert wird das mit dem für Preminger typischen Understatement und - auch typisch - einem Verstoß gegen die guten Sitten. Statt hochmoralischem Gerede über die Läuterung eines Alkoholikers hört man einen Rülpser Parnells, der seinen Durst jetzt mit Erdbeerlimonade löscht.

Bei Voelker gibt es einen Exkurs darüber, dass McCarthy ein irischer Name ist und Iron Cliffs County ein Bezirk mit einem bunten Völkergemisch. Der Hinweis auf die Herkunft eines Menschen und seiner Vorfahren sei dort nie beleidigend gemeint, die Bürger seien vielmehr stolz darauf, "hyphenated Americans" zu sein, also Amerikaner mit einem Bindestrich wie in irisch-amerikanisch, italo-amerikanisch oder afro-amerikanisch (den McCarthyisten waren hyphenated Americans automatisch verdächtig, die Agenten einer fremden Macht zu sein). Der aus Wien zugezogene und als Deutsch-Amerikaner wahrgenommene Otto Preminger war ein zu subtiler Filmemacher, um Voelkers Text im Dialog zu wiederholen. Bei ihm geht das so:

Paul Biegler, der Anwalt mit dem deutschen Namen, spielt am Anfang des Films die Musik der Afroamerikaner, raucht italienische Zigarren und trinkt Südstaaten-Bourbon mit seinem irischen Freund McCarthy, dem vorher, in der Kneipe, von einem Bartender namens Toivo eingeschenkt wurde. Toivos Kollege in der Bar von Barney Quill heißt Alphonse Paquette (auf der Upper Peninsula gibt es viele Nachkommen finnischer, irischer und französischer bzw. frankokanadischer Einwanderer). Um nicht zu eurozentrisch zu werden hängt neben Bieglers Kühlschrank das Bild einer Geisha. Zusammengehalten und geschützt wird diese multikulturelle Gesellschaft nicht durch das Erstellen von Feindeslisten, Gesinnungsschnüffelei und Geheimorganisationen, sondern durch die Regeln des Rechtsstaats. Deshalb sind Bieglers Regale vollgestopft mit juristischen Büchern, in denen Legenden der amerikanischen Rechtssprechung wie Oliver Wendell Holmes ihre Ansichten zu den Gesetzen und zur Verfassung darlegen. Die Bücher dienen als Erinnerung daran, dass viele Vorfahren der heutigen Amerikaner aus wirtschaftlichen Gründen in die USA auswanderten, aber auch, weil sie in einer freien demokratischen Gesellschaft mit Rechtsschutz für ihre Bürger leben wollten.

Anatomy of a Murder

Einmal, am Sonntag, sehen wir dem Vorsitzenden Richter im Prozess, Judge Weaver, dabei zu, wie er nach dem Besuch der Heiligen Messe ins Justizgebäude geht, begleitet von der leicht sakral anmutenden Musik Duke Ellingtons. Weaver hört Geräusche in der Bibliothek, öffnet vorsichtig die Tür und beobachtet mit wohlgefälligem Lächeln die beiden Verteidiger, die in alten, schön gebundenen Büchern nach Präzedenzfällen suchen wie andere im Wald nach Trüffeln. Preminger gelingt es gut, einem die Leidenschaft für die Rechtssprechung nahezubringen, die Biegler, McCarthy und auch den Richter erfüllt. Anatomy of a Murder ist ein Film für Connaisseure der Jurisprudenz. Laien wie mich muss das überhaupt nicht abschrecken. Trotz der Darlegung juristischer Finessen braucht man kein Vorwissen. Preminger lässt die Anwälte nicht ausführlich debattieren, um den Zuschauer ohne juristische Vorbildung einzuschüchtern, sondern um das ordentliche Gerichtsverfahren, auf das sich die Gesellschaft geeinigt hat, als den Pfeiler der Demokratie zu zelebrieren.

Anatomy of a Murder

So etwas könnte man in Leitartikelform abhandeln, im Stil der Predigt und im langen Heldenmonolog. Im Gerichtsfilm sehr beliebt sind die Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung, weil sie sich so gut für den hohen Ton der Moral eignen, den einer wie Obama sehr gekonnt über die Rampe bringt, wenn er vom Teleprompter abliest. Preminger lässt die Plädoyers einfach weg. Er zeigt, wie das System funktioniert, um zu einem für ihn selbstverständlichen Ergebnis zu kommen: das rechtsstaatliche Verfahren ist in einer Demokratie unverzichtbar - unabhängig davon, wer gerade der Feind ist, den man bekämpft. Wer das verstanden hat und sich daran hält, braucht keine Sonntagsreden mehr. Da Preminger die Prinzipien des Rechtsstaats als solche respektiert, statt an ihnen herumzuschrauben, wenn sie lästig sind, muss er keine Girlanden aus der Requisite holen, um sie auszuschmücken. Wenn man etwas grundsätzlich akzeptiert, weil es keine Alternative gibt, kann man auch die Schwächen des Systems zeigen. Obwohl der Gerichtssaal in Anatomy of a Murder ein beinahe sakraler Raum ist (was nicht heißt, dass sich die handelnden Personen dort betragen würden wie in der Kirche): Verklärung und Überhöhung sind Premingers Sache nicht.

Der amerikanische Traum

Was in der Populärkultur aus Eisenhowers Ideal von der Herrschaft des Gesetzes wurde, ist in der TV-Serie Perry Mason zu besichtigen, die 1957 auf Sendung ging und bis heute das Vorbild für die Anwaltsserien abgibt, mit denen das ZDF sein Seniorenpublikum in den Schlaf wiegt. Das Handlungsmuster ist immer dasselbe. Raymond Burr spielt den Anwalt, der die Verteidigung eines unschuldigen Mandanten übernimmt, um mit Hilfe einer patenten Sekretärin und eines Privatdetektivs den wahren Täter zu ermitteln und diesen im Gerichtssaal zu präsentieren, vorzugsweise verknüpft mit einer Rückblende, damit der Zuschauer sehen kann, wie es wirklich gewesen ist. Das ist wunderbar beruhigend, weil man sich keinen unangenehmen Überlegungen stellen muss. Beunruhigend allerdings ist die Prämisse dieser endlos durchexerzierten Formel. Der Angeklagte erhält die bestmögliche Verteidigung. Die (unausgesprochene) Vorraussetzung dafür ist, dass er den Mord nicht begangen hat. Wer verteidigt eigentlich die Täter? Perry Mason ist es nicht.

Anatomy of a Murder

Preminger macht es sich nicht so leicht. Die Suche nach dem Täter erübrigt sich, weil Manion Barney Quill vor Zeugen erschossen hat und dies auch nicht bestreitet. Wer von Anatomy of a Murder etwas in der Art von Perry Mason erwartet wird enttäuscht. Das ist schon daran erkennbar, dass mit Parnell McCarthy ein zweiter Anwalt an die Stelle des Detektivs tritt (Parnell landet prompt im Graben, als er für detektivische Ermittlungen nach Kanada fährt), und auch am von Saul Bass gestalteten Vorspann. Bass, mit dem Preminger seit The Moon is Blue zusammenarbeitete, erinnerte sich vielleicht an früher, als Raymond Burr noch der Bösewicht vom Dienst war und bei Hitchcock, als Hofnachbar von Jimmy Stewart, seine Gattin zersägte (Rear Window). Der Vorspann konzentriert sich auf den abstrahierten Körper eines Toten und auf die Summe seiner Teile, die nie ein Ganzes ergeben werden oder vielleicht auch mehr als das. Bass ordnet Kopf, Rumpf und Gliedmaßen mal so und mal anders an, am Ende des Vorspanns erscheint der Name von Otto Preminger vor schwarzem Hintergrund, dann fährt Biegler in seinem Pontiac durch die Nacht. Wer nach dieser Einführung mit einem Film rechnet, der Licht ins Dunkel bringt, ist selber schuld.

Anatomy of a Murder

Die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit, schwören die Zeugen im Prozess, und doch kennen sie nur einen kleinen Ausschnitt von der Wirklichkeit, gefiltert durch ihr jeweiliges Bewusstsein. So wie Bass die Leiche, seziert Preminger den Prozess und die Gesellschaft, in der er stattfindet. Und so, wie man den erschossenen Barney Quill nicht mehr lebendig machen kann, wird es auch nicht gelingen, den "Körper" der Wahrheit so zusammenzufügen, dass mehr daraus wird als eine ungefähre Vorstellung von dem, was gewesen ist. Es wird keine "objektive" Rückblende mit der Tat geben, wir werden nie mit Sicherheit erfahren, ob Quill Laura Manion tatsächlich vergewaltigt hat und was im Kopf von Lauras Mann vorging, als er Quill tötete. Dramaturgisch ist das schon im Roman von Voelker sehr geschickt, Preminger und sein Drehbuchautor Mayes haben es noch zugespitzt. Wenn man den Täter kennt und "die Wahrheit und die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit" schlicht nicht zu ermitteln ist (falls es sie gibt), dann steht automatisch das gegen Manion angestrengte Verfahren im Mittelpunkt des Interesses. Erhält Lieutenant Manion einen fairen, die gesellschaftlich festgelegten Regeln befolgenden Prozess und die bestmögliche Verteidigung, und zwar unabhängig davon, ob er ein Mörder ist oder nicht? Gilt der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten?

Das klassische Hollywoodkino ist von der Zahl 3 dominiert. Filme sind meistens in drei Akten organisiert. Drehbuchautoren und Regisseure sind dazu angehalten, für wichtig erachtete Informationen dreimal zu vergeben, damit auch die Begriffsstutzigen im Publikum mitbekommen, was sie mitbekommen sollen. Oft wirkungsvoller als die Dialoge, weil unbewusst wahrgenommen, sind die Raumaufteilung und die Montage. Ob eine Schuss-Gegenschuss-Konstruktion (1 und 2) zu einer Zweiereinstellung (3) führt oder nicht, sagt viel über die Figuren und deren Beziehung zueinander aus. Preminger widmet dem Verhältnis Biegler-Manion drei Szenen. Die erste Begegnung, im Büro des Sheriffs, findet in Form einer Konfrontation statt. Ben Gazzara als Frederick "Manny" Manion ist der angry young man der 1950er: arrogant, aufsässig, mit dem etwas exaltierten Schauspielstil des Actors’ Studio (die Zigarettenspitze in seiner Hand akzentuiert und ironisiert den Manierismus seiner Gesten). Stewart als der Vertreter der älteren Generation raucht - gar nicht glamourös - sein "italienisches Stinkkraut", kommt mit einem Minimum an Bewegung aus, artikuliert sich durch Bedächtigkeit und perfekt gesetzte Pausen.

Anatomy of a Murder

Stewart (Biegler) sitzt vor einem vergitterten Fenster, weil er der Mann ist, der Gazzara (Manion) den Weg in die Freiheit weisen kann, oder auch nicht. Im Gegenschuss sehen wir Manion vor einer fensterlosen Wand, an der die Steckbriefe der zehn meistgesuchten Verbrecher hängen. "Die großen Zehn", sagt Manion sarkastisch. "Es gibt die zehn am besten angezogenen Frauen, die zehn besten Mannschaften, die zehn besten Schlagermelodien, und jetzt die zehn Meistgesuchten." Und die zehn unamerikanischsten Amerikaner, könnte man ergänzen, obwohl sich 1959 nur noch wenige an die Hollywood Ten erinnert haben dürften (was Preminger im Januar 1960 nachhaltig ändern würde). "Das ist doch was", antwortet Biegler, der mindestens so sarkastisch sein kann wie Manion. "Das ist der amerikanische Traum. Diese Jungs haben es geschafft." Manion findet das nicht lustig. Quill, meint er, habe seine Frau vergewaltigt, darum sei das "ungeschriebene Gesetz" auf seiner Seite.

"Das ungeschriebene Gesetz ist ein Mythos, Lieutenant", gibt der bis dahin etwas spöttische und nun sehr ernst werdende Biegler zurück. "So etwas wie das ungeschriebene Gesetz gibt es nicht, und jeder, der einen Mord begeht, weil er der Theorie anhängt, dass es doch existiert, hat sich damit die Unterbringung im Staatsgefängnis gekauft." Der Dialog hat zwei Stoßrichtungen. Bei der Urteilsfindung darf nur das geschriebene Gesetz gelten, nicht das Gesetz der Straße und das gesunde Volksempfinden, darum sehen wir immer wieder Bücher mit den Gesetzestexten und den zugehörigen Kommentaren der Rechtsgelehrten (im Kalten Krieg galt das geschriebene Gesetz plötzlich nicht mehr: die Hollywood Ten wurden im Gefängnis untergebracht, weil der Supreme Court die eigenen Entscheidungen ignorierte). Adressiert ist das an uns, das Publikum. Außerdem versucht Biegler, die gelangweilte Selbstgewissheit seines zukünftigen Mandanten zu untergraben. Wir wohnen einem Machtkampf zwischen dem Liebhaber der Rechtssprechung und dem das Gesetz in die eigenen Hände nehmenden Soldaten bei.

Vorsprechen beim Verteidiger

Preminger ist bemüht, das Gespräch so zu inszenieren, dass Biegler und Manion nicht im selben Bild zu sehen sind. Am Anfang und am Ende der Szene, wo es sich nicht vermeiden lässt, teilen sie sich die Einstellung mit Laura bzw. mit dem Gefängniswärter. In der nächsten Szene ist das Verhältnis ein Stück weit fortgeschritten. Schuss-Gegenschuss-Montagen wechseln sich mit Zweiereinstellungen ab. Biegler nimmt den Platz vor den Steckbriefen ein, als gelte es, den Manion zur Verfügung stehenden Raum weiter einzuschränken. An der Wand hinter Manion hängen Plakate für die Führerscheinprüfung, eines mit Verkehrszeichen und eines mit den Buchstaben für den Sehtest. Aus dem arroganten und feindseligen Manion ist ein verunsicherter Prüfling geworden. Im Dialog wird es nun um das Sehen (auch im Sinne von Verstehen) gehen, um die Frage, wie man die Sichtweise der Geschworenen so beeinflussen kann, dass sie auf Freispruch entscheiden. Bei einer Mordanklage, sagt Biegler, gebe es vier mögliche Verteidigungsstrategien: Es war kein Mord, sondern ein Unfall oder Suizid; der Angeklagte hat es nicht getan (die Perry-Mason-Variante); die Tat geschah im Rahmen der Gesetze, zum Beispiel wegen Selbstverteidigung; die Tat war entschuldbar. In Manions Fall käme nur Strategie 4 in Betracht.

Anatomy of a Murder

Auch wir werden in dieser Szene einem Sehtest unterzogen. Dabei wird deutlich, dass sich hinter der Fassade des einfachen Mannes vom Lande ein ziemlich gewiefter Anwalt verbirgt - kein Rechtsverdreher, sondern ein Virtuose im Umgang mit den Gesetzen. Der Berufssoldat Manion hat für sein Land in Korea gekämpft und den (mutmaßlichen) Vergewaltiger seiner Frau erschossen. Damit, so Bieglers Überlegung, ist er den Geschworenen von vornherein sympathisch. Jetzt muss noch etwas her, das die Tat im Sinne des Gesetzes entschuldbar macht oder, anders formuliert, den Geschworenen eine Entschuldigung dafür liefert, den Angeklagten freizusprechen. So erklärt Biegler Lieutenant Manion den Sachverhalt. Da es aber um die Wahrheit und um nichts als die Wahrheit geht und ein Anwalt seinem Mandanten keine Lügen einimpfen darf, die er vor Gericht erzählen soll, kann Biegler Manion nicht direkt sagen, worauf er sich berufen sollte.

Wie Stewart als Anwalt Biegler nun Manion durch Andeutungen, mimischen Minimalismus und beredte Pausen zu der Stelle führt, wo er ihn haben will, das ist große Schauspielkunst (nicht zu verwechseln mit dem Exhibitionismus, mit dem man Oscars gewinnt). Manion steht am vergitterten Fenster und schaut hinaus in die Freiheit, die er am Ende des Prozesses wiedergewonnen oder für sehr lange Zeit verloren haben wird, als er sich das Hirn zermartert wie ein Schüler, der die richtige Antwort auf die Frage des Lehrers sucht. Zuerst probiert er es mit blinder Wut über die Vergewaltigung. Keine vom Gesetzgeber akzeptierte Entschuldigung, sagt Biegler. Ich war verrückt, bietet Manion fragend an, wie wahnsinnig? Das ist schon wärmer. Biegler verlässt ihn mit der Hausaufgabe, sich zu erinnern, wie wahnsinnig er genau war, als er Barney Quill erschoss.

Anatomy of a Murder

Szene 3 findet in der (erzwungenen) Intimität von Manions Zelle statt. Zunächst überragt Biegler den Lieutenant, weil er die Oberhand gewonnen hat. Manion kann sich inzwischen daran erinnern, dass er sich eigentlich an nichts erinnern kann. Er habe die Schüsse gehört, doch es sei gewesen, als habe ein anderer abgedrückt, und nicht er selbst. Fujiwara schreibt, dass Preminger das wie ein Vorsprechen inszeniert hat. Manion gibt seine Version von der Tat wieder. Biegler beurteilt, ob er die Rolle des Mannes mit den Erinnerungslücken glaubwürdig verkörpern kann. Am Ende von Manions Vorsprechen setzt er sich in einer Zweiereinstellung neben ihn und übernimmt den Fall, weil er Chancen für eine erfolgreiche Darbietung sieht. Beim Prozess werden Biegler und der Staatsanwalt wie zwei Regisseure auftreten, die um die richtige Inszenierung ringen. In Bieglers Interpretation des zur Aufführung gebrachten Stücks fällt Manion die Rolle des Angeklagten zu, der freigesprochen wird.

A humble country lawyer

Für eine erfolgreiche Inszenierung muss noch die Rolle des Experten besetzt werden. Das ist ein Problem, weil die Verteidigung kein Geld hat. Umsonst ist nur der Psychiater der Armee. Manion reist zur Untersuchung in eine andere Stadt, weil sie ein Schritt in die Freiheit ist. Wieder zurück, wird er am Bahnhof von Iron City von seinen Verteidigern erwartet. Der Psychiater, sagt Manion, hat herausgefunden, dass er unter dem Einfluss eines "unwiderstehlichen Impulses" handelte, als er Quill erschoss. Interessanterweise werden wir nie erfahren, wie der Experte zu diesem Ergebnis gelangte. Wichtiger ist sein Name: Dr. Smith. Hoffentlich heißt er Ludwig Smith, meint Parnell selbstironisch, oder besser noch: Ludwig von Smith. Dummerweise heißt er Matthew. Ein Ludwig von Schmidt würde glaubwürdiger auf die Juroren wirken, weil die Psychiater im Hollywoodfilm oft deutsche oder österreichische Namen und den dazu passenden Akzent haben (siehe dazu Dr. Max J. Eggelhoffer in His Girl Friday und Dr. Fritz Lehmans Ausführungen zum Liebesimpuls in Bringing Up Baby). Parnell wird noch mehr Grund zur Enttäuschung haben, wenn er Dr. Smith vom Bahnhof abholt. Der Psychiater in Zivil (eine Uniform wäre besser) ist erst 40 Jahre alt und sieht sogar jünger aus, trägt weder Bart noch Monokel wie von Parnell erhofft, hat aber wenigstens eine Hornbrille mitgebracht. Dr. Smith hat im Gegensatz zum Experten der Anklage tatsächlich mit Manion gesprochen. Dafür entspricht der von der Staatsanwaltschaft zugezogene Dr. W. Gregory Harcourt viel mehr der allgemeinen Vorstellung vom Psychiater (älter, Halbglatze, Brille, Schnauzbart, distinguiert und autoritär wirkend). That’s showbiz.

Anatomy of a Murder

Dr. Smith erläutert im Zeugenstand, was eine "dissoziative Reaktion" ist und zeigt sich überzeugt davon, dass Lieutenant Manion die Tat im Zustand temporärer Unzurechnungsfähigkeit beging. Preminger inszeniert die Aussage so ähnlich wie Hitchcock den Auftritt des Psychiaters in Psycho: er lässt ihn reden. Anwalt Biegler findet die Befragung seines Zeugen durch den Staatsanwalt so spannend, dass er sich lieber mit Maida unterhält, während der Experte sein Fachvokabular zum Besten gibt. "Dissoziative Reaktion" versteht sowieso kaum jemand von den Geschworenen (und im Publikum). Darum kommt es darauf an, die Aussage des Sachverständigen auf einen griffigen Nenner zu bringen. Das hat Bieglers eigene Befragung längst geleistet. Manion, so Dr. Smith, konnte gar nicht anders, als Barney Quill erschießen, weil er unter Schock und unter dem Einfluss eines "unwiderstehlichen Impulses" stand.

"Unwiderstehlicher Impuls": Das ist die rechtliche Entschuldigung, die Biegler den Geschworenen offeriert, um Manion freisprechen zu können, wenn sie das wollen. Natürlich ist der irresistible impulse für ein paar Lacher gut. Daraus hätte man eine Farce mit gerissenen Winkeladvokaten machen können (einmal lässt Biegler Lauras Hund ein Kunststück aufführen, was nur dem Zweck dient, die Sympathien der Geschworenen zu gewinnen). Preminger liegt nichts ferner als das. Das Recht ist nicht in Stein gemeißelt wie die Zehn Gebote, sondern flexibel. Biegler testet diese Flexibilität im Interesse seines Mandanten aus, hat auch erkennbar seine Freude daran, bleibt dabei jedoch stets im Rahmen der bestehenden Gesetze und ihrer Auslegung. Das ist entscheidend. Darum beruft sich die Verteidigung erst auf den unwiderstehlichen Impuls, nachdem Polly und Parnell in den Folianten der Gerichtsbibliothek einen Präzedenzfall gefunden haben, wo der Supreme Court von Michigan dies ausdrücklich zuließ. Am Ende siegt nicht die Partei, die das Recht am geschicktesten verdreht, sondern diejenige, die es am besten kennt.

Anatomy of a Murder

Das amerikanische Recht betont - ganz im Sinne der Filmdramaturgie - die Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung, weil die Staatsanwaltschaft in viel geringerem Maße als bei uns dazu verpflichtet ist, auch entlastendes Material zu würdigen und ergebnisoffen zu ermitteln. Preminger spitzt den Zweikampf noch zu, indem er ihn mit dem Stadt-Land-Konflikt verbindet. Zur Unterstützung seines unbedarften Kollegen Lodwick ist Staatsanwalt Claude Dancer aus Lansing angereist, der Hauptstadt von Michigan. Über die Plädoyers der beiden Kontrahenten werden wir nur erfahren, dass der mit städtisch polierter Cleverness auftretende Dancer brillant war und Biegler sich als einfacher und bescheidener Anwalt vom Lande inszeniert hat wie schon während der Beweisaufnahme. "I loved that humble country lawyer bit", sagt Parnell beim Warten auf den Spruch der Geschworenen vergnügt. "You had Mr. Dancer dancing." Tatsächlich ist die gesamte Verhandlung hoch musikalisch, folgt sie einer fast tänzerisch zu nennenden Choreographie, umrahmt vom Score Duke Ellingtons.

Mr. Smith Goes to Washington

Indem Preminger das Theatralische und den Inszenierungscharakter des Verfahrens betont, zieht er Parallelen zwischen Bühne, Film und Gerichtssaal. Das eine kommentiert das andere. Einen Vorgeschmack erhalten wir in den drei Biegler-Manion-Szenen im Gefängnis. Wie nebenbei wird dort vorgeführt, dass auch der scheinbar so bodenständige, die Werte eines unschuldigen und ländlich geprägten Amerikas repräsentierende Publikumsliebling "Jimmy Stewart" eine höchst artifizielle und intellektuell anspruchsvolle Rolle ist, die sich der Schauspieler James Stewart angeeignet hat, als wäre er mit ihr identisch. Stilbildend war sein Auftritt in Frank Capras Mr. Smith Goes to Washington, wo er sich als der Idealist vom Lande über die korrupte Politikerkaste in der Stadt empört. Preminger war nicht der Mann für einfache Wahrheiten und kein Populist wie Capra. Wenn Biegler sich im Gerichtssaal über die schändlichen Manöver der Gegenseite beklagt wie einst Mr. Smith im Senat, dann weiß man nie genau, ob die Empörung echt ist oder nur gespielt. Der kluge Stewart, dem natürlich bewusst war, dass hier seine Leinwand-Persona entmystifiziert wird, macht bereitwillig dabei mit, begegnet seiner Rolle und seinem Image mit einer fast brechtianischen Distanz. Das ehrt ihn. Der Oscar ging an Charlton Hestons Unterkiefer in Ben Hur.

Anatomie eines Frauenkörpers

Vor Szene 3 schiebt Preminger ein längeres Gespräch Bieglers mit Laura Manion ein. Im Roman ist Laura jünger als ihr Mann. Ursprünglich war die knapp 40-jährige und skandalerprobte Lana Turner für die Rolle eingeplant. Mit ihr wäre das ein vielleicht genauso guter, aber ein ganz anderer Film geworden. Das scheiterte daran, dass Laura sich zwar sexy anziehen, als Gattin eines chronisch abgebrannten Soldaten ihre Kleidung jedoch von der Stange kaufen sollte. Turner fand das unpassend, ließ die Anprobe platzen und wollte eine ihrer maßgeschneiderten Glamour-Garderoben in Auftrag geben. Preminger soll einen seiner berüchtigten Wutanfälle bekommen und den Star am Telefon wüst beschimpft haben. Jedenfalls wurde der Vertrag gelöst. Darum liegt jetzt Lee Remick auf Polly Bieglers Sofa und nicht Lana Turner, die Ex-Frau von Artie Shaw, Lex Barker und anderen, deren 14-jährige Tochter (in einer Version von der Geschichte) den Teilzeit-Mafioso Johnny Stompanato erstochen hatte.

Ben Gazzaras Lieutenant Manion hat noch einige der Attribute Stompanatos, der Lana verprügelte und bei einer Auseinandersetzung starb, die sich daran entzündete, dass sie ohne ihren Liebhaber zur Oscarverleihung (des Jahres 1958) gegangen war (kurz davor wäre der junge Sean Connery, Turners Partner in Another Time, Another Place, beinahe zum zweiten Barney Quill geworden, als er bei den Dreharbeiten einem rasend eifersüchtigen Stompanato die Pistole entwinden musste). Lana Turner wäre auch als Laura Manion die ewige Diva mit dem Trash-Appeal geblieben. Lee Remick, damals Mitte 20, spielt Laura nicht als die letzte Reinkarnation des mondänen Leinwandvamps vergangener Tage, sondern als Tramp für die heraufziehenden 1960er, als eine Mischung aus Unschuld und kalkuliert eingesetzter Sinnlichkeit und vor allem: ganz modern, als Produkt der Spaß- und Konsumgesellschaft im amerikanischen Hinterland. In Lauras Welt ersetzt der Flipperautomat das Spielcasino, der Wohnwagen die Villa in Beverly Hills, das Bier den Martini.

Anatomy of a Murder

Preminger inszeniert die sich lasziv auf dem Sofa räkelnde Laura so, dass man sich fragt, ob das eine mondäne Femme fatale ist oder eine junge Frau, die so tut als ob, eine von der Unterhaltungsindustrie zur Verfügung gestellte Männerphantasie, ein wandelndes Zitat. Dadurch wird auch aus Laura Manion eine Figur, die zum distanzierten Beobachten einlädt. Die Wahrheit, sagt der Film nicht nur in dieser Szene, liegt im Auge des Betrachters. Symbol der Ambiguität ist Lauras Sonnenbrille. Verbirgt sich hinter den dunklen Gläsern ein Vamp, eine verprügelte Frau, etwas von beidem? Und wie wäre das zu bewerten? Als Sympathisant des Zensors Joe Breen und der Moralapostel von der Legion of Decency könnte man sich denken, dass Laura eine Schlampe ist, weil sie raucht und in Bieglers Kanzlei lieber Bier trinkt als Wasser. Aber dann bittet sie auch für ihren kleinen Hund um eine Schale Bier. Ist die Lady wirklich ein Tramp oder doch nur das Kind, das eine Rolle spielt?

Anatomy of a Murder

Selbstverständlich darf der Anwalt der Gattin seines Mandanten Feuer geben. Im von Breen reglementierten Hollywood war das die übliche Praxis, um eine sexuelle Komponente anzudeuten, deren Thematisierung der Production Code verbot. In einem Film, der die Regeln des Codes ignoriert, ist auch das ein Zitat. Preminger kontrastiert das Bild mit dem Dialog, das offensiv zur Schau gestellte Lustobjekt auf Pollys Sofa mit den hässlichen Details einer Vergewaltigung. Laura erzählt, dass Barney Quill sie als Army-Schlampe beschimpft, auf sie eingeprügelt, ihr die Unterhose vom Leib gerissen und sich an ihr vergangen hat. Inzwischen hat sie die Sonnenbrille abgenommen und wir sehen den Bluterguss an ihrem Auge. In diesem Moment zumindest ist sie die geprügelte Frau und nicht die Schlampe. Weil aber eine Ambiguität die andere ablöst wissen wir da schon, dass bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung keine Samenspuren in Lauras Körper entdeckt wurden. Hat also der eifersüchtige Gatte Laura das Veilchen beigebracht, wegen eines Techtelmechtels mit Barney Quill? Oder war es doch der mutmaßliche Vergewaltiger? Preminger wird darauf nie eine eindeutige Antwort geben, weil genau das sein Thema ist: Unser Konzept von der Wahrheit ist fragil. Umso wichtiger wird das Einhalten rechtsstaatlicher Prinzipien.

Lüstern mit Vorsatz

In Anatomy of a Murder werden Dinge verhandelt, die für einen amerikanischen Film des Jahres 1959 unerhört sind. Im Prozess erfährt man, dass nach den Gesetzen des Staates Michigan eine Vergewaltigung vorliegt, wenn eine Penetration stattgefunden hat, mit Samenerguss oder ohne. Um die Freigabe durch die PCA zu erhalten, war Preminger Breens Nachfolger Geoffrey Shurlock gegenüber zu kleineren Zugeständnissen bereit. Das Wort "penetration" wurde durch "violation" ersetzt, obwohl der Autor der Romanvorlage dagegen Einspruch erhob; Voelker, inzwischen Richter am Supreme Court, verstand nicht, warum das in den Gesetzen von Michigan und anderen Bundesstaaten verwendete Wort in einem Film verboten sein sollte. Einmal fragt Biegler Lieutenant Manion, ob Laura schwanger ist. "Not unless Quill knocked her up", antwortet Manion im Drehbuch ("knock up" ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für "schwängern"). Auf Verlangen Shurlocks wurde das in "Not unless Quill started something" abgeändert. Lauras Satz "Ich weiß, dass er mir das Höschen heruntergerissen hat - und tat, was er wollte" blieb erhalten, obwohl Shurlock vehement dagegen war.

Preminger macht interessante Dinge mit Lauras Unterwäsche. Bei der mutmaßlichen Vergewaltigung, erfahren wir, trug sie Unterrock, Höschen und BH unter dem Rock und dem Pullover, aber keinen "Hüftgürtel", wie es in der deutschen Synchronfassung heißt. Gemeint ist wohl eher eine wenig erotische Miederhose, falls das der richtige Ausdruck ist. Biegler findet Laura attraktiv und verlangt, dass sie beim Prozess als braves Hausmütterchen auftritt und ein solches Wäschestück trägt (Experten für konservative 50er-Jahre-Unterwäsche achten bitte auf die Szene vor der Urteilsverkündung, in der Laura das Ding, das sie nun nicht mehr braucht, Biegler als Andenken schenkt). Laura in einem ihrer sexy Outfits könnte einen schlechten Eindruck auf die Geschworenen machen, die dann womöglich Partei für Barney Quill ergreifen würden. Dahinter steckt der Gedanke, dass Frauen in einer misogynen Gesellschaft gern die Mitschuld an einer Vergewaltigung gegeben wird, wenn sie sich "unzüchtig" kleiden. Claude Dancer, der Staatsanwalt, versucht auch prompt, das für sich auszunutzen und erreicht, dass Laura die von Biegler verordnete Lesebrille abnimmt sowie den Hut, unter dem sie ihr langes Haar verbirgt.

Anatomy of a Murder

Preminger kontrastiert das mit der Zeugenaussage von Alphonse Pacquette, Quills Barkeeper. Dancer führt Pacquette bei der Befragung an einen Punkt, wo dieser zustimmt, dass Laura Manion sich beim Flippern im Thunder Bay Inn absichtlich als sehr sinnliche Frau präsentiert habe ("deliberately voluptuous" - mit Vorsatz lüstern), um die Männer dort aufzugeilen. Biegler arbeitet im Kreuzverhör heraus, dass nur Quill und Pacquette sie gierig anstarrten, während sich die Gäste mit sich selbst beschäftigten, statt den Blick nicht mehr von der Frau am Flipperautomat abwenden zu können. Das Bild von Laura Manion, heißt das, formt sich im Auge des Betrachters. Sie ist eine Projektionsfläche für männliche Wünsche und Ängste. Wer sie anschaut, sieht sich in ihren Brillengläsern selbst. Und weil wir alle vorgefertigte Meinungen über andere Leute mit uns herumtragen kommt es wesentlich darauf an, wer wann was sagt oder sieht, welche Bedeutung einem Wort oder einem Bild beizumessen ist.

Eine von vielen Szenen, die man als Beispiel nennen könnte, ist die Befragung von Detective Sergeant Durgo, der als Zeuge der Anklage von der Festnahme Lieutenant Manions berichtet. Manion, sagt Durgo, habe ihm gegenüber erklärt, Barney Quill niedergeschossen zu haben, nachdem ihm seine Frau von ihrem Ärger ("some trouble") mit Quill erzählt habe. Biegler will im Kreuzverhör wissen, ob das die von Manion benutzten Worte gewesen seien - "some trouble" -, oder ob jemand dem Polizisten vorgeschlagen habe, es so zu formulieren. Der Polizist gibt zu, dass es die Formulierung einer im Gerichtssaal anwesenden Person sei. Manion habe von der Vergewaltigung seiner Frau gesprochen, nicht von irgendeinem Ärger. Das verpönte Wort "Vergewaltigung" (das englische rape lässt sich aussprechen wie Peitschenknall) wird mehrfach wiederholt, weil Preminger sich über die Zensoren ärgerte, die Filmemacher seit Jahrzehnten zwangen, unschöne Sachverhalte hinter der Beschwichtigung dienenden Euphemismen zu verstecken. Der Regisseur verknüpft das mit einer seiner wirkungsvollen Kontrastierungen. Laura enthüllt ihr langes Haar und ihre Attraktivität, und Biegler enthüllt, was Barney Quill ihr (mutmaßlicherweise) angetan hat. Damit ist aus der Schlampe, die in die Kneipe geht, um Männer anzumachen, die schöne Frau geworden, die von Quill vergewaltigt wurde. Es kommt eben auf den Standpunkt an.

Reizwäsche aus Phoenix, Arizona

Hitchcock (siehe Psycho und The Birds) und Preminger drehten in diesen Jahren die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verwischende Trailer, in denen sie selbst auftraten und in denen Hinweise darauf enthalten sind, wie sie den beworbenen Film gedeutet haben wollten. Der Trailer zu Anatomy of a Murder entstand im Gerichtssaal von Marquette. Die Hauptdarsteller geloben dem Regisseur und Produzenten, die bestmögliche Leistung abgeliefert zu haben. Plötzlich protestiert John D. Voelker, Autor der Romanvorlage und juristischer Berater, dass das alles höchst irregulär sei, weil man die Geschworenen vergessen habe. Preminger nimmt ihn in den Arm, zeigt auf die Kamera und erklärt optimistisch, dass es die Millionen von Kinogehern seien, die hier das Urteil fällen. Im Film sitzen zwölf Frauen und Männer auf der Geschworenenbank, aber dafür fehlen die Schlussplädoyers, in denen Anklage und Verteidigung ihre Version von den Ereignissen resümieren. Es bleibt dem Publikum überlassen, aus dem, was es gehört und gesehen hat, eine Geschichte zu konstruieren. Eine gedankliche Eigenleistung ist gefragt, nicht passives Konsumieren. Das findet auch in der Inszenierung seinen Niederschlag.

Trailer "Anatomy of a Murder"

Preminger hat eine Vorliebe für lange, ungeschnittene Einstellungen. Das hat damit zu tun, dass er vom Theater zum Kino kam, mehr aber mit seiner Haltung dem Film und seinem Publikum gegenüber. Statt mit Großaufnahmen und analytischen Montagen in die Meinungsbildung des Zuschauers einzugreifen bleibt er mit der Kamera gern auf Distanz, lässt er dem Publikum Zeit zum Hinschauen und Überlegen, damit dieses sich aufgrund der ihm vorgelegten Informationen selbst ein Urteil bilden kann. Bei Durgos Aussage kommt es zu der Auseinandersetzung zwischen Biegler und Staatsanwalt Lodwick über Laura Manions "Ärger" mit Barney Quill. Zwischen den beiden Streithähnen sitzt Staatsanwalt Dancer, und im Hintergrund haben einige als Statisten (und als unsere Stellvertreter) angeheuerte Bewohner der Stadt Marquette Platz genommen, in deren Gerichtsgebäude gedreht wurde.

Es wird nie ausgesprochen, doch am Ende der Einstellung wissen wir, dass Dancer die Person ist, die den Polizisten aufgefordert hat, die Vergewaltigung durch "Ärger" zu ersetzen. Danach, wie als direkte Folge dieser Erkenntnis, erlaubt der Richter der Verteidigung, Durgo nach dem tatsächlich gebrauchten Wort zu befragen. Von da an darf die Vergewaltigung auch offiziell so bezeichnet und in einen Zusammenhang mit Quills Tod gebracht werden, was die Anklage verhindern wollte. Manions Tat erscheint dadurch in einem neuen Licht. Vom Staatsanwalt (oder den Zensoren Hollywoods) hinter den Kulissen verfügte Sprachregelungen, sagt der Film, sind verfälschend und inakzeptabel, weil ein Euphemismus nie dieselbe Bedeutung wie das durch ihn ersetzte Wort haben kann.

Anatomy of a Murder

Umgekehrt kann Sprache selbst zum Instrument einer Vergewaltigung werden. Scott spielt Claude Dancer wie den Wolf in den Cartoons von Tex Avery, ist als Staatsanwalt halb Verführer und halb Aggressor. Beim Kreuzverhör von Laura Manion entspinnt sich zwischen ihm und Biegler ein Streit über die Bedeutung und korrekte Verwendung von Vokabeln wie prowl und huntress. Er entschuldige sich dafür, sagt Dancer, wenn er bei seiner Befragung den Eindruck erweckt habe, dass Laura durch Quills Bar gestreift sei wie eine Jägerin (und will natürlich genau das suggerieren). Dann schiebt er den Kopf nach vorn, als wolle er Laura die Zunge in den Mund stecken wie Barney Quill sein Glied in ihren Unterleib. Für einen amerikanischen Film von 1959 ist das ganz außerordentlich. Die Szene ist sexuell so aufgeladen, dass es sogar obszön wirkt, wenn Dancer einen Schluck Wasser trinkt. Ist das ein Gleitmittel zur Unterstützung der verbalen Vergewaltigung? Wie um die Frage mit Ja zu beantworten, lässt ihn Preminger zum Tisch der Anklage zurücktreten und die Zunge aus dem Mund strecken - in einer Einstellung ohne Laura, damit nicht zu offensichtlich wird, was da passiert. Andernfalls hätten es womöglich noch die Herren von der Production Code Administration mitgekriegt.

Anatomy of a Murder

Inhaltlich geht es um Lauras Unterwäsche. Am Ort der mutmaßlichen Vergewaltigung wurde nur Lauras Brille gefunden, nicht aber die Unterhose, die Quill ihr - in ihrer Version von der Geschichte - vom Leib gerissen haben soll (eine Form der kulturellen Verdrängung, an der Preminger sicher seinen Spaß hatte). Dancer will nun wissen, ob Laura immer ein Höschen trägt und ob sie womöglich gar keines anhatte, als sie zum Flippern in Quills Lokal ging? Und wie sah es aus, das Höschen? Weiß oder vielleicht auch rosa war es, erfahren wir, aus Nylon, an der Seite verziert mit Spitze. Mit einem Etikett des Ladens, in dem Laura das Höschen gekauft hat: des Smart Shop in Phoenix, Arizona. Fast möchte man meinen, dass sich Preminger und Hitchcock - zwei Regisseure, die auf ihre jeweilige Art und Weise an der Aushebelung des Production Codes arbeiteten, seit sie nach Amerika gekommen waren - abgesprochen hatten. Oder sollte es doch ein Zufall gewesen sein, dass Janet Leigh ihren weißen Büstenhalter auf nackter Haut ausgerechnet in Phoenix, Arizona zur Schau stellt? Das ist die Stadt, in die sich Joe Breen, der Papst der amerikanischen Filmzensur, zurückzog, als ihn die schlechte Gesundheit und die neuen Zeiten zur Abdankung zwangen. In amerikanischen TV-Reklamespots für Damenunterwäsche übrigens trugen die Models den BH noch Jahrzehnte später über dem Pullover. Breens Erbe wirkte da lange nach.

Misogynie mit Selbstüberlistung

Gut, könnte man sagen, das Höschen und die Vergewaltigung mussten schon irgendwie erwähnt werden. Aber diese Detailgenauigkeit, die ist nun wirklich übertrieben. Der Film gibt auch darauf eine Antwort. Das ist eine gute Gelegenheit, auf den bösen Witz hinzuweisen, mit dem man in Preminger-Filmen immer rechnen sollte. Am Anfang erzählt Parnell McCarthy seinem Freund Polly Biegler, dass es in Thunder Bay, wo Laura vergewaltigt wurde, einen temporären Armeestützpunkt gibt, der Gunnery (gunnery exercise = Schießübung) heiße oder etwas Ähnliches. Arthur O’Connell spricht das Wort so aus, dass es mehr wie eine Geschlechtskrankheit klingt (gonorrhea = Tripper). Ein auf Emphase trainierter Schauspieler hätte die Gonorrhoe mit einem Ausrufezeichen versehen. Der wunderbare O’Connell, dem hiermit ein Ruhmeskranz gewunden sei, sagt das Wort mit solcher Beiläufigkeit, dass man sich verzögert fragt, ob man ihn richtig verstanden hat. Fortan wird Parnell McCarthy für die Ermittlungen im Bereich des außerehelichen Geschlechtsverkehrs zuständig sein.

Anatomy of a Murder

Quill hatte Mary Pilant als Geschäftsführerin eingestellt. In Thunder Bay glaubt man zu wissen, dass die junge Frau seine Geliebte war. Parnell entdeckt, dass Mary Quills uneheliche Tochter ist. Das sagt eine ganze Menge über den Toten, der sehr bemüht war, seine Maskulinität zu demonstrieren (an der Wand hinter dem Flipperautomaten hängen Photos, die ihn als Jäger, Boxer und Pistolenschützen zeigen). Offensichtlich wollte er lieber der Mann sein, der sich eine viel jüngere Geliebte hält als der Vater einer außerehelich gezeugten Tochter, deren Ruf ihn scheinbar nicht sonderlich interessierte. Mary sitzt im Publikum, als Dancer sich - man kann nur sagen: genussvoll - Lauras verschwundener Unterhose annimmt. Die Erlaubnis des Richters, offen über dieses Höschen zu sprechen, statt es schamhaft zu verschweigen ist die Voraussetzung dafür, dass Mary Pilant begreift, was sie am Tag nach Quills Tod in der Wäsche des Thunder Bay Inn gefunden hat: ein zerrissenes Höschen - weiß, an der Seite spitzenbesetzt und mit dem Etikett des Ladens in Phoenix, Arizona.

Ironischerweise sind es die von Dancer zu Tage geförderten Details, welche die Wirkung des Beweisstücks noch verstärken, als es nun dem Richter und den Geschworenen präsentiert wird. Dancer wollte insinuieren, dass eine Frau, die solche Reizwäsche kauft, zum Sex mit fremden Männern bereit ist (oder, noch misogyner: sich nicht zu wundern braucht, wenn einer der angelockten Verehrer sie vergewaltigt). Jetzt ist das von Mary Pilant mitgebrachte Höschen umso leichter als das von Laura zu identifizieren, weil es so genau beschrieben wurde. Barney Quill, so scheint es, hat Laura in der Tat vergewaltigt, ihr dabei die Unterhose vom Leib gerissen und diese als Trophäe mit nach Hause genommen. Dancer versucht, zu retten, was zu retten ist und stellt der Zeugin eine Frage, ohne sicher zu sein, welche Antwort sie geben wird. Das ist ein schwerer Fehler, weil es hier nicht darum geht, die Wahrheit herauszufinden, sondern vielmehr darum, den Geschworenen eine bessere Geschichte zu erzählen als die Verteidigung. Der Staatsanwalt scheitert an sich selbst, weil er den Gerüchten glaubt, die über Mary Pilant in Umlauf sind. Er will sie zu dem Eingeständnis bringen, dass sie aus verletztem Stolz der betrogenen Geliebten handelt und sich gemeldet hat, um Quill zu schaden. In die Enge getrieben gibt sie zu, dass Barney Quill ihr Vater war. Das ist die entscheidende Wende im Prozess.

Anatomy of a Murder

Preminger hat Respekt dafür verdient, wie er das macht. Erst gibt er Laura Manions Höschen als Objekt für pubertäres Kichern und allerlei Männerphantasien frei. Dann ändert er die Bedeutung des Wäschestücks, indem er es mit Tod und Vergewaltigung verknüpft. Und schließlich lässt er das Bild von der Frau als Schlampe platzen, indem er die Misogynie des Staatsanwalts und seiner Argumentation entlarvt. Wer danach noch denkt, dass Lauras Höschen nur ein billiger Werbegag ist (ein für den Produzenten Preminger ein gewiss nicht unangenehmer Nebeneffekt), hat nichts verstanden. Preminger war ein Spezialist dafür, Dinge in Beziehung zu setzen, die in anderen Filmen schon deshalb Welten trennen, weil einige von ihnen nie benannt oder gar gezeigt worden wären. Dieses sein Verfahren kann man auch beim Kreuzverhör von Lieutenant Manion studieren.

Obszönitäten mit und ohne Spitze

Wieder ist es der Staatsanwalt, und wieder ironischerweise, der Sachen anspricht, die eigentlich kein Zensor hören wollte, und kein Vertreter der Staatsgewalt. Was, so die Frage, ist mit der Psyche von Menschen los, die einen Orden dafür kriegen, dass sie andere Leute töten? Der kluge Dancer weiß genau, was einem darauf erwidert wird und beginnt mit der Versicherung, dass er so patriotisch wie der patriotischste Amerikaner sei. Dann will er von Manion wissen, wie viele Menschen er in Ausübung seines Berufes getötet hat. In Korea mindestens vier, antwortet der Lieutenant, vielleicht mehr. Einen mit seinem Dienstgewehr, drei mit einer Handgranate. Immer diese unappetitlichen Details. Erst geht es um Lauras Unterhose, dann um tote Koreaner, dann wieder um die Unterhose. Ist das eine allzu frivole gedankliche Verbindung? Darf man das überhaupt? Preminger tut es einfach und vermischt das Private mit dem Öffentlichen, die Reizwäsche mit Uniformen, den Krieg in fremden Ländern mit dem, was daheim passiert, zum Beispiel in einem Urlaubsort in Michigan. Wer glaubt, das fein säuberlich trennen zu können, erliegt einer Illusion.

Barney Quill, der in seinem Gasthaus die Pokale ausstellt, die er mit seinen Schießkünsten gewonnen hat, stirbt in der Nacht. Den Tag davor verbringen Laura Manion mit Bügeln und ihr Gatte mit Übungen auf dem Schießstand des Armeestützpunkts. Das ist der Alltag dieses modernen amerikanischen Ehepaares (ein anderes gibt es nicht in Anatomy of a Murder, verheiratete Männer sieht man nie mit ihrer Frau). Dancer will darauf hinaus, dass Manion Quill nicht, wie von der Verteidigung behauptet, in Folge eines unwiderstehlichen Impulses und in temporärer Unzurechnungsfähigkeit erschossen hat, sondern weil er durch das Kriegshandwerk auf das Töten von Menschen konditioniert ist. Die Vorstellung ist höchst beunruhigend: Manion könnte nicht nur Kommunisten irgendwo in Asien totschießen, womit er sein Geld verdient, sondern auch Amerikaner in der ländlichen Idylle (was er kürzlich erst getan hat).

Der traumatisierte Veteran als potentieller Mörder spukt regelmäßig durch den Film noir, Hollywoods Antwort auf die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs. John Hodiak in Somewhere in the Night (1946) hat vergessen, wer er ist. William Bendix leidet in The Blue Dahlia (1946) unter von unerträglichen Kopfschmerzen begleiteten Blackouts. Robert Cummings muss in The Chase (1946) unbedingt die vom Psychiater verschriebenen Pillen nehmen, weil er sonst in eine bizarre Traumwelt mit Mord und Totschlag abdriftet. Robert Taylor sagt in High Wall (1947) von sich, dass er seine Frau getötet hat, weiß aber selber nicht genau, ob das auch stimmt. Lieutenant Manion, der Berufssoldat, nimmt eine Sonderstellung in dieser Ahnenreihe ein, weil er so cool und spöttisch bleibt, wenn seine Kriegserlebnisse zur Sprache kommen.

Ein Soldat, sagt Manion, kann sich nicht immer sicher sein, ob er einen Mann getötet hat. Das kennt man vom Film noir. Zum durchgeknallten Ex-GI gehört, dass er nicht mehr weiß, was er getan hat, als die Frau, der Rivale oder sonst jemand ermordet wurde. Preminger überträgt das auf den Krieg. Je unter Erinnerungslücken gelitten nach dem Feuergefecht?, lässt er Dancer fragen. Nein, nie, sagt Manion. Je wegen Schock, Neurosen oder Psychosen behandelt worden nach dem Töten? Dieselbe Antwort. Als Zuschauer darf man hier darüber nachdenken, wer gruseliger ist: ein Mann, der unter seelischen Qualen leidet, weil er im Krieg Menschen töten musste oder einer, der das scheinbar problemlos weggesteckt hat. Der Staatsanwalt ist noch nicht durch mit seiner Fragenliste. Jemals unter ungewöhnlichen Zuständen der Psyche gelitten im Krieg? Manion nützt die Antwort für einen Scherz. An einen starken Drang während der Schlacht könne er sich erinnern: Nichts wie raus hier und ab nach Hause.

Das Publikum quittiert das mit Gelächter, was den Unmut des Vorsitzenden erregt. Richter Weaver ermahnt Manion, sich des Ernsts der Lage bewusst zu sein und sich entsprechend zu verhalten. Später, wenn es wieder um Lauras Höschen geht, wird er die erneut lachenden Zuschauer zur Ordnung rufen. Dramaturgisch ist das sehr geschickt gemacht. Zuerst berichtet Lieutenant Manion im Zeugenstand vom Krieg und demonstriert, wie die Waffe funktioniert, mit der er Quill erschossen hat. Danach kommt Mary Pilant in das Gerichtsgebäude, um den von Biegler für sie reservierten Platz im Publikum einzunehmen. Inzwischen ist Laura Manion im Zeugenstand. Mary erlebt mit, wie Laura Dancers Fragen nach ihrer Unterhose beantworten muss. Dann vergehen fünfzehn Minuten, in deren Verlauf man sich wundern kann, was aus der jungen Frau wurde, deren Erscheinen im Gerichtssaal Biegler und der Film große Beachtung schenkten (am Ende der Viertelstunde schaut der Richter sogar auf seine Taschenuhr). So steigt die Spannung.

Als Mary wieder den Saal betritt, geht sie selber in den Zeugenstand, um vom Auffinden des Höschens zu berichten, das Biegler gut sichtbar in die Kamera hält. In Preminger steckte ein kleiner Dämon. Die besonders Moralischen im Publikum und unter den Zensoren dürfen sich nun nämlich überlegen, was schlimmer ist: die Erwähnung von zerrissenen Damenunterhosen oder von zerfetzten Leibern feindlicher Soldaten? Oder doch deren Verbindung? Natürlich ist es Parnell McCarthy, der Mann mit dem Schießstand-Gonorrhoe-Dialog, der Biegler die Nachricht überbringt, dass Mary draußen wartet, um ihre Aussage zu einem wichtigen Beweisstück in einem Kriminalfall um Mord und Vergewaltigung zu machen. Garniert wird das Ganze mit einem letzten Gruß an Joe Breen, den ob der von Leuten wie Preminger zur Schau gestellten Unmoral verbitterten Ruheständler von der Filmzensur. Da es der Wahrheitsfindung dient, verliest Biegler die Aufschrift auf dem in das Höschen genähten Etikett: "Smart Shop, Phoenix, Arizona".

(Kein) Sinn für Anstand

Wie verbinde ich das scheinbar Unverbindbare durch narrative Verknüpfung? Tipp für angehende Drehbuchautoren: Dreiecksbeziehungen sind nicht schlecht. Es hängt ganz wesentlich vom Verhältnis Lieutenant Manion - Laura Manion - Barney Quill ab, ob der Angeklagte freikommt oder nicht. Das Team der Verteidigung besteht aus Polly, Parnell und der Sekretärin Maida. Die Anklage (zwei Staatsanwälte) gerät ins Hintertreffen, als Biegler es schafft, den bei Dancer und Lodwick am Tisch sitzenden Dr. Harcourt (den dritten Mann) auszuschalten, was die Bedeutung des Dreiecks noch einmal unterstreicht. Mit Waffen und Unterwäsche geht das auch. Im Laufe der Verhandlung werden zwei Beweismittel vorgezeigt: Lauras Höschen und die Pistole, mit der Manion Quill erschossen hat, ein "Kriegssouvenir". Zwei Beweisstücke, zwei Souvenirs. Nr. 2 ist die altmodische Miederhose, die Laura unter dem züchtigen Kostüm tragen musste, um den Geschworenen nicht das Bild einer Frau in engen Kleidern zu liefern, unter denen nur Platz für ein Höschen ist. Dieses Ding schenkt sie Biegler als Andenken an den Prozess. Innerhalb des nun komplettierten Dreiecks aus Höschen - Miederhose - Waffe rührt Preminger ein ziemlich explosives Gemisch aus altem und neuem Frauenbild, Moral und Unmoral, Tod und Leben an.

Anatomy of a Murder

Irgendwie hat das Vorführen von Manions Kriegssouvenir mit der Strategie der Verteidigung zu tun, aber eigentlich hantiert der in den Zeugenstand gerufene Lieutenant nur mit der Parabellumpistole, damit man sie gut sehen kann ("Si vis pacem para bellum", sagt der Lateiner - Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor). Vorher war das nicht möglich, weil sie eben da präsentiert werden soll, wo auch die Unterhose hochgehalten wird. Nicht zuletzt der Film und seine Requisiteure haben dafür gesorgt, dass die Luger, wie man sie meistens nennt (nach ihrem österreichischen Konstrukteur), mit Weltkrieg, Wehrmacht und Nazis assoziiert wird. Sie war die Standardwaffe der deutschen Armee. Manion ist zu jung, um sie selbst erbeutet zu haben. Die US-Armee, in der er dient, ist es hingegen nicht. Ja doch: Es ist tatsächlich möglich, eine in Michigan zerrissene Damenunterhose mit dem Zweiten Weltkrieg zu verbinden, ohne sich lächerlich zu machen - wenn man ein Könner ist wie Otto Preminger. Die geschichtliche Entwicklung stellte den Kontext zur Verfügung, der den Film bis heute so aktuell macht.

1961, in seiner Abschiedsrede [4] als Präsident [5], kam Eisenhower noch einmal auf schon in den Jahren davor geäußerte Bedenken zurück und warnte vor dem wachsenden Einfluss des "militärisch-industriellen Komplexes", der "ökonomisch, politisch und sogar spirituell" sei und inzwischen überall in der amerikanischen Gesellschaft spürbar. Der Ex-General wusste, wovon er redete. Erst kam der Zweite Weltkrieg, dann der Koreakrieg, und Eisenhower selbst genehmigte - notfalls am Kongress vorbei - das Entsenden von Kriegsgerät und Militärberatern nach Südvietnam, was ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Amerikaner zur Konfliktpartei im Vietnamkrieg war. Als Manion vor Gericht steht ist seine Einheit bereits nach Westberlin verlegt, damals Frontstadt im Abwehrkampf gegen den Kommunismus, und irgendwann wird sie wahrscheinlich nach Saigon fliegen. Anatomy of a Murder erzählt auch von einem Land, das, wenn schon nicht im permanenten Kriegszustand, so doch in einem ständigen Unfrieden ist, im Inneren genauso wie nach außen. Mittlerweile kann man das problemlos bis in unsere Gegenwart fortschreiben, bis hin zum Krieg gegen den Terror.

Hier muss nun der Vorsitzende Richter im Manion-Prozess erwähnt werden. Preminger hätte gern Spencer Tracy oder Burl Ives engagiert, die beide ablehnten. Dann gelang ihm ein echter Besetzungscoup, als mit Joseph N. Welch ein Laiendarsteller zusagte, der als Anwalt durchaus etwas von Schauspielerei verstand und dem das Fernsehen einen außergewöhnlich hohen Bekanntheitsgrad verschafft hatte. Indem er Welsh seine Gage überwies, bezahlte Preminger den Bezug zur schwarzen Liste Hollywoods und zur Kommunistenhatz des Kalten Krieges gleich mit. Er musste ihn nicht mehr gesondert herausstellen, weil sein Richter diesen Bezug personifizierte. Als Verständnishilfe setzte er mit Parnell McCarthy einen Anwalt in den Gerichtssaal von Marquette, der jahrelang zu tief in die Flasche geschaut und es aus Liebe zur Rechtssprechung geschafft hat, trocken zu werden. Dem anderen McCarthy, Joseph mit Vornamen und Absolvent der Marquette University, war das nicht vergönnt, aber zum Handwerkszeug dieses Anwalts gehörte auch weniger die Jurisprudenz als vielmehr die Diffamierung und das Spiel mit der Paranoia seiner Landsleute.

Anatomy of a Murder

1953 wurde Joseph McCarthy, der soeben wiedergewählte Senator aus Wisconsin, Vorsitzender eines Unterausschusses zur Kontrolle staatlicher Behörden und Institutionen, des Committee on Government Operations - oft verwechselt mit dem zeitweise von Parnell Thomas geleiteten House Committee on Un-American Activities, dem der Senator schon deshalb nicht vorstehen konnte, weil das eine Einrichtung des Repräsentantenhauses war, der zweiten Kammer des Parlaments. Die Verwechslung rührt daher, dass McCarthy dem rabiaten, mit Demagogie und wüsten Anschuldigungen arbeitenden Antikommunismus der Nachkriegszeit sein Gesicht und seinen Namen gab. McCarthy, von FBI-Chef Hoover mit ominösen Feindeslisten ausgestattet, machte seinen Ausschuss zum Kampfmittel gegen die kommunistische Unterwanderung der Regierung. Wie viele Karrieren von Unschuldigen er pro enttarntem Spion (oder auch nur KP-Mitglied, was nicht dasselbe ist) vernichtete, weiß niemand ganz genau. Das, was man heute als "Kollateralschaden" bezeichnet, stand jedenfalls in keinem Verhältnis zum Ertrag. Durch den McCarthyismus - um bei Eisenhowers Kategorie vom Spirituellen zu bleiben - nahm die Seele Amerikas nachhaltig Schaden. Längst ist zu erkennen, dass das beim Krieg gegen den Terror nicht viel anders ist.

McCarthy überhob sich, als er sich im Herbst 1953 die amerikanischen Streitkräfte vornahm. Das war ein Machtkampf, den er nicht gewinnen konnte, weil die Armee schließlich auf Konfrontationskurs ging, statt wie andere Zugeständnisse zu machen in der Hoffnung, dass er dann weiterziehen und die Staatsfeinde woanders suchen würde. Die gegenseitigen Beschuldigungen führten zu einer Anhörung im Senat (der Saal, in dem das stattfand, ist der wichtigste Schauplatz in Premingers Advise & Consent). Das im ersten Halbjahr 1954 zur Aufführung gebrachte Schauspiel nahm 36 Tage in Anspruch und wurde live im Fernsehen übertragen. Damals herrschte eine sehr naive Haltung dem noch jungen Medium gegenüber vor. Erst nach dem Wahlsieg Kennedys würde man darüber diskutieren, ob Nixon gegen ihn verloren hatte, weil er beim TV-Duell schlecht rasiert aussah. Wahrscheinlich war 1954 keinem der Akteure richtig klar, worauf sie sich da einließen. Für McCarthy waren die TV-Übertragungen desaströs.

Irgendeine Verbindung zum Kommunismus ließ sich meistens herstellen, wenn McCarthy auf einer Liste stehende Namen nannte. Die vermeintliche Gefahr ließ sich umso besser aufbauschen, je mehr sie im Nebulösen blieb. Das Letzte, was er auf seinem Feldzug gegen die kommunistische Subversion brauchen konnte, war Transparenz. Diese gab es nun reichlich. Geschätzte 20 Millionen Zuschauer sahen in ihren TV-Geräten einen Senator, der einen wirren Eindruck machte, im Gestrüpp seiner Anschuldigen den Überblick verlor und offensichtlich ein Alkoholproblem hatte. McCarthy war auch nicht telegen. Viel besser für das Medium geeignet war sein Kontrahent, der Anwalt der Armee. Das war jener Joseph N. Welch, der bei Preminger den Richter spielt.

Welch war ein ruhiger und bedächtiger, Honorigkeit ausstrahlender älterer Herr, der die Verfassung liebte und das durch seine Art und seine Persönlichkeit auch in die amerikanischen Wohnzimmer transportieren konnte. Verglichen mit ihm wirkten McCarthy und seine Beschuldigungen noch ungeheuerlicher (George C. Marshall - Generalstabschef der US-Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg und für den nach ihm benannten Marshallplan mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet - warf er vor, der "Architekt der Politik des Verrats" zu sein). Nach der TV-Übertragung der Army-McCarthy-Hearings war der Senator aus Wisconsin politisch erledigt, auch wenn er bis zu seinem Tod 1957 im Amt blieb und die Zeit der Hexenjagd keineswegs vorüber war. Wer Welch in Aktion erleben will: Der große amerikanische Dokumentarfilmer Emile de Antonio montierte zehn Jahre später Ausschnitte der Fernsehübertragung zu seinem Kompilationsfilm Point of Order [6] (1964). De Antonio brachte das einen Platz auf Hoovers Liste mit den Subversiven ein, die der FBI-Chef bei Gefahr im Verzug in Internierungslager verbringen wollte.

Die große Stunde des immer höflich und freundlich bleibenden Joseph N. Welch schlug, als er McCarthy vor den Augen der Fernsehnation ins Gesicht sagte, dass er sich bisher nicht habe vorstellen können, mit welcher Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit er den Ruf und die Karriere von ihm diffamierter Menschen zerstörte. Berühmt wurde seine lange nachhallende Frage an den Senator, ob ihm denn gar kein Sinn für Anstand mehr geblieben sei (1:22:15 bei de Antonio: "You’ve done enough. Have you no sense of decency, sir? At long last, have you left no sense of decency?"). Bei Preminger sitzt der durch die McCarthy-Hearings zum Medienstar gewordene Anwalt als eine Art lebendes Zitat auf der Richterbank, als Personifizierung des Rechtsstaats und als Erinnerung daran, dass es eine Form des Anstands gibt, die sich eher nicht daran bemisst, ob man ein Höschen ein Höschen nennt oder schamvoll darüber schweigt.

Poetische Gerechtigkeit

Welsh ist das Puzzleteil, das noch fehlte, um das Bild zu komplettieren, das Preminger vor uns ausbreitet. Anatomy of a Murder ist deshalb so sehenswert, weil es ihm gelingt, eine scheinbar disparate Mischung aus Tod, Vergewaltigung, Reizwäsche, Zensur, Bürgerrechten, Jazz, amerikanischem Hinterland, Herrschaft des Gesetzes, gesundem Volksempfinden, Dekadenz, Korea, Flipperautomaten, militärisch-industriellem Komplex und Kaltem Krieg in ein stimmiges Ganzes zu verwandeln. Indem er uns durch die verschiedenen Stadien eines Mordprozesses führt, malt Preminger das Sittenbild von einem in einer spirituellen Krise steckendem Amerika, ohne je in die Entrüstungsrhetorik der Tugendwächter und Gesinnungsschnüffler zu verfallen. Hoffnung auf Erlösung verheißt nicht die Religion (der Religion in ihrer organisierten Form würde Preminger sich 1963 in The Cardinal zuwenden), sondern der Rechtsstaat. Durch ihn finden der seit seiner Abwahl als Staatsanwalt unter Liebesentzug und Schamgefühlen leidende Paul Biegler und sein Freund, der versoffene Anwalt Parnell McCarthy, einen Ausweg aus Isolation, Alkoholismus und Depression.

Ist Manion ein kaltblütiger Mörder, ein eifersüchtiger Gewalttäter mit Kontrollverlust, oder hat er wirklich im Schockzustand und unter dem Einfluss eines unwiderstehlichen Impulses gehandelt? Am Schluss wissen wir so wenig wie am Anfang, was genau passiert ist in der Nacht, in der Barney Quill von Lieutenant Manion erschossen wurde. Die absolute Wahrheit gibt es nicht, sagt Preminger in einem Interview. Es sei besser, einen Kriminellen freizulassen als einen Mann zu verurteilen, an dessen Schuld man Zweifel hat. Genau das geschieht. Preminger interessiert sich nicht für die Bestrafung eines Schuldigen, sondern für den Umgang mit einem Angeklagten, der im Sinne des Gesetzes unschuldig sein könnte. Manion wird freigesprochen. Weil der Rechtsstaat trotz allem funktioniert, wird der Film von einer heiteren und optimistischen Grundstimmung getragen, obwohl längst nicht alles perfekt ist. Der Rechtsstaat hat auch Fehler und Schwächen. Premingers Charaktere müssen das aushalten, weil es für ihren Regisseur keine akzeptable Alternative gibt.

Anatomy of a Murder

In der letzten Szene fahren Biegler und McCarthy, jetzt Partner in einer gemeinsam betriebenen Anwaltskanzlei und musikalisch begleitet von Duke Ellington und seinem Orchester, zum Campingplatz am See, um Manion einen Schuldschein für das fällige Honorar unterschreiben zu lassen. Dort erleben sie nun das, was Preminger unter einem Happy Ending versteht. Wir sehen Natur, die amerikanische Fahne flattert im Wind, und da, wo einst der Wohnwagen der Manions stand, gibt es nur noch eine Tonne voller Müll. Der Betreiber des Campingplatzes erzählt, dass Mrs. Manion geweint hat, als sie losfuhren. Laura war vor dem Prozess mit einem Mann verheiratet, der seine Frau verprügelt, und das ist sie nach dem Prozess noch immer. Aber ist Manny deshalb auch ein Mörder? Das weiß nur er selbst, und vielleicht nicht mal das. Preminger hütet sich davor, aus dem einen Verhalten auf ein anderes zu schließen und macht es sich und seinem Publikum - wie für ihn üblich - nicht leicht dabei (er hätte auch einen Angeklagten nehmen können, der nachweislich unschuldig oder wenigstens kein Schläger ist). Strafbar ist nur, was jemand ohne berechtigten Zweifel getan hat und nicht, was jemand getan haben könnte oder vielleicht noch tun wird.

Anatomy of a Murder

Preminger hielt nichts von salbungsvollen Botschaften. Statt nach errungenem Freispruch eine Weihestunde für den Rechtsstaat zu zelebrieren, schickt er uns zurück in die Welt des Konsums, der häuslichen Gewalt und der Schießstände, auf denen Lieutenant Manion seine Treffgenauigkeit perfektioniert, während Laura die Uniform und die Reizwäsche aus dem Smart Shop in Phoenix, Arizona bügelt. Die Banalität des Alltags hat uns wieder. Wer die Wahrheit braucht, oder zumindest die von den Werbekunden gesponserte Illusion davon, ist bei Perry Mason besser aufgehoben. Biegler und sein neuer Partner werden nun zu Mary Pilant fahren, die will, dass die beiden das von Barney Quill hinterlassene Vermögen für sie verwalten. "Das nenne ich poetische Gerechtigkeit für alle", sagt Parnell. "Yeah", erwidert Polly. Dann sehen wir noch Laura Manions kaputten Stöckelschuh, der an der Tonne mit den Dosen und den leeren Schnapsflaschen hängt.

Hier würde man wenigstens eine Wiederaufnahme des musikalischen Hauptthemas erwarten oder etwas in der Art, weil man das im amerikanischen Film so macht. Nichts davon in Anatomy of a Murder. Das Orchester verschwindet von der Tonspur. Preminger und Ellington lassen uns mit acht asymmetrisch angeordneten Beep-Tönen zurück, von denen Gary Giddins ganz richtig meint, dass sie die Überraschung des Zuschauers über dieses schräge und unerwartete Ende zum Ausdruck bringen. Diese acht Beeps stimulieren ein letztes Mal die Synapsen. Anatomy of a Murder, der Film mit Laura Manions Höschen und dem unwiderstehlichen Impuls, spricht nicht den Unterleib an, sondern das Gehirn.


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[3] http://www.salon.com/2012/08/07/trumbo_family_kirk_douglas_overstates_blacklist_role/
[4] http://mcadams.posc.mu.edu/ike.htm
[5] http://www.youtube.com/watch?v=CWiIYW_fBfY
[6] http://www.youtube.com/watch?v=2EhOdSSI8n4