Unternehmen Barbarossa: So erlebte ein polnisches Dorf 1941 die "Pazifizierung"

Zeitzeuge Czeslaw Modzelewski, 2011. Bild: jens Mattern

Vor 80 Jahren überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. In Ostpolen hat Czeslaw Modzelewski den Beginn des Angriffs erlebt. Ein Bericht

Am morgigen 22. Juni wird des 80. Jahrestags des Überfalls der Wehrmacht auf die Sowjetunion gedacht. Telepolis dokumentiert die verschriftliche Aussage des Augenzeugen Czeslaw Modzelewski, aufgenommen im Jahr 2011

Die Sonne drückte auf die gewellte Moränenlandschaft und die grünen Roggenfelder beim polnischen Dorf Modzele im Nordosten Polens, als der neunjährige Czeslaw Modzelewski und seine Freunde die ersten deutschen Soldaten erblickten. Sie standen mit einem Geschütz auf einer Anhöhe und warteten, bis eine "Tatschanka", ein sowjetischer Panzerwagen, hinter einem Hügel hervor fuhr. Dann schossen sie und trafen. Zwei Rotarmisten flüchteten aus dem brennenden Wrack. Auch die Jungen rannten weg.

An diesem Tag, am 22. Juni 1941, überschritten ab 3.15 Uhr in der Früh drei Millionen deutsche Soldaten sowie 600.000 Soldaten aus Ungarn, Rumänien, Italien und der Slowakei zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer die deutsch-sowjetische Grenze.

Das nordostpolnische Modzele lag gerade zehn Kilometer östlich der Demarkationslinie. Am Abend zog die deutsche Infanterie in langen Reihen an dem Dorf vorbei, einige von ihnen konfiszierten fünf Pferde.

Dennoch glaubten die meisten Einwohner der Siedlung, dass es sich für sie nun zum Besseren wenden würde. In dem seit dem Hitler-Stalin-Pakt (1939) sowjetischem Ostpolen wurden hunderttausende nach Sibirien oder Zentralasien deportiert. Auch Czeslaws Eltern waren auf der Liste, sie waren Kleinadelige mit 20 Hektar Land und galten somit als Klassenfeind.

Nur eines von 18 Häusern wurde verschont

Am zweiten Tag jedoch, Czeslaw arbeitete gerade im Obstgarten, eilten Dutzende deutsche Soldaten auf den Weiler zu. Sie steckten mit Signalfeuer einige strohbedeckte Holzhäuser an und trieben die Bewohner zusammen, Frauen und Kinder von den Männern getrennt und umstellten sie.

Czeslaw sah, wie sein Vater kreidebleich wurde. Ein älterer Einwohner, der in Sachsen gearbeitet hatte, musste übersetzen: aus dem Weiler sei geschossen worden, darum müsse jeder Fünfte sterben. Danach fragten sie, wer Kommunist sei. Schließlich griffen sie den Gemeindevorsteher und einen Bauern, der zuvor mit der sowjetischen Verwaltung zusammengearbeitet hatte. Beide knieten und flehten bevor sie durch Schüsse aus Karabinern niedergestreckt wurden. Ein Offizier schoss mit der Pistole nach. Die Soldaten hatten dabei versteinerte Gesichter.

Auch ein Dritter, der sich durch einen Sprung ins Wasser retten wollte, sowie ein flüchtender Kuhjunge auf einem Hügel wurden erschossen.

Nur eines der 18 Häuser wurde als Versorgungsposten nicht angesteckt.

Das Gebrüll der Kühe habe er bis heute nicht vergessen können, so Czeslaw Medzelewski bei einem Gespräch 2011 in Bialystok, auch sein Hund "Bukiet" kam in den Flammen um.

In den Ställen verbrannten die Soldaten der "Panzergruppe 3" zwölf Pferde, 28 Kühe und 104 Hausschweine, wie eine polnische Dokumentation aus den 1980er-Jahren auflistet.

Der Vernichtungskrieg, als der der Angriff geplant war, sollte jeglichen Widerstand der sowjetischen Bevölkerung ersticken. Die Soldaten hatten die entsprechende Ideologie im Marschgepäck – Polen und Russen galten als minderwertig, die dem deutschen Bedürfnis nach Lebensraum im Osten weichen mussten. Esten, Letten und Litauer wurden besser behandelt.

Hungertod von Millionen einkalkuliert

"Zuerst töten sie die Juden, dann sind wir dran", so formulierten es die Bewohner von Modzele.

Etwa 40 Siedlungen wurden nach polnischen Angaben in der nordostpolnischen Region in den Tagen nach der Invasion "pazifiziert" - wie das Verbrennen der Häuser und die Vertreibung oder Ermordung der Bewohner genannt wurde, sollte ein Verdacht auf Partisanentätigkeit aufgekommen sein. Deutsche Einheiten ermordeten dabei 600 Menschen und vertrieben 7.000.

Die Zivilbevölkerung litt im Sommer 1941 unter beiden Heeren. Während die Heeresgruppe Mitte sowjetische Armeeeinheiten einkesseln konnte, so entzog sich die Rote Armee im Süden dem deutschen Angriff und betrieb eine Politik der verbrannten Erde.

Czeslaw Modzelewski, der 2011 als Rentner in der Provinzstadt Bialystok lebte, hatte nach dem Krieg traumatische Reaktionen, wenn er Deutsche traf. So erging es ihm etwa, als er als Pilot der Luftstreitkräfte der polnischen Volksarmee bei Militärübungen Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR traf. Erst im späteren Alter legten sich diese Emotionen.

Schon im Jahre 1925 erklärte Adolf Hitler die Vernichtung des "jüdischen Bolschewismus" zum ideologischen Mantra. Angeregt durch den Roman "Volk ohne Raum" von Hans Grimm und den Mythos der "Kornkammer Ukraine" postulierte er den Lebensraum im Osten für das deutsche Volk.

Den Decknamen "Barbarossa" wählte Hitler Ende 1940, es ist der Beiname des Staufer-Kaisers Friedrich I., der, so Hitler, "als erster den germanischen Kulturgedanken ausgesprochen und als Bestandteil seiner imperialen Mission nach außen getragen habe".

Der Hungertod von Millionen slawischer und jüdischer Bewohner wurde einkalkuliert, sie sollten nach seinem "Ostprogramm" auch größtenteils vertrieben werden. Die 1939 eroberten polnischen Gebiete definierte er als Aufmarschgebiet für den "Volks- und Rassenkrieg".

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