Unterstützung der Ukraine bis zur vollständigen Befreiung
Zu den Unterschieden zwischen den Debatten in Deutschland und den USA. Vor allem die Frage des Kriegsziel trennt die Sphären. Und was täte Deutschland, wenn der Krieg eskaliert?
Im Marburger Kanzlergespräch am 2. Februar hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die immer weiter gehenden deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine verteidigt und Verhandlungen erst dann für sinnvoll erklärt, wenn Präsident Putin verstehe, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann und wenn Russland sich aus der Ukraine zurückziehe.
Im Bundestag hat der Kanzler betont, dass Deutschland durch die Lieferung der Leopard-2-Panzer nicht zur Kriegspartei wird. In dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zur Militärhilfe vom März 2022 "Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme" war die Lieferung von Panzern als solche noch nicht als Kriegsbeteiligung eingeschätzt worden, die entsprechende Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland aber schon, nämlich als Grauzone mit völkerrechtlichen Konsequenzen.
Beides wird in Moskau als feindseliger Akt gesehen und unterstützt die propagandistische Begründung, dass Russland sich gegen die Nato und den Westen insgesamt verteidigen müsse.
Die politischen Entscheidungen der Bundesregierung decken sich völlig mit dem von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg seit Februar 2022 verkündeten Mantra: Die souveräne Ukraine ist unprovoziert und völkerrechtswidrig von Russland angegriffen worden.
Sie hat das Recht, sich zu verteidigen und der Westen hat das Recht, ihr dabei zu helfen. Mit der Lieferung schwerer Waffen werden die Unterstützer nicht zur Kriegspartei. Damit unterstützen Nato und Deutschland das maximale ukrainische Kriegsziel, das gesamte Staatsgebiet in den Grenzen von 1991 zu befreien.
Dabei wird kaum diskutiert, ob dann bei den jetzt schon schrecklichen Verlusten an Menschenleben, Material und Infrastruktur noch von einem Sieg die Rede sein kann. Ebenso wenig wird über die Zukunft nach einem Ende des Krieges und das künftige Verhältnis Deutschlands und Europas zu Russland nachgedacht.
Aber wie selten zuvor sind sich Politik, Leit- und soziale Medien sowie Zehntausende von Leserbriefen einig, dass dies die einzig richtige Entscheidung ist. Wer das in Frage stellt, wird als Putin-Versteher oder Verschwörungstheoretiker, linker Russland-Fan oder rechtsradikaler Putin-Troll an den Pranger gestellt. In den USA gestaltet sich die Debatte im positiven Sinn kontroverser.
Die Debatte zwischen Idealisten und Realisten in den USA
Den Vereinigten Staaten wird auch von internen Kritikern vorgeworfen, dass sie nach 1945 ständig Krieg geführt haben und über die weit stärkste und teuerste Militärmacht der Welt verfügen. Dort wird die Debatte zwischen Politik, Militär und Intellektuellen aus Wissenschaft und Thinktanks auch über die langfristigen Perspektiven des Ukraine-Konflikts intensiver und kontroverser geführt.
Es geht um die zwei Denkschulen auf dem Gebiet der internationalen Angelegenheiten, die "Liberals" und die "Realists", wobei man die Liberals hier eher Idealisten nennen sollte, um Verwechslungen mit einer politischen Partei zu vermeiden.
Historisch von Kants moralischem Ansatz in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" von 1795 beeinflusst, geht die liberale Position in den USA von der Auffassung aus, dass die Weltpolitik eine Arena ist, in der moralische Werte, Rechtsnormen und Institutionen entscheidend sind, um das Verhalten der Staaten untereinander zu regulieren und die Aussichten auf Zusammenarbeit und Frieden zu verbessern. Das ist die Grundlage der Vereinten Nationen und die regelbasierte Weltordnung in der modernen Formulierung.
Die Tradition des klassischen Realismus oder der "Realpolitik" bleibt dagegen skeptisch, was den Frieden betrifft. Sie ist überzeugt, dass Staaten im Wesentlichen durch das Streben nach Macht und nationalen Interessen angetrieben werden, indem sie sich auf militärische Macht verlassen. Sie betrachtet die internationale Arena als weitestgehend anarchisch.
Auf dem Hintergrund dieser Unterschiede wird die Diskussion über den Russland-Ukraine-Krieg in Washington zunehmend und deutlicher als bei uns von der Frage beherrscht, wie er enden könnte.
Dazu hat der einflussreiche Thinktank Rand Corporation im Januar eine Studie veröffentlich, Titel: Avoiding a Long War: U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict.
In dieser Studie werden Varianten aufgezeigt, wie sich der Krieg entwickeln könnte und wie sich alternative Verläufe auf die Interessen der USA auswirken würden. Die Autoren argumentieren, dass es dem nationalen Interesse der USA nicht nur am besten dienen würde, die Risiken einer Eskalation bis zur Nuklearschwelle zu minimieren, sondern auch, einen sich immer länger hinziehenden Konflikt zu vermeiden.
Die Kosten, für das vergangene Jahr allein rund 29 Milliarden US-Dollar, und die militärischen Risiken eines langen Krieges in der Ukraine würden die möglichen Vorteile eindeutig überwiegen. Ein Sieg der Ukraine wird dabei als extrem unwahrscheinlich eingestuft. Und dies , obwohl Washington die Dauer des Krieges nicht selbst bestimmen kann, könne es Maßnahmen ergreifen, die eine Beendigung des Konflikts auf dem Verhandlungswege wahrscheinlicher machen.
Die Autoren stützen sich auf die Literatur über die Beendigung von Kriegen und identifizieren die Haupthindernisse für Gespräche zwischen Russland und der Ukraine, etwa den gegenseitigen Optimismus über den Ausgang des Krieges und den gegenseitigen Pessimismus über die Aussichten auf einen anschließenden Frieden.
In der Perspektive werden vier politische Instrumente hervorgehoben, um diese Hindernisse abzumildern: Klärung der Pläne für die künftige Unterstützung der Ukraine, Zusagen für die Sicherheit der Ukraine, Zusicherung der Neutralität des Landes und Festlegung von Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland.
Natürlich haben die USA auch ihre Falken und die sehr einflussreiche Rüstungslobby, zumal Verteidigungsminister Lloyd Austin, ehemaliger General und Direktor der zweitgrößten Waffenschmiede, Raytheon, schon vor Monaten die militärische Kastration Russlands als Ziel der USA-Hilfe erklärt hat.
General Mark Milley, als Chairman of the Joint Chiefs of Staff ranghöchster Sprecher der Armee, warnt dagegen seit 2021 vor einer direkten Auseinandersetzung zwischen der Nato und Russland durch eine Eskalation.
Die Ukraine-Debatte in Deutschland
Unsere spontane Sympathie gilt mehr dem David, der sich verteidigt, als dem Goliath, der angreift. Präsident Selensky hat diese Interpretation des Krieges meisterhaft medienwirksam immer wieder neu formuliert. Wer in der Debatte die Frage stellt, ob die Politik der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 vielleicht das Verhältnis zu Russland beeinträchtigt haben könnte, wird sofort einer Täter-Opfer-Umkehr beschuldigt.
Das gilt ebenso, wenn Zweifel an der These geäußert werden, dass im Freiheitskampf der Ukraine auch unsere Freiheit und die Demokratie mit verteidigt werden. Davon ist offenbar auch eine klare Mehrheit der Deutschen überzeugt und mit ihnen auch eine Mehrheit der europäischen Nachbarn.
Aus der Bundeswehr ist keinerlei Abschreckung gegenüber Russland erkennbar. Falls der Ukraine-Krieg eskalieren sollte, wäre Deutschland vollkommen auf die USA und die Nato angewiesen, "Zeitenwende" und "Sondervermögen" brauchen erheblich mehr Zeit, um wirksam zu werden. Für die vorhergehenden Bundesregierungen und die Ampelkoalition waren Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bis zum 24. Februar 2022 kein Thema oder zumindest keine Priorität.
Die vor allem von den Grünen und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) postulierte "wertebasierte Außenpolitik" hatte den Effekt, dass neben der notwendigen Verurteilung des Aggressors Russland auch die fast bedingungslose Unterstützung der Ukraine praktisch zur Staatsraison werden musste.
Während die RAND-Studie ergebnisoffen die Möglichkeit eines Kompromisses über die Grenzen der Ukraine bei teilweiser Gebietsabtretung erörtert, wird hier das maximale Kriegsziel von Präsident Wolodymyr Selenskyj unterstützt, die Grenzen von 2014, also einschließlich der Krim, wiederherzustellen.
Durch die dadurch zusätzlich eingeschränkten diplomatischen Möglichkeiten Deutschlands werden Denkansätze zu einer Friedenspolitik wie in den USA oder gar eine Mittlerrolle praktisch ausgeschlossen.
Bei den nach der Wiedervereinigung vielfältig gewachsenen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland, nicht nur im Energiesektor, wäre eine solche Mittlerrolle eigentlich nicht undenkbar gewesen.
Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) mag an eine persönliche Mission bei seinem Freund Putin geglaubt haben, seine Moskau-Reisen und seine Warnungen gegen Waffenlieferungen wurden jedoch schon wegen seines Engagements bei Gasprom von Medien und Mehrheit als absurd abgetan.
Spitzenpolitiker in den neuen Bundesländern, die vom Ende der Gas- und Öllieferungen besonders betroffen sind, werden als Putin-Versteher und Russland-Sympathisanten angegriffen. Außenministerin Baerbock sagt im Europarat in Straßburg, überlegt oder nicht, dass wir im Krieg gegen Russland stehen und der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, der erfahrene Diplomat Christoph Heusgen, befürwortet sogar die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Ukraine.
Kanzler und Auswärtiges Amt rudern zurück, aber insgesamt ist die Gefühlslage in Deutschland verblüffend unisono und die relativ wenigen warnenden Stimmen von Intellektuellen treffen auf Entrüstung und Ablehnung, wie etwa die Initiative um Alice Schwarzer.
Die deutsche Debatte ist eindeutig und ganz überwiegend idealistisch im oben skizzierten Sinne. Realisten wie der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer, der in der Ukraine-Frage auch die Rolle der Nato analysiert, oder auch der greise Henry Kissinger, werden bei uns abgetan, als ob sie keine Ahnung hätten und völlig falsch liegen.
Wie gefährlich das für unser Land werden kann, muss auf jeden Fall intensiver und offener diskutiert werden. Dass Kanzler Scholz einzelne Falken in Regierung und Parlament zu zügeln versucht, wie vor einigen Tagen seine Parteivorsitzende Saskia Esken oder seine Außenministerin Annalena Baerbock, lässt hoffen, dass Deutschland nicht nur immer noch mehr zur Eskalation des Krieges beitragen wird.
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