Urbanisierung ist Modernisierung

China will neue Megastädte bauen, um in den nächsten fünf Jahren 85 Millionen Menschen vom Land in die Stadt umzusiedeln

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Der Prozess der Urbanisierung und des Sprawling ist noch lange nicht zuende, auch wenn sich in den reichen Industrieländer, in denen bereits 80 Prozent der Menschen in Städten leben, der bisher zu beobachtende Prozess der Bildung von riesigen urbanen Regionen zum digitalen Urbanismus verändern könnte.

Digitaler Urbanismus hieße letztlich, dass die Städte als räumlich verdichtete Gebilde langsam ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktionen verlieren und es dank der Vernetzung ein weitaus größeres Spektrum an Möglichkeiten gibt, wie sich gewissermaßen die Verankerungen des Cyberspace in der Geographie verorten lassen. Nicht Ortlosigkeit also, sondern Flexibilität der Standorte ist die Eigenschaft des digitalen Urbanismus. Räumliche Nähe zu Städten muss dann für Unternehmen, Institutionen und arbeitende Menschen nicht mehr derart zwingend sein, wie vielfach heute noch, wenn die entsprechende Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur vorhanden ist. Unlängst haben Berichte darauf hingewiesen, dass sowohl in den USA wie auch in Europa die Telearbeit erst jetzt richtig zu boomen beginnt, was man als ein Indiz für die Umstrukturierungen der vernetzten, posturbanen Wissensgesellschaft verstehen kann, wobei die Virtualisierung der Arbeitsplätze vorwiegend höhere Angestellte und Spezialisten, die sogenannten Wissensarbeiter, betrifft.

Während also möglicherweise die reichen Industrieländer bereits den Gipfel der Urbanisierung überschritten haben, geht die Explosion der Städte vor allem in den Entwicklungsländern weiter. Weltweit leben etwa 50 Prozent der Menschen in den Städten, und wahrscheinlich sind urbane Umgebungen, in denen Traditionen und überkommene Lebensweisen sich schneller auflösen und Innovationen schneller entwickelt und aufgenommen werden, noch immer ein wichtiger Katalysator für wirtschaftliche und kulturelle Dynamik. Auch der Cyberspace ist eine Weiterführung des urbanen Lebens, der sich von den konkreten Orten löst und so etwas wie eine virtuelle und globale Megacity realisiert.

China, das trotz des Festhaltens am alten politischen System mit aller Macht auf Modernisierung setzt und sich möglichst schnell in eine der führenden Wissensgesellschaften verwandeln will, glaubt nun, diesen Prozess nicht nur durch Einführung einer marktorientierten Wirtschaftsform, Stärkung der Ausbildung und Ausbau der Informations- und Kommunikationssysteme, vor allem dem Internet, beschleunigen zu können, sondern auch durch eine gezielte Urbanisierung der chinesischen Gesellschaft. Chinas Urbanisierungsgrad liegt mit 34 Prozent noch weit hinter dem weltweiten Durchschnitt zurück. Im nächsten Fünf-Jahresplan, der im neuen Jahrtausend beginnt, soll neben anhaltendem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wachstum die Urbanisierung zu einer primären Aufgabe werden. Die chinesische Kommission für die staatliche Entwicklung sieht, wie China Daily meldet, eine richtig eingesetzte Urbanisierungsstrategie als notwendig an, um die vielen Probleme zu lösen, wozu offenbar vornehmlich die schleppende Nachfrage nach Konsumgütern und die Rückständigkeit der ländlichen Gebiete gehören.

Wie alles, was in China geschieht, geht es dabei um riesige Projekte. Um den Urbanisierungsgrad auf die durchschnittliche Ebene zu bringen, müssten 300 Millionen Menschen aus dem Land in die Stadt umziehen, was nach Xu von der Kommission zu gewaltigen Investitionen und einer ebenso großen Nachfrage nach Konsumgütern führen würde. Geplant werden sollen in den nächsten Jahren der Bau von Megastädten und Großstädten, die Vergrößerung von mittleren Städten und die Verbesserung von kleinen Städten. Innerhalb der nächsten fünf Jahre sollen 85 Millionen Menschen aus dem Land in die Städte ziehen. Und man hat auch schon ausgerechnet, wie sich dies wirtschaftlich niederschlagen soll, wenn es nach dem optimistischen Fünf-Jahresplan ginge: Wenn jeder dieser 85 Millionen Menschen 3600 Dollar für den Bau von Häusern und städtischer Infrastruktur ausgeben würde, dann würde sich die Nachfrage auf einen wirtschaftlichen Wert von 300 Milliarden Dollar vergrößern. Zudem würden die neuen Stadtbewohner für 48 Milliarden Dollar jährlich ihre offenbar notwendigen Konsumgüter in Form von Farbfernsehern, Kühlschränken oder Waschmaschinen ausgeben.

Nach den Vorstellungen der Planer soll der Urbanisierungsprozess offenbar als solcher neue Jobs schaffen und die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Weniger Bauern werden das Land effizienter bewirtschaften und höhere Einkommen erzielen und so die Einkommenskluft zwischen den Bewohnern der Städte und des Landes geringer werden lassen.

Wie die Menschen in die Städte gelockt oder umgesiedelt werden sollen, wird in dem Artikel allerdings nicht beschrieben. Ein Geheimnis bleibt auch, warum die Urbanisierung heute unbedingt automatisch auch zu einem ökonomischen Aufschwung führen muss, an dem alle Menschen teilhaben. Und wie die kommunistische Partei die gesellschaftlichen Veränderungen, die durch eine stärkere Urbanisierung bewirkt werden, in den herkömmlichen Bahnen der Alleinherrschaft einer Partei halten will, die vornehmlich durch Gewalt ihre Macht sichert, wird ebenfalls nicht erwähnt.