Vagusnerv: Der heimliche Klassenunterschied beim Snacken
Eine Frau entspannt sich auf dem Sofa und genießt Schokolade als Teil ihres Morgen-Snacks, ein Moment der Ruhe und des Genusses.
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Forscher entdecken: Der längste Nerv im Körper steuert unser Essverhalten – aber nicht bei allen Menschen gleich stark.
Wer kennt es nicht: Stress, Frust oder Langeweile führen oft dazu, dass wir zu ungesunden Snacks greifen. Doch warum fällt es manchen leichter als anderen, diesem Impuls zu widerstehen? Britische Forscher sind dieser Frage nachgegangen und haben dabei den Einfluss des sozioökonomischen Status unter die Lupe genommen.
Vagusnerv als Schlüssel zur Selbstregulation
Im Mittelpunkt der Studie stand der Vagusnerv, der längste Nerv im menschlichen Körper. Er spielt eine zentrale Rolle bei der Regulation von Hunger, Sättigung und Verdauung. Die Forscher vermuteten, dass die Aktivität des Vagusnervs, auch Vagustonus genannt, mit dem Essverhalten zusammenhängt – und dass dieser Zusammenhang je nach sozialem Status unterschiedlich ausgeprägt sein könnte.
Um diese Hypothese zu testen, luden die Wissenschaftler 96 Studenten mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund zu einer Schokoladenverkostung ein. Dabei maßen sie die Herzfrequenzvariabilität (HRV) der Teilnehmer, um Rückschlüsse auf den Vagustonus zu ziehen.
Die Ergebnisse waren erstaunlich: Bei Studenten mit höherem sozioökonomischem Status ging ein höherer Vagustonus mit einem geringeren Schokoladenkonsum einher. Bei Teilnehmern mit niedrigerem Status zeigte sich dieser Zusammenhang jedoch nicht.
Die Studie deute darauf hin, dass die internen Signale bei Personen aus höheren sozialen Schichten stärker mit dem Essverhalten korrelieren, erklärt Studienleiter Mario Weick von der University of Durham. Bei Menschen mit niedrigerem Status scheint die Selbstregulation durch den Vagusnerv hingegen weniger ausgeprägt zu sein.
Neue Perspektiven auf gesundheitliche Ungleichheiten
Frühere Studien haben die Unterschiede im Ernährungsverhalten meist mit externen Faktoren wie dem Zugang zu gesunden Lebensmitteln erklärt. Die aktuelle Arbeit lenkt den Blick nun auf interne Regulationsprozesse. Sie liefert damit neue Ansatzpunkte, um gesundheitliche Ungleichheiten zu verstehen und anzugehen.
Die Ergebnisse bedeuteten nicht, dass Menschen mit niedrigerem sozialem Status mehr essen oder impulsiver seien, betont Co-Autorin Milica Vasiljevic. "Vielmehr scheint die interne Regulation des Essverhaltens bei ihnen anders zu funktionieren."
Eine Stärke der Studie ist die Verwendung sowohl subjektiver als auch objektiver Messgrößen für den sozioökonomischen Status. Zudem fand die Untersuchung unter kontrollierten Laborbedingungen statt, was präzise Messungen ermöglichte.
Allerdings gibt es auch Limitationen: Die Stichprobe war hinsichtlich Alter und Geschlecht nicht repräsentativ. Zudem konzentrierte sich die Studie ausschließlich auf den Konsum von Schokolade. Ob die Ergebnisse auf andere Lebensmittel übertragbar sind, muss noch erforscht werden.
Ansatzpunkte für Prävention und Intervention
Trotz dieser Einschränkungen liefert die Studie wertvolle Erkenntnisse. Sie regt dazu an, bei der Entwicklung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen stärker auf physiologische Prozesse zu achten.
Laut den Forschern könnten Praktiken wie Achtsamkeit, Yoga oder Biofeedback helfen, die interozeptive Sensibilität und die Vagusregulation bei Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status zu verbessern. Solche Ansätze könnten über Gemeinschaftsprogramme oder mobile Apps zugänglich gemacht werden.
Die Arbeit sei ein bedeutender Schritt, um die komplexen Zusammenhänge zwischen sozialem Status, physiologischer Regulation und Ernährungsgewohnheiten zu entschlüsseln, resümiert Mario Weick. Sie biete neue Perspektiven für Strategien im Bereich der öffentlichen Gesundheit, um Ernährungsungleichheiten und die damit verbundenen langfristigen Folgen anzugehen.