Verfassungsschutz abschaffen? Hm, lieber doch nicht

Die Forderung, den Verfassungsschutz abzuschaffen, ist ein Evergreen – und oberflächlich. Für seine Existenz gibt es gute Gründe. Ein Beitrag zur Debatte.

Telepolis-Autor Rüdiger Suchsland plädiert für eine Abschaffung des Verfassungsschutzes. Anlass ist die aktuelle Anmaßung des Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Haldenwang, der sich öffentlich gegen die der Bundesregierung unerwünschte AfD positioniert und deren laufenden Parteitag kommentiert.

Damit schwingt sich Haldenwang, dessen Behörde eigentlich heimlicher Beobachter sein soll, selbst zur Partei auf – gegen eine Partei, die Umfragen zufolge derzeit mehr Zustimmung erfährt als alle anderen einzelnen Parteien (CSU aus Union herausgerechnet). Für einen Demokratiewächter, der die Achtung demokratischer Mehrheiten propagiert, ist das zumindest ungewöhnlich. Wie Suchsland zutreffend erkennt, provoziert Haldenwang damit bestenfalls Solidaritätseffekte.

In der Tat steht die Frage im Raum, warum Haldenwang weder das für Beamte geltende Mäßigungsgebot beherzigt noch ein professionelles Fingerspitzengefühl beweist, wie man es für den Leiter einer politisch sensiblen Behörde mit der Herrschaft über nachrichtendienstliche Mittel in einem Rechtsstaat erwarten darf. Tagesaktuelle Kommentare sind Aufgabe von Politik und Medien, nicht aber von Geheimdienstchefs, die der Chancengleichheit der Parteien verpflichtet sind (Art. 21 GG).

Evergreen

Mit den Behördenleitern hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz noch nie so rechtes Glück, sodass sich die Politik glücklich schätzen konnte, wenn sich die Schlapphüte branchenüblich unauffällig verhielten.

Auch Insider wie der einstige Verfassungsschützer Winfried Ridder plädieren dafür, die Abwehr von Spionage und Terrorismus in die Hand der Polizei zu verlegen, da etwa bei der von ihm gejagten RAF die Methoden nicht funktioniert hätten und Geheimdienste nun einmal mit rechtsstaatlichen Mitteln nicht zu kontrollieren seien. Auch der Autor dieser Zeilen hatte den Verfassungsschutz einst in Polemiken scharf angegriffen.

Die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes ist ein politischer Evergreen, der traditionell von Oppositionsparteien aufgetragen wird, bis sie dann selbst in der Regierung sitzen. Weder die Grünen haben ihrer uralten Forderung nach Auflösung der Nachrichtendienste Taten folgen lassen noch die Linkspartei in den Bundesländern, in denen sie mitregierte. Ein Jahrzehnt nach den Snowden-Enthüllungen haben die deutschen Geheimdienste zwar erhebliche Personalsorgen auf allen Ebenen, um ihre Existenz hingegen fürchten sie sich nicht wirklich.

Überflüssig?

Suchsland hält den Verfassungsschutz für "überflüssig" und beruft sich auf als "Juristen" attribuierte Autoren wie Prantl und Steinke, deren Hausblatt Süddeutsche Zeitung traditionell eine nicht nur geografische Nähe zum lange in München ansässigen BND verbindet. Der Verfassungsschutz wurde historisch gesehen allerdings nicht zuletzt deshalb geschaffen, um der im rechtsfreien Raum agierenden obskuren Organisation Gehlen die faktische Zuständigkeit für geheime Inlandsoperationen streitig zu machen.

(Als Gehlen an seiner Bewerbung um die Leitung des ersten offiziellen deutschen Geheimdienstes Verfassungsschutz scheiterte, setzten er und seine dann zum Auslandsgeheimdienst BND legalisierte Organisation heimlich eigenmächtig die Inlandsüberwachung fort – inklusive Angebot an die CIA, für den Fall eines SPD-Wahlsiegs einen Staatsstreich von rechts zu organisieren.)

Würde man den Verfassungsschutz abschaffen, würden damit vermutlich nicht auch die Probleme verschwinden, die der Geheimdienst bekämpfen soll. Insgesamt zählt man derzeit jährlich knapp 60.000 politisch motivierte Straftaten, darunter knapp 4.000 Gewaltdelikte. Etwa 500 Personen werden als meist religiös motivierte Gefährder bewertet.

Den Terrorismus etwa kann die Justiz praktisch nur dann bekämpfen, wenn es zu spät ist. Die Kunst eines Geheimdienstes hingegen besteht darin, hinter den Kulissen die Bombe zu erkennen und zu entschärfen, bevor sie explodiert. Dies ist nur möglich durch Vorfeldaufklärung wie präventive Überwachung, etwa durch Spitzel und Abhören, Aufstellen von Fallen und Kooperation mit ausländischen Geheimdiensten – darunter auch solche, die ihre Informationen durch ethisch abzulehnende Methoden wie Folter gewinnen.

Geheimdienstarbeit ist also auf vielen Ebenen unappetitlich und rechtsstaatsfern. Wer sie aus politisch gut nachvollziehbaren Erwägungen abschafft, kassiert zwar den Applaus im Feuilleton, nimmt allerdings die Verantwortung für vermeidbare Terroranschläge in Kauf, etwa durch islamistische Fanatiker, staatsstreichende Reichsbürger, vom Ausland gesteuerte Organisationen, beinharten Linksextremisten – sowie die von den Fallzahlen größte Bedrohung: Rechtsextremisten.

In Zeiten, in denen Trauergemeinden mit Handgranaten beworfen werden, Ausschreitungen gegen die Regierung von Eritrea auf deutschem Boden erfolgen, der Ukrainekrieg auch auf hiesigen Straßen ausgetragen wird, IS-Kämpfer in Deutschland Rizinbomben oder explosive Sprengmittel [Link auf https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/anti-terror-einsatz-ruhrgebiet-faq-101.html] basteln und kritische Infrastrukturen wie Nord Stream von Unbekannt gesprengt werden – allesamt Taten mit Auslandsberührung – benötigt man Behörden mit spezifischem Sachverstand und Vorfeldkompetenz, sowie Beamte, die bereit sind, ein schmutziges Spiel möglichst sauber zu spielen.

Eine weitere Aufgabe ist die Kontrolle des Beamtenpersonals auf Hinweise für Extremismus. Wer sich etwa mit Reichsbürgern oder religiösen Fanatikern gemein macht oder Menschen nach Herkunft bewertet, soll weder Lehrer, Polizist noch Richter werden oder bleiben dürfen. Daten oder Einschätzungen über die politische Gesinnung von Personen, etwa durch Spitzel, Abhören oder Anschwärzen gewonnen, sind sensibel und sollten zu keinem anderen Zweck verfügbar sein, zumal sie häufig unzuverlässig sind. In Polizeicomputern haben sie nichts verloren, auf die im Prinzip jeder Polizist und damit dessen Umfeld zugreifen kann. Noch weniger bei ausländischen Nachrichtendiensten, die wie im Fall der Stasi vollen Zugriff auf westdeutsche Polizeidatenbanken hatten.

Die Übertragung nachrichtendienstlicher Aufgaben an die Polizei würde Behörden mit gutem Ruf wie dem Bundeskriminalamt und dem Zoll kontaminieren. Auch diese Behörden arbeiten in ihren Bereichen bereits heute mit V-Leuten und anderen Geheimdienstmethoden und geraten dadurch zwangsläufig schon jetzt in den Zielkonflikt zwischen Rechtsstaat und pragmatischer Opportunität. Auch dürfte die an den Rechtsstaat gebundene Polizei nicht ohne Weiteres Informationen aus fragwürdigen Quellen nutzen, etwa solchen, die von ausländischen Partnergeheimdiensten durch Folter gewonnen wurden. Geheimdienste sind da pragmatischer, pflegen untereinander langfristige Kontakte und machen Kuhhändel, die für die Polizei schlichtweg unangemessen wären.

Insbesondere die Funktion eines politischen Geheimdienstes, also das Heraushalten von Extremismus aus dem Staat durch Beobachten politischer Ränder und deren Einhegung ist keine Aufgabe, die man bei einer Behörde sehen möchte, die wie die Polizei über Exekutivbefugnisse verfügt.

Anders, als es etwa Tatort-Drehbuchautoren glauben, haben Verfassungsschützer niemandem etwas zu sagen. Sie dürfen niemanden verhören, festnehmen oder indoktrinieren, sie dürfen auch anderen Behörden wie der Polizei keine Weisungen erteilen und führen selbst auch keine Waffen mit sich. Sie dürfen gerade einmal Entscheidungsträger informieren und beraten, ansonsten haben sie unsichtbar zu sein.

Geheimer, als die Polizei erlaubt

Polizei und Geheimdienste werden in Deutschland streng getrennt. Denn hierzulande hat man mit einer Geheimen Staatspolizei ähnlich schlechte Erfahrungen gemacht wie mit einem Ministerium für Staatssicherheit. Soweit die Trennung von Aufgaben und Zuständigkeiten die Terrorbekämpfung im Bereich des Islamismus behinderte, wurde dies durch Einrichtung des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ aufgefangen, das die Sicherheitsbehörden insoweit koordiniert. Soweit bekannt, hat das 2004 eingerichtete GTAZ keine nennenswerten Skandale produziert.

An Skandalen hatte der Verfassungsschutz in seinen über 70 Jahren keinen Mangel. Aber weder folgt hieraus, dass man dort aus Fehlern nichts gelernt hätte noch wäre ersichtlich, dass andere Behörden die Aufgaben überzeugender lösen. Ein übergriffiger Herr Haldenwang oder sein deutlich seltsamer Thüringer Amtskollege Kramer würden ihre Position auch an anderer Stelle strapazieren, ob man diese nun als Sonderabteilung in einem Innenministerium, als Staatsschutzabteilung bei der Polizei installiert oder als akademische Einrichtung zur Beobachtung des politischen Milieus.

Suchsland kritisiert konkret auch eine Beobachtung der "Fridays for Future"-Bewegung, deren teils extreme Mitglieder sich zu Selbstjustiz berechtigt sehen. Radikale Klimaschützer, die in sicherheitsrelevante Einrichtungen wie Flughäfen eindringen oder sich gegen die Polizei nahezu paramilitärisch organisieren, dürfen ruhig leise heulen, wenn man ihnen nunmehr etwas genauer auf die Finger sehen möchte.

Thema verfehlt

An der Praxis des Verfassungsschutzes gibt es tatsächlich viel zu kritisieren. So scheitern etwa etliche Klagen von Betroffenen daran, dass ein Geheimdienst seine Akten regelmäßig nicht öffnen muss oder nur Datenschutzbeauftragte und Richter Einsicht erhalten. Eine Fundamentalfrage, ob man einen Inlandsgeheimdienst benötigt, stellt sich aber gegenwärtig nicht wirklich. Das Aufwärmen dieser uralten wie fruchtlosen Diskussion lenkt allerdings vom eigentlich aktuellen Problem mit dem Verfassungsschutz ab:

Mehr als fragwürdig ist nämlich die neu beanspruchte Kompetenz des Verfassungsschutzes für sogenannte Delegitimierer. Darunter versteht Haldenwang ausdrücklich auch Personen, denen man das Etikett "Coronaleugner" anheftet. Bürger, die für die im Grundgesetz garantierte Gewährleistung ihrer körperlichen Unversehrtheit, Therapiefreiheit und Bewegungsfreiheit sowie Meinungsfreiheit und Demonstrationsfreiheit eintraten.

Dass im Gegenteil der Rechtsstaat jedenfalls zu Beginn der Coronakrise dysfunktional war, ist inzwischen ein offenes Geheimnis. Der derzeit anscheinend nicht ausgelastete Verfassungsschutzpräsident Haldenwang könnte ja Politiker und Publizisten auf ihre Verfassungstreue überprüfen, die sogar die Internierung von Infizierten oder Verdachtsfällen erwogen hatten und dazu aufriefen, Menschen aufgrund anderer gesundheitspolitischer Überzeugung auszugrenzen.

Und wenn der Verfassungsschutz schon Zeit aufwendet, um sogenannten Propaganda-Delikten nachzugehen, könnte er ja genauso gut diejenigen Wortführer unter die Lupe nehmen, die Maßnahmen-Skeptikern mal eben die Menschenwürde abgesprochen haben. Der Schutz der Menschenwürde ist oberstes Staatsprinzip und damit der politische Kompass eines Verfassungsschützers.

Der Autor ist Rechtsanwalt und vertritt u.a. Ex-Geheimagenten und Terrorverdächtige. 2013 veröffentlichte er das Telepolis-eBook Cold War Leaks über Geheimdienstgeschichte(n) aus dem Kalten Krieg.

In seinen Politthrillern "Das Netzwerk" und "Innere Unsicherheit" hadert eine Präsidentin des Bundesamts für Verfassungsschutz mit ihrer Rolle.