Verfassungsschutz entdeckt völlig neue Extremistenart
Im Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" sollen demnächst "Querdenker" aufgeführt werden, die angeblich sonst in keine Schublade passen. Eine Linke-Politikerin vermutet dahinter Rechentricks
Dass bundesweit Gruppen und Einzelpersonen aus der "Querdenker"-Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet werden, dürfte schon deshalb nicht neu sein, weil es in mehreren Städten und Bundesländern Überschneidungen mit rechtsextremen Gruppen und Milieus gibt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ist trotzdem der Meinung, für die "Querdenker" eine neue Kategorie einführen zu müssen: den Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates". Denn nach Einschätzung des BfV passen angeblich "die als extremistisch eingeschätzten Teile der Bewegung in keine der bisherigen Schubladen". Dies berichtete das ARD-Hauptstadtstudio an diesem Mittwoch unter Berufung auf das BfV.
Ist das so? - Sicher gibt es unter den "Querdenkern" politisch schwer einzuordnende Esoteriker, Verwirrte oder teilweise auch Traumatisierte, die von Kollateralschäden der Corona-Krise betroffen sind und nicht mehr wissen, wem oder was sie glauben sollen. Letztere sind aber aus unaufgeregt-demokratischer Sicht kaum "verfassungsschutzrelevant". Wer sich dagegen Akteure anschaut, die schon vor dieser Krise namentlich in Verfassungsschutzberichten erwähnt wurden, fragt sich, was an denen auf einmal so schwer einzuordnen ist.
Bei einschlägigen Protesten in Berlin und Stuttgart wurden schwarz-weiß-rote Reichsfahnen geschwenkt, in Berlin und Halle taucht regelmäßig der Neonazi Sven Liebich, ehemals Kader des Netzwerks "Blood and Honour", auf den "Querdenker"-Demos auf und relativiert mit gelbem Davidstern und dem Schriftzug "Ungeimpft" den Holocaust. Im Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt wird Liebich mehrfach im Bereich Rechtsextremismus erwähnt.
"Ebenso unsinniges wie dehnbares Konstrukt"
Natürlich repräsentiert so einer nicht den Durchschnitt der Bewegung - vergleichbar weit links stehende Akteure gibt es aber dort nicht. Auch wenn Menschen mit linkem Selbstverständnis darüber streiten können, wie sinnvoll welche Art von Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ist, und ob dabei nicht die Arbeitswelt konsequenter einbezogen werden sollte.
Dem Verfassungsschutz wiederum stehen alle Linken skeptisch gegenüber, die sich noch an die V-Mann-Skandale im Zusammenhang mit der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) erinnern können - denn angefangen mit dem Anführer der NSU-Brutstätte "Thüringer Heimatschutz" in den 1990er Jahren wurde mit der Anwerbung von V-Leuten häufig der Bock zum Gärtner gemacht. Der "Verräterkomplex" sei ihm mit Geld versüßt worden, sagte später im Münchner NSU-Prozess ein ehemaliger V-Mann-Führer über den Neonazi Tino Brandt. Fälle wie dieser haben zeitweise in größeren Teilen des demokratischen Spektrums für Misstrauen gegenüber Staat und Behörden gesorgt. Linke sind zumindest teilweise auch in der Corona-Krise misstrauisch geblieben.
"Diese neue Extremismus-Kategorie 'Delegitimierung des Staates' erscheint mir als ebenso unsinniges wie dehnbares Konstrukt, mit dem sich jede Art von radikaler Staatskritik verfolgen ließe", kritisierte die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, Ulla Jelpke. "Natürlich ist nicht jeder Querdenker ein Nazi", so Jelpke am Mittwoch gegenüber Telepolis. Aber dem Bundesinnenministerium gehe es wohl auch darum, durch die Schaffung einer neuen Kategorie die offizielle Zahl von Rechtsextremisten niedrig zu halten.
"Durch das Herunterspielen der faschistischen Bewegung soll gleichzeitig der vermeintliche Linksextremismus als Gefahr aufgebauscht werden", so Jelpke. Diese Methode sei auch schon im Fall der "Reichsbürger" angewendet worden, die vom Verfassungsschutz trotz der klar rechten und antisemitischen Bezüge kurzerhand zur eigenen Kategorie erklärt worden seien.
Hinzu komme das inkonsequente Agieren von Bundes- und Landesregierungen in der Corona-Krise, das mehr an Kapitalinteressen als an der Gesundheit der Menschen ausgerichtet sei - das delegitimiere den Staat in den Augen breiter Kreise der Bevölkerung mehr "als es die Querdenker im ihrem Wahn je könnten".
Nach ARD-Informationen will das BfV für die Bewegung ein "Sammelbeobachtungsobjekt" einrichten. Darin erfasste Teile der Protestbewegung könnten entweder als sogenannter Verdachtsfall oder auch als erwiesen extremistisches Beobachtungsobjekt bearbeitet werden.
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