Verkehrte Welt: Die USA wollen Entspannung, die Europäer Krieg
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beim EU-Gipfel in Brüssel mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, 6.3.2025. Bild: Ukranisches Präsidentenbüro
- Verkehrte Welt: Die USA wollen Entspannung, die Europäer Krieg
- Die Hasardeure
- Auf einer Seite lesen
Trump spricht mit Putin über Waffenstillstand. Die EU ist entsetzt und reagiert mit Aufrüstung. Ist die Welt verrückt geworden? Eine Einordnung. (Teil 1)
Es ist ein bemerkenswerter Vorgang: Praktisch das gesamte politische Führungspersonal Europas und die westlichen Kommentatoren sind in Schockstarre und Entsetzen verfallen, weil die USA und Russland – die zwei mächtigsten Atommächte mit der Fähigkeit, das menschliche Leben auf der Erde auszulöschen – möglicherweise kooperative statt feindliche Beziehungen entwickeln könnten.
Détente passé
Im Kalten Krieg war Détente, also Entspannungspolitik, zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion etwas, was von allen Seiten begrüßt wurde. Jetzt werden die direkten Gespräche zwischen der US-amerikanischen und russischen Regierung nach der langen und gefährlichen Eiszeit als das Ur-Böse, als Aggressoren-Appeasement angesehen.
Dabei sollte doch der Abbau der Spannungen zwischen den atomaren Supermächten mit Erleichterung aufgenommen werden. Warum verfallen dann alle in Panik und Entrüstung? Warum heißt es jetzt: Zu den Waffen – von Berlin über Brüssel und Paris bis nach London?
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) spricht von einer "neuen Zeit der Ruchlosigkeit". Die "regelbasierte internationale Ordnung und die Stärke des Rechts" müssten nun gegen die "Macht der Stärkeren" verteidigt werden.
Das Seeungeheuer
Der Politikchef der Süddeutschen Zeitung, Stefan Kornelius, kommentierte nach dem Telefonat des US-Präsidenten Donald Trump mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über einen Waffenstillstand, dass damit die Pax Americana, die "amerikanische() Friedensordnung, die Europa Jahrzehnte der Sicherheit geschenkt hat", Geschichte sei.
Die Ukraine werde faktisch Russland zum Fraß vorgesetzt, indem "mit dem Aggressor" gesprochen und der Völkerrechtsbruch damit legitimiert werde, "was viele Nachahmer motivieren wird". Aber die eigentliche "Höllenformel", die "weite Teile der Welt mit Entsetzen erfüllen sollte" ist nach Kornelius …
die Absage an Recht und Regeln, die Umarmung einer politischen Machtformel, die das Seeungeheuer Leviathan zum Symbol hat und in der gleichnamigen Schrift des politischen Philosophen Thomas Hobbes ihre ideengeschichtliche Grundlage. Trump verabschiedet sich von einer Staatenordnung, die Souveränität akzeptiert. Er teilt mit Putin die Vorstellung von einer Großmachtspolitik, in der die Welt in Einflusszonen eingeteilt wird und das Recht der Stärke gilt.
Die andere Ruchlosigkeit
Mal abgesehen davon, dass die SZ und mit ihr die westlichen Leitmedien insgesamt kein Seeungeheuer erkennen konnten, als die Vereinigten Staaten mit ihren Nato-Verbündeten die größte Militärmaschine der Menschheitsgeschichte auf Afghanistan, Irak oder Libyen losließen, ganz zu schweigen von Indochina oder Jugoslawien, und dadurch Millionen Tote, Verstümmelte, Traumatisierte und endlose Verheerungen in den Regionen erzeugt haben.
Und diese ungeheuerliche oder ruchlose Politik ist nicht vergangene Geschichte. Die schmutzigen Kriege mit Spezialoperationen, Nachrazzien und Drohnenterror unter US-Führung laufen weiter, auch wenn die Medien hierzulande dem kaum Beachtung schenken – und das, obwohl Deutschland u. a. den Einsatz von US-Tötungsdrohnen unterstützt.
Ein Bericht des Costs of War Project zeigt, dass das US-Militär seit 2021 in den ersten drei Jahren unter dem demokratischen US-Präsidenten Joe Biden in mindestens 78 Ländern, von Irak bis Mali, Militäroperationen durchgeführt hat.
Doch das erzeugt kein Entsetzen in Europa. Im Gegenteil. Die US-Kriege und Militäroperationen, unterstützt von der Nato, werden im Westen abgehakt als "humanitäre Interventionen" und "Antiterrorkämpfe", obwohl sie nachweislich Terror verbreiten und züchten. Selbst der Irak-Krieg, ein Lehrbuchbeispiel eines Angriffskriegs ohne jegliche Legalität und Legitimität – das größte Verbrechen des 21. Jahrhunderts –, wurde massenmedial weißgewaschen.
Was Nichtreden mit Russland bedeutet
Aber kehren wir zur Ukraine zurück. Um die Argumente beurteilen zu können, mit denen jegliches Sprechen und Verhandeln mit Russland von Politik und Medien weiter dämonisiert und unter Tabu gestellt wird, insbesondere in Europa, sollte man sich vor Augen führen, was Nichtsprechen mit Russland beinhaltet.
Denn während sich Politiker und Meinungsmacher:innen über eine vermeintliche autoritäre "Trump-Putin-Connection" empören, wird ausgeblendet, dass der dreijährige Zermürbungskrieg mit Hunderttausenden Toten und Verletzten auf beiden Seiten, enormen Zerstörungen in der Ukraine, den globalen wirtschaftlichen Verwerfungen und dem Kollaps globaler Kooperation (dringend benötigt für internationalen Klimaschutz, Abrüstungsverträge, Sicherheitsabkommen usw.) deeskaliert werden könnte, wenn die USA ihren Einfluss für Waffenstillstand und Verhandlungen geltend machen, was sie nun zum ersten Mal zu unternehmen scheinen. Damit könnte nicht nur viel Leid, sondern ein inakzeptables Menschheitsrisiko gebannt werden.
Wir sollten uns nämlich daran erinnern, was weiter auf dem Spiel steht: eine Ausweitung des Ukraine-Kriegs zu einer direkten Konfrontation Russlands mit der Nato. Das wäre dann der Dritte Weltkrieg, der schnell in einen Atomkrieg mutieren könnte. Das ist nicht Putin- oder Trump-Propaganda, sondern ein reales Szenario.
Die 50:50 Chance
So soll die US-Regierung schon im Herbst 2022 einen Atomwaffeneinsatz Russlands konkret befürchtet haben. Der US-Geheimdienst CIA warnte, dass, wenn Russland überzeugt sei, die ukrainischen Streitkräfte könnten die russischen Verteidigungslinien durchbrechen und versuchen, die Krim zurückzuerobern, was Ende 2022 möglich schien, die Wahrscheinlichkeit eines Nukleareinsatzes auf 50 Prozent oder sogar noch höher steigen könnte.
Das löste im Weißen Haus große Besorgnis und Befürchtungen aus. In einer Rede vor einer kleinen Gruppe von Demokraten in New York City erklärte der damalige US-Präsident Joe Biden in seiner sogenannten "Armageddon-Ansprache": "Zum ersten Mal seit der Kubakrise droht uns direkt der Einsatz einer Atomwaffe, wenn die Dinge so weiterlaufen wie bisher."
Im Januar stellte das Bulletin of Atomic Scientists die sogenannten Weltuntergangsuhr, die Doomsday Clock, auf 89 Sekunden vor Mitternacht. Mitternacht bedeutet das Ende der Welt. So nah stand die Uhr noch nie vor dem "Game Over" für die Menschheit. Hauptgrund für die Gefahrenbewertung der Forscher: die akuten atomaren Risiken im Ukraine-Krieg.