Verkürzung der Arbeitszeit: Wirtschaft gegen Gesellschaft

Es muss mehr, statt weniger gearbeitet werden, fordert IW-Chef Michael Hüther. Dafür passende Begründungen zu finden, fällt orthodoxen Ökonomen nicht schwer. Dabei wird aber Wichtiges übersehen.

Wirtschaftsnaher Ökonom fordert Mehrstunden statt Viertagewoche.
Spiegel online

Wenn eine Schlagzeile griffig erscheint, verbreitet sie sich wie Unkraut. Niemand will mehr wirklich wissen, was mit der Tautologie des wirtschaftsnahen Ökonomen gemeint ist, die sich erst erschlösse, stellt man sich einen Ökonomen vor, der mit Wirtschaft absolut nichts am Hut hat.

Man kann es sich denken, denn der Chef des von Arbeitgebern finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, ist einer bestimmten Art des Wirtschaftens logischerweise sehr nah. Auf eine extrem orthodoxe Weise.

Hüther also ist mit dem Schlagsatz "Wir müssen wieder mehr arbeiten" durch die Medien gegeistert. Von der Viertagewoche hält er gar nichts angesichts des Fachkräftemangels.

Dem ja vielleicht anders begegnet werden kann, folgt man dem Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, der das Individualrecht auf Asyl abschaffen möchte zugunsten einer Lösung, die er "Institutsgarantie" nennt, was ein jährliches Kontingent meint (Menschen übrigens).

Kein Asylantrag auf europäischem Boden mehr möglich und der Bezug von Sozialleistungen "umfassend ausgeschlossen". Natürlich ließe sich ein solches Kontingent (Menschen übrigens) im Sinne von vielleicht auch Michael Hüther sehr gut für besonders brauchbare Leute nutzen, die zwar auf der Flucht sind, denen man aber schon etwas abgewinnen mag, weil sie vielleicht einen Teil des Fachkräftemangels abfangen könnten.

Also Wirtschaftsmigranten der ganz anderen Art. Nicht jene, auf die Frey zielt und die er uns vom Leib halten will, mit der Abschaffung des Individualrechts auf Asyl. Man kann die AfD wirklich überholen, ohne sie einzuholen.

Irgendwas passt halt immer

Zurück zum wirtschaftsnahen Ökonomen Hüther, der darauf verweist, dass in Schweden eine Vollzeitkraft 300 Stunden mehr im Jahr arbeitet, als es hierzulande der Fall ist. Und es stimmt, die durchschnittlich wöchentliche Arbeitszeit in Deutschland beträgt weniger (2021 waren es 34,7 Stunden) als in den meisten anderen europäischen Ländern.

An dieser Stelle mag dem einen und der anderen einfallen, dass es noch gar nicht so lange her ist, als in Deutschland viel über die faulen Griechen räsoniert wurde. Zu früh in Rente, zu viel Urlaub, in der Finanzkrise haftete das Lügenklischee wie Pech und stank wie Schwefel. Selbst Zahlen, die das Gegenteil bewiesen, konnten daran nichts ändern. Irgendwas passt halt immer, wenn man eine Botschaft verbreiten möchte.

Als Hüther sich kürzlich öffentlich Sorgen machte und dazu aufforderte, mehr statt weniger zu arbeiten, verschickte die IG Metall fast zeitgleich eine Einladung für eine Veranstaltung im September unter der Fragestellung "Alles eine Frage der Zeit?".

Modelle der Zukunft

Da möchte sie diskutieren, ob die Vier-Tage-Woche das Modell der Zukunft sein könnte.

"Mit unserer Diskussion über eine Vier-Tage-Woche als Tarifforderung für die Stahlindustrie haben wir die gesellschaftliche Debatte um die Arbeitszeit befeuert. In weiten Teilen hinkt die Gesellschaft den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen aber weit hinterher."

Wäre Hüther, was nicht der Fall ist, geladener Gast für diese Debatte, riefe er dann dem Auditorium wahrscheinlich zu:

"Es geht nicht um Menschen, sondern um die Wirtschaft, Leute – wir brauchen eine Ausweitung der individuellen Arbeitszeit!"

Und im orthodoxen Sinne hat er damit völlig recht.

Die Profitlogik gebietet einen stetigen Hunger nach Ausweitung der Arbeitszeit und des Erwerbslebens, also jener Jahre, in denen ein Mensch, dem keine Produktionsmittel gehören, seine Arbeitskraft verkaufen muss. Oder wenigstens Arbeitsverdichtung, wenn das mit der Ausweitung nicht geht.

Es ist eher an der Gesellschaft, nicht an der orthodoxen Wirtschaft, sich zu überlegen, wie das Verhältnis von Arbeitszeit zu aller anderen Zeit ist, die der Mensch zur Verfügung haben möchte und braucht.

Die Machtfrage

Eine Gesellschaft beispielsweise, die sich weigert, die außerhalb der Erwerbsarbeit geleistete Sorgearbeit (im weitesten Sinne gedacht) anzuerkennen, kommt natürlich schnell zu dem Schluss, dass zu wenig gearbeitet würde. Die Verfügung über Zeit ist eine Machtfrage

Karl Marx konstatierte, dass die Verkürzung der Arbeitszeit unerlässlich sei, um der Arbeiterklasse mehr Zeit für die geistige Entwicklung zu geben. Die nicht im Interesse des Kapitalisten oder seiner ihm dienenden Wirtschaftsinstitute liegt. Es sei denn, es handelt sich um unmittelbar im Produktionsprozess verwertbare, also mehrwertschaffende geistige Entwicklung.

Hüther mag bestimmt nicht gern hören, dass 2021 hierzulande rund vier Millionen Menschen mehrere Jobs hatten, wie das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit konstatierte. Die folgen also sehr unfreiwillig seiner Forderung nach Arbeitszeitverlängerung, um überhaupt über die Runden kommen zu können.

Und wenn er sich mit denen nicht näher beschäftigen mag, dann vielleicht mit jenen Unternehmen, die eine Zersplitterung von Vollzeitstellen in Teilzeit- und Minijobs praktizieren, weil sich das offensichtlich besser rechnet. So wirtschaftsnah sollte es dann schon sein, wenn man mal eben was heraushaut.

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