Verrohung im vornehmen Opernbetrieb

Mikhail Agrest aus Sankt Petersburg ist international als Dirigent begehrt – aber das Stuttgarter Ballett gab ihm ohne erkennbaren Grund den Laufpass. Foto: Daniil Rabovsky

Dem Musikdirektor des Stuttgarter Balletts wurde ohne nachvollziehbaren Grund fristlos gekündigt. Beginnt eine Ära der Verrohung, wo es bisher um Würde und Kultur ging?

Ein Opernhaus steht traditionell für Würde und Kultur, für Erhabenheit und Respekt vor der Kunst. Das sollte sich eigentlich auch im arbeitsrechtlichen Umgang mit den Mitarbeiter:innen spiegeln. Aber da lief im Fall von Mikhail Agrest wohl was schief. Der Dirigent aus Sankt Petersburg ist frustriert. Agrest, der international hoch renommiert ist, trat vor einem guten Jahr seine Stellung als Musikdirektor beim Stuttgarter Ballett an – und ist den Posten schon wieder los.

Bei einer Bühnen- und Orchesterprobe zum Ballett "Onegin" gab es Diskussionen zwischen dem sorgfältig arbeitenden Dirigenten und dem nicht mehr jungen Probenleiter Reid Anderson, der früher Ballettintendant war. Agrest favorisierte ein anderes Tempo in einem Passus der Partitur als der seit Jahrzehnten beim Stuttgarter Ballett arbeitende Anderson.

Solche Gespräche sollten normal sein, sie gehören zum künstlerischen Prozess – sonst würde sich die Kunst der Interpretation ja auch nie entwickeln. Aber Anderson, 72, hatte keine Geduld. Er ließ Mikhail Agrest während der Probe kurzerhand rauswerfen – und fand damit auch noch die volle Unterstützung beim zuständigen Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Detrich. Dabei wäre es dessen Aufgabe gewesen, die Wogen zu glätten und zu vermitteln.

Sein Name verschwand von der öffentlichen Personalliste

Doch dem Dirigenten Agrest wurde fristlos gekündigt. Zieht jetzt die Willkür als oberste Regel in die Staatstheater ein?

Agrests Name verschwand aus der öffentlichen Personalliste, und für die Vorstellungen, für welche er eingeplant war, wurden andere Dirigent:innen gebucht. Doch erst Wochen nach dem Eklat wurde dieser überhaupt bekannt, und zwar durch Recherchen der Autorin dieses Beitrags.

Das Stuttgarter Ballett hätte wohl am liebsten verschwiegen, dass es plötzlich keinen Musikdirektor mehr hat. Motto: Das fällt ja nicht jedem oder jeder gleich auf. Auf Nachfragen reagiert man dort abwehrend und verweist auf Interna. Aber ein solcher Umgang mit Künstler:innen ist im vornehmen Opernbetrieb bislang nicht die Regel.

Wenn Verträge gelöst werden, dann normalerweise auf eine Art, die mit Mobbing eben nichts zu tun hat. Und auch, wenn es gelegentlich mal hinter den Kulissen kracht: Man kann jetzt von einer neuen Qualität der Verrohung sprechen. Da wird ein hochkarätiger Mitarbeiter einfach rausgeworfen, ohne dass man ihm wenigstens sagt, warum.

Agrest, der exklusiv mit der Autorin dieses Beitrags sprach, beschwert sich mit Recht über diese Behandlung. Seine Arbeit als Dirigent vor Ort wurde sowohl von den Stuttgarter Ballettleuten als auch vom Staatsorchester Stuttgart als auch von der internationalen Kritik stets gelobt. Jetzt ist der Musiker auf einmal nicht mehr genehm.

Was wirklich dahintersteckt, vielleicht eine Intrige oder eine unlautere Animosität eines Sponsoren, bleibt derzeit im Dunkeln, da weder Tamas Detrich, der amtierende Ballettintendant, noch sonst jemand vom Haus offiziell etwas sagen will. Transparenz geht wirklich anders. Agrests Anwalt verhandelt jetzt über die Höhe der Abfindung. Die schmälert so oder so das Budget des Stuttgarter Balletts.

Für Mikhail Agrest ist die Angelegenheit traumatisch: "Den Grund für die Eskalation habe ich nicht gesehen, was folgte, war für mich ein totaler Schock." Seit drei Jahren dirigierte Agrest bei den Stuttgartern mit viel Erfolg große abendfüllende Ballette wie "Die Kameliendame" von John Neumeier mit orchestrierter Musik von Frédéric Chopin. So auch "Romeo und Julia" von John Cranko zur Partitur von Sergej Prokofjew sowie "Mayerling" von Kenneth MacMillan mit orchestrierter Musik von Franz Liszt.

Man machte Agrest ja aus guten Gründen zum Musikdirektor, also zum führenden Ballettdirigenten. Er ist besonders begabt darin, Tanz und Musik zusammenzubringen.

Sein Stuttgarter Vorgänger, der Amerikaner James Tuggle, war übrigens 36 Jahre im Amt, bis er in den Ruhestand ging. Auch er erfüllte höchstes Niveau. Aber unter den jüngeren Ballettdirigenten zählt Agrest zur Weltspitze. Für das Publikum in Stuttgart war er ein Glücksfall. Und auch in der Semperoper in Dresden, am Covent Garden in London und an der Met in New York brachte Mikhail Agrest die Zuschauer schon zum Jubeln. Auch jetzt ist er nicht faul, gibt sich nicht einfach nur dem Verlustschmerz hin. Vielmehr knüpft er Kontakte für seine Zukunft: zur Opernkoryphäe Anna Netrebko und zum Starchoreografen Alexei Ratmansky.

Wenn Skills und Fleiß nicht gegen alteingesessene Patriarchen helfen

Agrest ist russisch-jüdischer Herkunft und gebürtiger Petersburger. Er studierte in Russland und in den USA, hat beste Referenzen. Die Stars am Taktstock Ilya Musin und Mariss Jansons gehörten zu seinen Lehrmeistern. Zudem dirigiert Agrest seit vielen Jahren am Petersburger Mariinsky Theater.

"Ich verließ meine bisherige Heimat, Sankt Petersburg, nach 25 Jahren, um nach Stuttgart zu ziehen", sagt der geschasste Maestro, der vom Temperament her eher ein gutmütiger Typ als ein Tyrann ist. Doch all seine Kompetenzen, Skills und Anstrengungen nützten ihm nichts gegen die alteingesessenen Patriarchen.

Die lohnen eine nähere Betrachtung: Da ist Reid Anderson, Ehrenmitglied beim Stuttgarter Ballett und bei der geschilderten "Onegin"-Probe der Kontrahent von Agrest. Der gebürtige Kanadier hat eine lange künstlerische Karriere hinter sich, erst als Primoballerino in Stuttgart, später als Ballettchef.

Bis 2018 war Anderson Stuttgarts Ballettintendant, als Vorgänger von Tamas Detrich, und er agiert seit der Amtsübergabe als graue Eminenz und Coach. Seine Macht hat aber eine privat-geschäftliche Basis: Anderson ist seit Jahrzehnten der Lebensgefährte von Dieter Gräfe, und dieser wiederum ist der Erbe der Lizenzen für die Ballette von John Cranko.

Der ganze Ruhm des Stuttgarter Balletts gründet sich auf die Ballette von Cranko, der seit 1961 dort Ballettdirektor war. Die Verwaltung der Rechte seiner Stücke liegt in den Händen des Paares Gräfe und Anderson. Bis 2043. Dann erlöschen die Lizenzen, dem Gesetz gemäß 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Denn der 1927 geborene Choreograf John Cranko verstarb früh, 1973.

Gräfe ist stark gealtert und kaum noch ansprechbar. Also regelt Anderson die Geschäfte. Die ablaufende Zeitspanne der Lizenzen hinderte ihn nicht daran, vor kurzem die Gründung einer John Cranko Stiftung als Meilenstein zu präsentieren. Der Cranko-Nachlass sei jetzt gesichert, hieß es in der entsprechenden Presse-Erklärung vom Stuttgarter Ballett. Dabei ist nicht mal geregelt, welche Gelder von der Stiftung satzungsgemäß an die John Cranko Schule zur Pflege des Ballettnachwuchses gehen.

Nach Gräfes Tod soll auch erst mal Reid Anderson die Lizenzrechte erben. Erst nach dessen Ableben erbt die Stiftung. Nur: Wird Anderson 94 Jahre alt, erbt die Stiftung die Lizenzen nie. Weil sie dann erlöschen.

Davon aber schweigt man beim Stuttgarter Ballett. Lieber feiert man sich selbst als führende Company mit den Cranko-Lizenzen. Aber um welchen Preis bekommt man diese? Darf Reid Anderson dafür schalten und walten wie ein feudalistischer Fürst? Und wird ein solches Verhalten im Zuge der Finanzknappheit durch Corona an den Theatern zunehmen?

Die Presseabteilung wiegelt ab

Das Stuttgarter Ballett will sich weder zu Gräfe und Anderson noch zum Zwist mit Mikhail Agrest äußern. Man würde über Beschäftigungsverhältnisse nicht öffentlich sprechen, teilt die Pressesprecherin Vivien Arnold schmallippig mit. Doch der Erklärungsbedarf ist groß.

Denn sollte das Beispiel Agrest Schule machen, könnten unter Vertrag genommene Künstler:innen von den staatlichen Häusern nach Gutdünken einfach rausgeworfen werden. Egal, wie gut sie sind, egal, wie sehr sie das von Steuergeldern finanzierte Theater bereichern. Mit zivilisiertem Verhalten hat das wenig zu tun.

Da passt es auf nachgerade makabere Weise, dass das Festtagssprogramm vom Stuttgarter Ballett in diesem Jahr nicht, wie üblich, ein Märchenballett ist, sondern das moderne Programm "Höhepunkte". Es enthält jedoch ein ergreifend tragisches Stück über den Selbstmord eines jungen Mannes: "Le jeune Homme et la Mort" ("Der junge Mann und der Tod") von Roland Petit.

Ob das Stück, das Suizid durch Erhängen auf der Bühne zeigt, zum Fest der Liebe und zur Jahreswende passt? Gerade in Corona-Zeiten? – Beim Stuttgarter Ballett scheint man derzeit nicht mehr ganz klar in den Entscheidungen zu sein.

Gisela Sonnenburg ist als Journalistin breit aufgestellt, gründete 2014 das Ballett-Journal auf www.ballett-journal.de und ist auch als Choreografin tätig.