Vertane Chancen: Raus aus dem europäischen Haus, rein in den Ukraine-Krieg

Erst "Umgestaltung", dann gewaltfreie Auflösung: Perestroika-Briefmarke von 1988. Bild: USSR Post / CC BY-SA 4.0

Die gewaltfreie Auflösung der Sowjetunion deutete der Westen als Schwäche. Es folgte die Nato-Osterweiterung. Putin wollte Russlands Ansehen als Großmacht wiederherstellen. (Teil 1)

Der Krieg in der Ukraine ist das vorläufige Ende einer Vision, die durch die Entspannungspolitik Gorbatschows seit Mitte der Achtziger Jahre angefacht und in sein Konzept eines europäischen Hauses von Frieden und Sicherheit umzusetzen versucht worden war. Dem letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow war es gelungen, den Kalten Krieg zu beenden.

"Dass gerade diese Gewaltfreiheit das größte Wunder in einer Reihe wundersamer Ereignisse war, wurde kein eigenes Thema. Sie wurde viel mehr als Schwäche gedeutet", schrieb Antje Vollmer in ihrem letzten Essay "Was ich noch zu sagen hätte", das die Berliner Zeitung im Februar veröffentlichte.

Es gibt aber kaum Vorbilder in der Geschichte für einen solchen Vorgang. Selbst die schwächsten Gewaltregime neigen gerade im Stadium ihres Untergangs gesetzmäßig dazu, eine Orgie von Gewalt, Zerstörung und Selbstzerstörung anzurichten und alles um sie herum in ihren eigenen Untergang mitzureißen – wie exemplarisch beim Untergang des NS-Reiches zu sehen war.

Die Sowjetunion des Jahres 1989 unter Gorbatschow, wiewohl politisch und wirtschaftlich geschwächt, verfügte über das größte Atompotential, sie hatte eigene Truppen auf dem gesamten Gebiet ihrer Herrschaft stationiert. Es wäre ein Leichtes gewesen, das alles zu mobilisieren. Das wurde ja auch von vielen Vertretern des alten Regimes vehement gefordert.

Mit dem historischen Abstand wird noch viel deutlicher, welche staatsmännische Leistung es war, lieber "Helden des Rückzugs" (Enzensberger) zu sein, als in einem letzten Aufbäumen als blutige Rächer und Schlächter von der Geschichte abzutreten


Antje Vollmer

Aber es gelang ihm nicht, die Sowjetunion und das spätere Russland in eine demokratisch soziale Transformation zu führen. Die Tragödie begann mit dem Putsch im Herbst 1991, seiner Entmachtung und schon zuvor, als es kein Konzept gab, sich die einzelnen ehemaligen Staaten und Nationen der Sowjetunion schlicht und einfach lossagten und somit de facto ein gemeinsamer ökonomischer Transformationsprozess ausgeschlossen wurde.

Der nächste Schritt in der Tragödie bestand darin, dass Jelzin den Ausverkauf der Ressourcen Russlands bis zur Selbstaufgabe zuließ. Die ungehinderte Privatisierung der wichtigsten Ressourcen der ehemaligen Sowjetunion führten in schneller Folge zu einem rasanten Ausverkauf und zu einer obszönen Bereicherung derer, die in der Nähe von Jelzin die zentralen Ressourcen für einen Appel und ein Ei oft im Verein mit Ölkonzernen aus dem Westen ausschlachteten und verschoben.

Die von Oligarchen ins Ausland geschleusten Summen hatten in den Neunzigern den Staat so geschwächt, dass er an den Rand des Zusammenbruchs geraten war. Kaum jemand hatte mehr Steuern entrichtet, die Gehaltszahlungen fielen oft aus, Russland war über den IWF und die Weltbank durch riesige Kredite verpflichtet, ohne wirklich zurückzahlen zu können (Belton 238). Man sah, wie das Land sich auflöste, in Bruchstücke zerfiel; einige Gouverneure erwogen, eigene Währungen einzuführen. Der Kollaps war abzusehen.

In den Jahren 1998 bis 1999 war die Hälfte des nationalen Bruttoinlandsprodukts auf Unternehmen entfallen, die nur acht Familien gehörten. Der Transfer von Milliarden insbesondere durch Oligarchen kam einer Plünderung Russlands gleich.

In den zynisch triumphalen Worten des Kalten Kriegers Brzezinski, der nur belegt, dass es den im Westen dominierenden Staaten nie um eine kooperative ökonomische und politische Sicherheitsordnung gegangen war, sondern man geradezu dreist ab 1994 die zunächst gemeinsam abgelehnte Nato-Osterweiterung und die Ausplünderung Russlands zuließ: "Wenn doch das ganze Geld im Westen angelegt sei, um wessen Elite handelt es sich dann? Die Russlands oder die des Westens?" (Zbigniew Brzezinski)

Die großen westlichen Ölgesellschaften waren kurz davor, die fossilen Energieressourcen in die eigenen Hände zu bekommen und entsprechend auszubeuten – dabei waren diese Energieressourcen die Basis des ökonomischen Wirtschaftens der Sowjetunion und nun Russlands.

Derweil machte sich Putin seit 1996 in wichtigen Funktionen in Moskau und seit 2000 Präsident daran, diesen Ausverkauf Russlands anzugehen und sich zunehmend gegen die besonders einflussreichen Oligarchen zu wenden.

Er tat dies, wobei die Einschränkung des Oligarchen-Systems eine ökonomische und politische Notwendigkeit war, indes mit den Mitteln, die letztlich zur Abschaffung jeder vernünftigen demokratischen Gestaltung und zur Bereicherung nicht zuletzt des Geheimdienstkartells führten: Er stellte eine autoritäre Herrschaft des russischen Geheimdienstes (aus den KGB-Traditionen und nun als FSB) nach den chaotischen Jahren einer weitgehenden Selbstaufgabe der ehemaligen Sowjetunion unter Jelzin her. (Catherine Belton: Putins Netz. Hamburg 2022)

Unter seiner Führung als stellvertretendem Bürgermeister von Petersburg hatte der Geheimdienstler seit 1991 mit den dortigen Gruppen der organisierten Kriminalität, insbesondere der Tambow-Mafia unter dem ehemaligen U-Boot-Soldaten Ilja Traber und Wladimir Kumarin kooperiert und die einträglichen Ressourcen von Ölgesellschaften und Hafen an sich gezogen.

Auf der Seite der Geheimdienstler waren und sind es die teils bis heute einflussreichen Männer der Stärke, die sogenannten Silowiki: An bis heute vorderster Stelle Nikolai Patruschew, bis heute Sekretär des Sicherheitsrats, Igor Setschin, der bereitwillige Diener Putins und gegenwärtige Chef von Rosneft (zu Rosneft gehört(e) Gerhard Schröder) und Dimitri Medjedew, ebenfalls aus Petersburg.

Sowie Wictor Solotow, Chef der Nationalgarde und Putins Mentor, Juri Kowaltschuk (Bank Rossija), Sergej Naryschkin (Geheimdienstler und als Historiker präsentierter Chefideologe, Alexander Bortnikow (Geheimdienst) sowie Sergei Schoigu (Verteidigungsminister) und Generalstabschef Walery Gerasimov. Dieses eng verknüpfte System dominiert, das ist die These der Autorin Belton, im Kreml bis heute, zunächst in der Konsolidierung unbegrenzter Macht nach innen und dann mit dem Ziel der Destabilisierung des Westens.